November

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Letztens überredete mich jemand, vor Schülern einer Waldorfschule aus Bayern als Zeitzeugin aufzutreten. Jetzt wird alle interessieren, was für eine Zeit das eigentlich war, für die ich eine Zeugin war. Zum Glück nicht der Holocaust - wobei ich bei den Leuten, die das noch erlebt haben, immer die Befürchtung habe, dass sie vor der Kamera auseinanderfallen, wegen ihres Alters. Stattdessen war ich hautnah bei einer historischen Zeitenwende dabei.
Der Anstoß für diesen Blick zurück war auch, dass morgen die Berlinale anfängt und außerdem erinnert mich die Waschküchenatmosphäre, die jetzt ständig in Berlin herrscht, an diesen merkwürdigen Winter, nach dem sich alles veränderte.

Irgendwo in einer Zeitung habe ich mal den Satz gelesen: „Sie lebten an den Ereignissen vorbei“. Ein Satz der auch auf uns zutraf.
Es ging um einen Film über einen russischen Soldaten, der kurz vor Mauerfall aus seiner Garnison in einem Provinzstädtchen in der Altmark flieht, und sich bei Einheimischen versteckt hält. Der Umbruch lässt ihn und seine Helfer seltsam unberührt. Auch wir lebten in einer Blase und waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich ring um uns abspielten, nur am Rande wahrnahmen.

Am Sparkassenautomaten in den Zweitausendern. „Dich gibt’s auch noch“, sagte ein Mann zu mir.
Es war Billy. Ich habe ihn eigentlich nur an der Stimme erkannt. 89 waren wir Kumpels. Eigentlich waren wir gar keine richtigen Freunde, aber liefen trotzdem ständig zusammen durch Berlin. Die Beziehung zwischen uns war von der Art, von der man weiß, dass ihr keine Dauer beschieden sein wird, die aber trotzdem in einer Phase des Lebens wichtig ist.
So erging es mir vielen, mit denen ich befreundet war, und wo die Wege dann völlig auseinandergingen.

Ich weiß gar nicht, was eigentlich mit seinem Liebesleben war.
Er hatte merkwürdigerweise immer Freundinnen von außerhalb, die noch zur Schule gingen und bei den Eltern wohnten. Vielleicht zog ihn, der von der Hand in den Mund lebte, die bürgerliche Sicherheit an, die sie umgab. Einmal trampte er nach Schwerin. Dort traf er sich mit seiner sechszehnjährigen Freundin und kehrte am nächsten Tag wieder zurück. "Ich habe in der Busbude neben ihrem Hochhaus am Großen Dreesch übernachtet", erzählte er.
Vielleicht reichte ihm so eine platonische Beziehung ja. Merkwürdigerweise wusste er immer sofort, wenn einer schwul war.

Der Fall Mauer traf mich bei bester Laune an.
Zu der Zeit wohnten wir beide – Billy war der Typ, der immer bei Kumpels wohnt, als er eine Wohnung zugewiesen bekam, kuckte er sie sich noch nicht mal an - bei einem anderen Kumpel in Friedrichshain, unweit der Warschauer Straße. Ich hatte einen Freund, der ein waschechter Berliner war und auch oft bei uns zu Gast war.

Neunter November. Jemand hatte spätabends bei uns die Nachricht verbreitet, dass man in den Westen rübergehen kann. Wegen der räumlichen Nähe waren wir schnell am Grenzübergang an der Oberbaumbrücke. Da stand ich dann auf einmal mit Billy und den Anderen ungläubig nachts in dem berühmten Kreuzberg, dass ich gar nicht so nah an Friedrichshain vermutet hatte.
Es ist ja gleich auf der anderen Seite der Spree.
Genauso ungläubig hatte ich zuvor die die französischen und englischen Hinweisschilder der Aliierten betrachtet, die sich auf der Grenzanlage befanden.

Jemand aus Kreuzberg spendierte mir in einem türkischen Imbiss die berühmte Linsensuppe, wegen der ich noch heute extra nach Kreuzberg rübergehe, da sie nie den Weg nach Friedrichshain gefunden hat und Anisschnaps.
Ein anderer Westberliner kaufte mir in der Nähe vom Schlesischen Tor beim Griechen einen gerollten Teigfladen, der mit Zaziki und Fleisch gefüllt war und außen in Folie eingewickelt war.
Das war in der ersten Euphorie nach dem Fall der Mauer, als die Leute sich noch einfach so auf der Straße anquatschten.

Aus einem LKW wurden Tüten verteilt. Ich erwischte eine mit fünf Tafeln Sarotti-Bitterschokolade. Ich hasste Bitterschokolade. Unsere Kommune in der Boxhagener lebte aber eine Weile davon. Die Malteser hatten Zelte aufgestellt und verteilten in Plastikschüsselchen heißes Essen an hungrige DDR-Bürger.
Ich ließ mir drei Portionen Ravioli geben. Sie kamen aus Büchsen, wo praktischerweise der Ketchup schon mit drin war. Diese Dosen sollen ein Grundnahrungsmittel für arme Studenten sein, habe ich gehört.

Meine Freundin und ihr Mann kauften sich für ihr Begrüßungsgeld, dass es am nächsten Tag gab, nachts ein Flasche Whiskey bei einem Türken in Kreuzberg, der so spät noch auf hatte. Jonny Walker natürlich, wie in dem Song von Westernhagen, von dem sie ein großer Fan war. Ich übrigens überhaupt nicht.
Mit dieser Flasche in der Hand machten sie die Nacht durch und liefen bis frühmorgens durch die Gegend. "Wie schmeckt denn Whiskey?", fragte ich interessiert. Bei uns kannten wir keinen Whiskey, wussten aber, dass er das Lieblingsgetränk von Jim Morrison - Show me the way to the next whiskey bar, plärrte der Kassettenrecorder den ganzen Tag - und Janis Joplin war. Meine Freundin verzog das Gesicht. "Wie Spülmittel".

Unseren Lebensunterhalt bestritten wir bei der Rosenkohlernte, auf einer LPG in der Nähe. Dort konnte man tageweise arbeiten und verdiente sehr gut. Frühmorgens brachen wir auf und kamen noch in der Dunkelheit auf dem Feld an.
Alles, was in Berlin nicht so reinpasste in die sozialistischen Kollektive, versammelte sich dort. Langhaarige, Punker, Alkoholiker. Die Betrunkenen schliefen oft während der Arbeit ein, was nicht ungefährlich war, denn der Winter 89/90 war hart. Dann lagen sie auf dem Sack mit Rosenkohl, den sie gepflückt hatten.

Wir gingen oft zum Frühstück in eine winzige Kneipe in der Boxhagener, die schon um sechs oder sieben Uhr öffnete, wegen der Arbeiter, die aus der Nachtschicht im Bremsenwerk kamen und aus dem Gummiwerk.
Es gab, außer dem Tresen, eigentlich nur zwei Tische mit Sitzgelegenheiten und einen, wo man nur stehen konnte, der sich am Ausgang zu den Toiletten befand. Deshalb stand man dort mit den anderen Gästen auf Tuchfühlung, was schnell vergessen war, wenn der Alkohol seine Wirkung entfaltet hatte.

Ein Bier um diese Uhrzeit erschien mir, die aus einem kleinen Dorf im Norden stammte, als der Gipfel der Dekadenz.
Da, wo ich herkam, hätte ich als Schlampe gegolten und niemand hätte mich geheiratet.

Die Anderen und besonders mein Freund, der ja Berliner war, liebten diese Kneipe. Ich wunderte mich immer, dass die Arbeiter, die dort mit uns ihr Feierabendbier tranken, sich nicht an seinem wilden Outfit störten.
Ich vermute, dass sie hellsichtig durchschauten, dass er das, was er sein wollte, gar nicht war. Außerdem hatten sie, wie viele Berliner, zu ihrer Jugendzeit auch mal irgendwo mitgemischt und interessantere Musik als die, die in der Kneipe lief, gekannt und geliebt.

Ich staunte, was sie früher, meist bevor sie geheiratet hatten, mal für Bands gehört hatten. Ich glaube, ihre Frau war gar nicht Schuld daran, dass sie das aufgegeben haben, sondern der Grund war, dass sie einfach in einen anderen Lebensabschnitt übergewechselt waren, und da gehörte die Liebe zur Musik nicht mehr mit rein.

Unter uns wurde oft über manch einen behauptet: „Er ist gar kein echter … als was auch immer, er sich präsentierte. Später ist mir klargeworden, dass so eine Aussage Quatsch ist. Solche Jugendgruppierungen sind ein Sammelsurium von den verschiedensten Leuten, und davon leben sie, und es hält sie lebendig, dass ständig Leute kommen und gehen.
Man wunderte sich, wenn welche, die man für beinharte … als Erste ausstiegen, und sich völlig veränderten, während andere, die mir eigentlich Mitläufer zu sein schienen, immer die Alten blieben.

Alle nannten das Kneipchen nur „Bei Winkler“. Vater und Sohn und Daisy, die lustige Kellnerin, wechselten sich hinter dem Tresen ab. Nach der Wende versuchten sie es noch mit einer 24-Stunden-Kneipe. Es lief nicht. So mussten sich die Stammkunden bald traurig von außen die eingeschlagenen Fenster ankucken.

Mein Freund kannte „Bei Winkler“ schon aus der Zeit, wo er im Gummiwerk gearbeitet hatte, wo man es nicht so genau nahm mit den Kaderakten und wo viele waren, die woanders nicht eingestellt wurden.
Durch ihn lernte ich die Berliner Arbeiterkneipen kennen, an denen ich früher vorbeigegangen war, einfach, weil man sich als Frau da gar nicht reintrauen konnte. Wir beide saßen jetzt ständig „Bei Winkler“ und in ähnlichen Lokalen Friedrichshains rum.

Nicht allzu lange nach dem Fall der Mauer ist erst das Gummiwerk, dann das Bremsenwerk verschwunden und etwas später auch diese kleine Kneipe.

Billy lernte immer überall Leute kennen. In Kreuzberg, am S-Bahnhof Schlesisches Tor, hatte er Hausbesetzer kennengelernt, die uns einluden, bei ihnen vorbeizukommen. Sie wohnten auf der Skalizer Straße in Kreuzberg, unweit des Übergangs. „Sie haben gesagt, wir sollen Kohlen mitbringen“, erzählte Billy.
Wir machten uns mit den Kohlen auf den Weg. Als ich mich mit den Besetzern unterhielt, staunte ich, dass die meisten von ihnen Studenten waren.
Mein Freund geriet vor Begeisterung total aus dem Häuschen, als er die vielen Kartons sah, die Platten enthielten. Meist Punk. Wenn er etwas wirklich liebte, war das die Musik.
Mit verzücktem Gesichtsausdruck studierte er die Cover. Da war jemand ins Paradies geraten, fast so als wenn sich ein Kind in einem Raum in einem Raum mit lauter Süßigkeiten wiederfindet.

Die Hausbesetzer, die aus dem Westen kamen, rauchten Eimer. Mein Freund nahm ein tiefen Zug und fiel um wie ein Stein. Der Raum und der Fußboden waren eisekalt. Ich zerrte ihn, der sich nicht mehr regte, auf eine Matratze rauf und wickelte ihn in eine Decke ein. Nach einer ganzen Weile kam er wieder zu sich und begann Platten abzuspielen. Die Anderen wollten eigentlich schlafen aber störten ihn nicht, da sie seine Freude dabei sahen.

Als ich eines Tages am Ostkreuz in die S-Bahn einsteigen wollte, sah ich den Musikbegeisterten wieder, mit dem ich schon seit einer Weile nicht mehr zusammen war. Ich hatte vorher schon von Billy gehört, dass er jetzt mit Skins abhängt. Er und einige andere Kahlgeschorene mit hochgekrempelten Hosen krakehlten dort rum. Zum Glück war er so in lautstarke Gespräche vertieft, dass er mich nicht bemerkte. Schnell verließ ich das Abteil wieder und wartete lieber auf die Nächste.

Ein paar Monate zuvor hatte er mich noch wachgerüttelt, als im Fernsehen ein französischer Film über einen jüdischen Jungen kam, der sich in einem Kinderheim versteckt hielt. „Das musst du unbedingt sehen“. Viele Punks mutierten zu Wendezeiten zu Rechten. Die Lehrlinge, die auf den Baugerüsten zu sehen waren, trugen fast ausschließlich Bomberjacke zu sehr kurzem Haar.

Die ganze Truppe saß auf der Couch um den Apparat herum. Ich wohnte gerne mit der Clique zusammen. Ständig war was los. Immer kamen neue Leute vorbei. Mein Ideal war immer die Haight-Ashbury in San Franzisco gewesen, wo die Hippies in Kommunen lebten.
Das bürgerliche Familienmodell hatte schon im Hinblick auf mich versagt, da ich meinen Vater nicht kannte und alleinerziehend aufgewachsen war. Andere Wege im Zusammenleben mussten gegangen werden, fand ich.
Nicht lange danach, ging es mit uns auseinander, was schon abzusehen gewesen war. Auch in der Clique konnte ich mich als einzige Frau nicht länger halten.

Jemand gab mir einen Schlüssel für eine Wohnung in der Jessner Straße, ganz in der Nähe, mehr zur Frankfurter Allee hin. Der Besitzer wohnte bei seiner Freundin. Dort verbrachte ich Weihnachten und Silvester.

Finanziell hielt ich mich mit Blutplasmaspenden in Westberlin über Wasser. Das Westgeld tauschte ich am Bahnhof Zoo wieder in Ostgeld, da bei uns die Lebensmittel billiger waren.

Im Februar fand die erste Berlinale statt, die beide Seiten der Stadt zum ersten Mal vereinte. Die Berlinale war bei uns ein Begriff, seit „Solo Sunny“ dort einen Silbernen Bären gewonnen hatte. "Das bist ja du", sagte meine Mutter zu mir, als der Film einmal in Fernsehen kam. Nach der Wende, als Video und DVD aufkam, war er der meistgekaufte Film bei uns.

Im Kino Kosmos auf der Karl-Marx-Allee, unweit von meiner Wohnung, wurden Wettbewerbsfilme gezeigt. Für DDR-Mark. Ich hatte aber leider weder Ost- noch Westgeld.
So las ich mir wenigstens das Programmheft durch, dass in jedem Briefkasten lag. Es war ausführlich gehalten. Zu allem, was gezeigt wurde, gab es Inhaltsangaben. Besonders interessant fand ich den Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.
Eine Arbeiterin kauft sich am Zahltag ein teures Kleid, lernt in einer Bar einen Typen aus besseren Kreisen kennen, der nichts von ihrer Realität ahnt. Als er die kennenlernt und sie verläßt, weiß sie sich zu rächen.

Ich habe diesen Film später mal tatsächlich gesehen, und er war wirklich gut. Da hatte ich den richtigen Riecher bewiesen.

Die Normannenstraße wurde besetzt. Ich war vorher völlig ahnungslos gewesen, dass sich dort die Stasizentrale von Berlin befand.

Einmal sah es finanziell bei mir ganz schlecht aus. Da fiel mir das Rosenkohlfeld ein. Spätabends stieg ich in die Straßenbahn und fuhr nach Lindenberg bei Weißensee. Dort erntete ich mutterseelenallein auf dem Feld ein große Tasche von den Vitaminbomben. Veganer wider Willen, lebte ich eine Weile davon.

Es kamen auch wieder bessere Zeiten. Meine Mutter traf ein. Sie war mit ihrer Klasse auf der jährlich stattfindenden Jugendweihefahrt in die Hauptstadt, die mich ebenfalls, als ich halb so alt wie jetzt, in dieses schöne Städtchen geführt hatte. Sie kam bei mir vorbei und lud mich in ein Restaurant zum Essen ein, und es fielen ein paar Scheine ab. Endlich kam wieder etwas Anderes als nur Rosenkohl auf den Teller.

Es klopfte an der Tür. „Wenn du nicht aufmachst, trete ich das Brett ein“. Ich wusste, wer das war. Den Tag zuvor war Billy, der sich immer wahllos mit jedem einließ, dagewesen und hatte einen Kumpel mitgebracht, den ich als Knacki bezeichnen würde. Er hatte sich wohl die Adresse gemerkt und suchte eine Penne. Er verschwand am nächsten Morgen und kehrte glücklicherweise nicht mehr zurück. Vorher hatte er mir noch Flecken auf seiner Bomberjacke gezeigt. „Die stammen von einer Schlägerei.“ Mit ihm, der merkwürdig leere Augen hatte, war nicht zu spaßen. Mir ist aber nichts passiert.

Jetzt verstand ich auch die Frauen, die irgendwie in diese Kreise reingeraten waren, obwohl sie selber gar nicht so waren. Die wurden diese Typen einfach nicht mehr los. Ehe sie Stress mit den Nachbarn riskierten, öffneten sie lieber die Tür, so wie ich jetzt. In der DDR gab es keine Frauenhäuser. Gewalt gegen Frauen durfte es nicht geben im Arbeiter- und Bauernstaat.

Neben dem Radio, meinem einzigen Besitz, auf dem ich nachts die Diskussionen, die mir naiv und weltfremd erschienen, am Runden Tisch hörte, hatte ich auch noch zwei Bücher. Das eine waren Stücke von Jean-Paul Sarte, das Andere war „Der Erlkönig“ von Michael Tournier. Durch die Stücke kämpfte ich mich tapfer durch. Ich wollte schon lange mal was von Sartre lesen. Der Roman war genauso öde. Jetzt wurde mir klar, warum meine Freundin gesagt hatte: „Nimm ihn dir mit. Du brauchst dich auch nicht zu beeilen.“ Mir ist noch in Erinnerung geblieben, dass ein Elch in der Schorfheide herumläuft.

Überall an den Straßenecken hingen Wahlplakate für die erste demokratische Wahl am 18. März 1990. Täglich standen Leitartikel in den Zeitungen darüber, welche der Kandidaten, die als Bürgerrechtler galten, wieder als Stasimitarbeiter enttarnt worden waren. Ich sah überhaupt nicht mehr durch.
Im Jugendradio DT 64 wurde dazu aufgerufen, in den Palast der Republik zu kommen, der von alternativen Bands aus dem Osten besetzt worden war. Ich fuhr hin und saß mit dem Sänger von unserer Lieblingsband* und seinem Anhang an einem Tisch.

Ein Intellektuellentyp, der im Palast neben mir am Bistrotisch saß, und, während er mit mir redete, durch mich hindurch sah wie durch Glas, wie solche Leute wie er das immer tun, sagte: Hoffentlich gewinnt die CDU die Wahl“. Ich wunderte mich. „Ich dachte, du bist links.“ Er gehörte ja zum Freundeskreis von einer Anarchoband aus dem Osten, die dort oft verboten war.
Er antwortete mir: „Ja, aber ich möchte nicht, dass wir die Schuld bekommen für das, was jetzt alles passieren wird in den Betrieben.“ Da hatte jemand die ganzen Umwälzungen, die Abwicklung der Wirtschaft im Osten vorausgeahnt.

Um Mitternacht wurde alles friedlich beendet. War wohl nicht so ernst gemeint gewesen.

Auch im besetzen Haus an der Schönhauser Allee, das von denselben Bands und ihren Freunden besetzt wurde, kämpften sie nicht wirklich. Irgendwas machten wir Ossis falsch. Die Meisten dort steckten Abfindungen ein.

Nur Aljoscha von Feeling B hielt als Einziger durch. Ich kannte ihn von Konzerten, aber mehr durch „Flüstern und Schreien“. In dem Film, der kurz vor Mauerfall in die DDR Kinos kam, hatte der, um keine Antwort verlegene, Aljoscha, das Ruder an sich gerissen und den Film zu dem seinen gemacht.
Im zweiten Teil des Films, der ein paar Jahre später entstand, kam er mir schon längst nicht mehr so optimistisch vor. Er, der Asthma hatte, wurde von Bauarbeitern in seinem Wohnwagen, der auf dem Hof des Hauses in der Schönhauser Allee stand, tot aufgefunden. Das war 2001. Bei dem Gedenkkonzert, das im Kesselhaus der Kulturbrauerei stattfand, kam ich wegen Überfüllung nicht mehr rein.

Nur kurze Zeit später nach unserer Spaßbesetzung wurde der Palast, den ich liebte, tatsächlich für immer geschlossen. Der Vorwand war Asbest. Im Arbeitsamt in der Gotlindestraße in Lichtenberg traf ich eine Frau, die mir erzählte, dass sie im Palast Restaurantleiterin gewesen war.
Jemand aus dem Westen sagte mal zu mir: „Die wollten euch zeigen, den Kalten Krieg haben wir gewonnen.“ Warum ich dieses Haus geliebt habe?
Das war eine Oase des Wohlstands. Alles war neu, blitzblank und luxuriös. Und offen für jedermann. Auch für die mit kleinem Geldbeutel, weil die Preise im Haus des Volkes extra kleingehalten waren.

Die Leute in der Gastronomie waren flink und gutgelaunt. Woanders wurde dir das Essen nach langer Wartezeit immer mit einem Gesichtsausdruck serviert, der besagte: „Friß und stirb dran.“ Hier war das ganz anders.
Von dem Würzfleisch in der Mokkabar träume ich heute noch. Wenn bei mir mal finanziell bessere Zeiten ausgebrochen waren, saß ich oft dort und aß die Speisekarte hoch und runter. Wenn ich richtig mit dem Geld knallen wollte, nahm ich immer Sekt mit einer Kugel Eis, obendrauf Schlagsahne, der in einem Kelch mit gewelltem Rand serviert wurde.
Dazu gehörte eine selbstgebackene Waffel aus Brandteig und ein Früchtespieß. Hinterher trank ich noch einen Mokka, wobei man anmerken muss, dass den nur im Palast gab. Hatte ich jedenfalls noch nie irgendwo anders gesehen.

In der weitläufigen Eingangshalle, die pottwarm war – Viele Berlinbesucher – auch Schülergruppen - wärmten sich hier auf – standen riesige weiche Ledersessel, in denen man versank, und in der oberen Stockwerken gab es eine Gemäldegalerie. Sozialistischer Realismus.
Man sah meist Brigaden mit Schutzhelm, die vor einem Baugerüst posierten.

Auch das Jugendradio aus dem Osten wurde Anfang der Neunziger abgewickelt. Es fanden Hungerstreiks vor dem Roten Rathaus statt.
Eine Autobahn wurde gesperrt von Fans, die den Sender, der nach Mauerfall ein sehr gutes Programm sendete, behalten wollten.
Zuerst riefen die Redakteure noch zum Widerstand auf. Nach einer Weile wurden sie merkwürdig ruhig. Ich vermute, dass es fette Abfindungen gab, und einige erhielten gute Jobs in der neuen Medienlandschaft.

Meine Freundin lernte mal jemanden kennen, der ihr in seiner Wohnung Musik vorspielte in einem glasklaren Sound, wie sie ihn noch nie vernommen hatte. Er zeigte ihr eine Anlage, die in einem Schrank verborgen war. Er arbeitete mal als Toningenieur in der Nalepastraße beim DDR-Radio. Als die große Entlassungswelle kam, bedienten er und seine Kollegen sich an der Technik, die übrigens sowieso für viele Jahre nicht mehr benutzt wurde.

Ausgerechnet Billy hatte dafür gesorgt, dass ich eine Arbeit bei einer Verleihfirma aufnahm. Er, ich und noch ein Anderer gingen nach Kreuzberg zu einer Verleihfirma. Scheinbar brauchten sie keine Männer, denn nur ich wurde genommen. Wir besetzten mal wieder eine Wohnung. Diesmal bekam ich einen Mietvertrag und der Student, der neben mir wohnte, schenkte mir seine alten Möbel, die auf dem Boden standen.
Neue Zeit, du kannst kommen.

*Freygang
 
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petrasmiles

Mitglied
Liebe Friedrichshainerin,

Dir ist da wirklich ein wunderbares Zeitzeugnis gelungen!
Wenn man nicht dabei war, kann man es sich kaum vorstellen, dieses sprudelnde Leben - wenn man jung war! Die Freiheit, die sich durch den Wegfall von Sicherheiten ergab - und die man nur genießen konnte, wenn man jung war.

Ich hoffe sehr, da folgt noch mehr!

Liebe Grüße
Petra
 
Werte Friedrichshainerin,

das ist ja eine gewaltige Materialsammlung geworden und die Details sind zumeist interessant und wissenswert. Der Text gibt so die Situation von sehr jungen Menschen gut wieder, die unversehens in einen gesamtgesellschaftlichen Strudel geraten und sich in ihm erst orientieren müssen. Als Dokument einer zwangsläufig etwas chaotisch verlaufenden Selbstbehauptung finde ich den Text durchaus lesenswert. Als Kunstprosa überzeugt er mich nicht im gleichen Ausmaß. Ich vermisse Akzentuierung, Raffung, leicht nachvollziehbare Gliederung. Diese so zahlreichen Details fließen mir zu gleichmäßig dahin. Die Vielzahl sehr kurzer Absätze erzeugt den Eindruck von Gleichrangigkeit, wenn nicht sogar von Gleichförmigkeit alles Erlebten.

Vielleicht würde es sich empfehlen, den Text entsprechend der Eingangsinformation zu strukturieren, d.h. als Bericht, der mündlich vorgetragen wird. Man wird dann bemüht sein, das Interesse der Zuhörer dauernd zu fesseln, und zwar so, dass sie sich hinterher an Wesentliches, Herausragendes erinnern. Was hätte ich zu diesem Zweck anders gemacht? Z.B. die Einleitung stärker herausgearbeitet und vom Hauptteil abgesetzt, auch einen deutlich wahrnehmbaren Schlussteil verfasst. In ihm hätte ich all das zusammengefasst, was erst nach dem Herbst '89 sich entwickelt hat bzw. abgewickelt worden ist. Es vorzuziehen, zerhackt die unmittelbaren Impressionen der Zeitzeugin unnötig. Ein stilistisches Mittel könnte auch sein, die Erzählung tatsächlich als Vortrag zu formulieren und zwischendurch die Zuhörerschaft gelegentlich anzusprechen. Insgesamt plädiere ich also für mehr Dramaturgie gegenüber einem Stoff, der selbst dramatisch war. Es versteht sich, dass bei erzählender Prosa auch ein etwas freierer Umgang mit Authentizität möglich ist.

Kollegiale Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Arno,

„Und Opa erzählt wieder vom Krieg“, denken die Meisten, wenn jemand von der Wende erzählt. Das ist einfach das ausgeleierste Thema von der ganzen Welt. Ich habe bestimmt schon eine Million Berichte gelesen von Leuten, die dabei waren.
Wenn ich das so chronologisch schreiben würde, wie Du vorschlägst, würden sich die Meisten gelangweilt abwenden.

Mit meinem Schreibstil habe ich versucht dagegenzusteuern. Die Wendezeit einmal ganz anders. Deshalb lasse ich das lieber so. Solo Sunny, Johnny Walker und Sarte müssen mit rein. Ebenfalls Eimerrauchen und Punkplatten. Und natürlich viel, viel Rosenkohl. Jemand, die mit dabei war, damals siebzehn, heute erwachsene Kinder, ruft immer noch ganz laut „Rosenkohl, wenn sie mich sieht.

Das wird sonst zu öde, wenn ich tabellarisch vorgehe.

Hunderttausendmal hat man schon von der Besetzung der Stasizentrale in der Normannenstraße gehört und von der Volkskammerwahl nach Mauerfall. Eigentlich wollte ich deshalb gar nichts über über das Thema schreiben.
Das Wetter, das genauso ist wie damals, hat mich dazu getrieben.

Du hast recht, was das abrupte Ende anbelangt. Im Prinzip ist es eigentlich klar, dass eine neue Zeit angebrochen ist, auch wenn der Text unfertig wirkt. Was sollte ich da noch groß schreiben. Das ist ja kein Lebenslauf. Vielleicht fällt mir noch etwas ein.
Gruß Friedrichshainerin

Mal was anderes. In meinem Heimatdorf im Osten Norddeutschlands, bei Grimmen, hat die AFD 52% erreicht. Habe ich im Netz gelesen. Ausgerechnet in dieser Partei sehen sie den Heilsbringer, und viele, die sich abgehängt fühlen, wählten sie. Dabei haben die doch mit Sozialpolitik nichts am Hut.
 
Wenn ich das so chronologisch schreiben würde, wie Du vorschlägst, würden sich die Meisten gelangweilt abwenden.
Wo habe ich denn chronologisches Herangehen angeregt? Das ist ein Missverständnis, liebe Kollegin, und vielleicht nicht das einzige. Auch inhaltlich hatte ich am ausgewählten Stoff nichts einzuwenden, sondern nur mein persönliches Unbefriedigtsein am Formalen geäußert ( - das andere nicht mal teilen müssen). Mir plätschert das Ganze zu sehr dahin, ohne rechte Höhepunkte oder einen erkennbaren Spannungsbogen. Es werden, scheint mir, sehr viele kleine Legobausteine der Erinnerung ausgebreitet, aber kaum einmal etwas daraus konstruiert, das als bedeutsames Bild im Gedächtnis der Leser bleiben könnte.

Irgendwo in einer Zeitung habe ich mal den Satz gelesen: „Sie lebten an den Ereignissen vorbei“. Ein Satz der auch auf uns zutraf.
Das ist eine historische Selbstinterpretation, die mich nicht auf Anhieb überzeugt. Gerade der, der einer Entwicklung unterworfen wird, lebt nicht an ihr vorbei. Es mag sein, dass eben dieses Selbstverständnis später in der Rückschau zu Texten führt, in denen das Erinnerte kleingehäckselt wie hier dargeboten wird.

Die Grundidee (Zeitzeugenvortrag in einer Schule) ist ja gut, sie wird nur nicht wirklich ausgeführt, bleibt ein Gag am Anfang. Sie wird schon kurz darauf durch den Bezug auf die Novemberstimmung der Verfasserin überlagert und dann gar nicht mehr thematisiert. Und im weiteren Verlauf häufen sich dann Details, die mit dem versprochenen Thema November 1989 wenig oder gar nichts zu tun haben, z.B. Billys Beziehungsmuster, Abschweifendes über Musikvorlieben und deren Entwicklung, was allgemein aus aufmüpfigen jungen Leuten später wird usw. Generell ist der Text überladen mit Details, die sich gegenseitig die Luft wegnehmen.

Der Text weist außerdem einige Ungenauigkeiten auf. Lindenberg ist weit weg von Weißensee. Eine erwähnte Straße heißt richtig Gotlindestraße. Und der folgende Satz ist vermutlich verunglückt:
Das bürgerliche Familienmodell hatte schon im Hinblick auf mich versagt, da ich meinen Vater nicht kannte und alleinerziehend (sic!) aufgewachsen war.

Nichts für ungut, als Materialsammlung fand ich es durchaus lesenswert.
Arno Abendschön
 
Hallo Arno,
ich weiß noch, dass die Straßenbahn nach Lindenberg durch Weißensee fuhr. Und wegen den fehlenden Höhepunkten. Die gab es schon. Ich müsste dazu aber zu sehr ins persönliche gehen. Vielleicht sollte ich das einfach mal machen. Die Schulklasse aus Bayern kenne ich gar nicht. Unser Chef hatte mich zwar gefragt, aber eine Kollegin, die auch im Osten aufgewachsen ist, hat gleich zugesagt und dort Rede und Antwort gestanden. Das war 2023. Sie war früher selber Lehrerin, deshalb war sie in ihrem Element. Die Jugendlichen waren einzig und allein daran interessiert, wie es so war im Sozialismus, hat sie mir erzählt. Von Mauerfall und Hausbesetzerbewegung - zu dem Thema waren noch zwei Gesprächspartner da - wollten sie gar nichts wissen.
Einen Schönen Abend wünscht Friedrichshainerin
 
ich weiß noch, dass die Straßenbahn nach Lindenberg durch Weißensee fuhr.
Wirklich, geschätzte Kollegin? Da ich die weite unbebaute Gegend da oben oft zu Fuß durchstreift habe, hat mich das überrascht. Ich habe also recherchiert und bin der Meinung, dass es nie eine Straßenbahn von Weißensee nach Lindenberg gab. In der DDR-Zeit fuhr da mal die Buslinie 41 (über Malchow). Gestolpert bin ich ja eigentlich über die Formulierung "Lindenberg bei Weißensee". Tatsächlich dürfte Lindenberg noch etwas weiter von Weißensee entfernt sein als dieses von Friedrichshain und zwischen Weißensee und Lindenberg liegen auch noch die Ortsteile Neuhohenschönhausen und Wartenberg. Vielleicht verwechselst du die Ortsnamen. Es gab und gibt noch immer eine Straßenbahn von Weißensee zur Zingster Straße in Neuhohenschönhausen (ca. 5 km Luftlinie vom Dorf Lindenberg entfernt).

Warum ich das jetzt so pedantisch durchexerziere? Weil mir dieses Detail typisch zu sein scheint für deine insgesamt nicht sehr sorgfältige Arbeitsweise. Dabei hast du genügend interessantes Material zum Gestalten.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Hallo Arno,
es kann sein, dass wir noch in einen Bus umgestiegen sind. Auf alle Fälle sind wir von Friedrichshain mit der Tram nach Weißensee gefahren. Das ist schon über fünfunddreißig Jahre her. Irgendwie ist mir eine ellenlange Straßenbahnfahrt im Gedächtnis haften geblieben und dann eine Kneipe direkt am See, wo wir nach Feierabend ausgestiegen sind, als wir Geld in der Tasche hatten. Und das Rosenkohlfeld auf der LPG war wirklich nicht weit von Weißensee entfernt.
Ein fröhliches Alaaf Friedrichshainerin
 
Werte Mitbürgerin, ich resigniere. Bei deinen schwankenden Angaben zu Orten und Verkehrsmitteln passt nichts zusammen. Vielleicht in Zukunft auf konkrete Bezeichnungen wie "Lindenberg" (ein kleines Dorf in Brandenburg hinter der Stadtgrenze) besser gleich verzichten? Es tut der Textwirkung nicht gut, wenn sich die durch solche Namensnennung suggerierte Vertrautheit mit dem Stadtraum zum Teil als nur scheinbar herausstellt.

Schönes Wochenende
Arno
 
Hallo Arno,
die Felder der LPG reichten bis zur Stadtgrenze. Der Rosenkohlacker war ja nicht in der Mitte des Dorfes. Malchow ist wohl auch in der Nähe. Da liegst Du schon richtig. Google Maps zeigt mir eine Fahrradtour vom Weißen See über Malchow-Stadtrand bis dorthin, die nur 28 min dauern soll.
Einen schönen Rosenmontag wünscht Friedrichshainerin
 



 
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