Friedrichshainerin
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Letztens überredete mich jemand, vor Schülern einer Waldorfschule aus Bayern als Zeitzeugin aufzutreten. Jetzt wird alle interessieren, was für eine Zeit das eigentlich war, für die ich eine Zeugin war. Zum Glück nicht der Holocaust - wobei ich bei den Leuten, die das noch erlebt haben, immer die Befürchtung habe, dass sie vor der Kamera auseinanderfallen, wegen ihres Alters. Stattdessen war ich hautnah bei einer historischen Zeitenwende dabei.
Der Anstoß für diesen Blick zurück war auch, dass morgen die Berlinale anfängt und außerdem erinnert mich die Waschküchenatmosphäre, die jetzt ständig in Berlin herrscht, an diesen merkwürdigen Winter, nach dem sich alles veränderte.
Irgendwo in einer Zeitung habe ich mal den Satz gelesen: „Sie lebten an den Ereignissen vorbei“. Ein Satz der auch auf uns zutraf.
Es ging um einen Film über einen russischen Soldaten, der kurz vor Mauerfall aus seiner Garnison in einem Provinzstädtchen in der Altmark flieht, und sich bei Einheimischen versteckt hält. Der Umbruch lässt ihn und seine Helfer seltsam unberührt. Auch wir lebten in einer Blase und waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich ring um uns abspielten, nur am Rande wahrnahmen.
Am Sparkassenautomaten in den Zweitausendern. „Dich gibt’s auch noch“, sagte ein Mann zu mir.
Es war Billy. Ich habe ihn eigentlich nur an der Stimme erkannt. 89 waren wir Kumpels. Eigentlich waren wir gar keine richtigen Freunde, aber liefen trotzdem ständig zusammen durch Berlin. Die Beziehung zwischen uns war von der Art, von der man weiß, dass ihr keine Dauer beschieden sein wird, die aber trotzdem in einer Phase des Lebens wichtig ist.
So erging es mir vielen, mit denen ich befreundet war, und wo die Wege dann völlig auseinandergingen.
Ich weiß gar nicht, was eigentlich mit seinem Liebesleben war.
Er hatte merkwürdigerweise immer Freundinnen von außerhalb, die noch zur Schule gingen und bei den Eltern wohnten. Vielleicht zog ihn, der von der Hand in den Mund lebte, die bürgerliche Sicherheit an, die sie umgab. Einmal trampte er nach Schwerin. Dort traf er sich mit seiner sechszehnjährigen Freundin und kehrte am nächsten Tag wieder zurück. "Ich habe in der Busbude neben ihrem Hochhaus am Großen Dreesch übernachtet", erzählte er.
Vielleicht reichte ihm so eine platonische Beziehung ja. Merkwürdigerweise wusste er immer sofort, wenn einer schwul war.
Der Fall Mauer traf mich bei bester Laune an.
Zu der Zeit wohnten wir beide – Billy war der Typ, der immer bei Kumpels wohnt, als er eine Wohnung zugewiesen bekam, kuckte er sie sich noch nicht mal an - bei einem anderen Kumpel in Friedrichshain, unweit der Warschauer Straße. Ich hatte einen Freund, der ein waschechter Berliner war und auch oft bei uns zu Gast war.
Neunter November. Jemand hatte spätabends bei uns die Nachricht verbreitet, dass man in den Westen rübergehen kann. Wegen der räumlichen Nähe waren wir schnell am Grenzübergang an der Oberbaumbrücke. Da stand ich dann auf einmal mit Billy und den Anderen ungläubig nachts in dem berühmten Kreuzberg, dass ich gar nicht so nah an Friedrichshain vermutet hatte.
Es ist ja gleich auf der anderen Seite der Spree.
Genauso ungläubig hatte ich zuvor die die französischen und englischen Hinweisschilder der Aliierten betrachtet, die sich auf der Grenzanlage befanden.
Jemand aus Kreuzberg spendierte mir in einem türkischen Imbiss die berühmte Linsensuppe, wegen der ich noch heute extra nach Kreuzberg rübergehe, da sie nie den Weg nach Friedrichshain gefunden hat und Anisschnaps.
Ein anderer Westberliner kaufte mir in der Nähe vom Schlesischen Tor beim Griechen einen gerollten Teigfladen, der mit Zaziki und Fleisch gefüllt war und außen in Folie eingewickelt war.
Das war in der ersten Euphorie nach dem Fall der Mauer, als die Leute sich noch einfach so auf der Straße anquatschten.
Aus einem LKW wurden Tüten verteilt. Ich erwischte eine mit fünf Tafeln Sarotti-Bitterschokolade. Ich hasste Bitterschokolade. Unsere Kommune in der Boxhagener lebte aber eine Weile davon. Die Malteser hatten Zelte aufgestellt und verteilten in Plastikschüsselchen heißes Essen an hungrige DDR-Bürger.
Ich ließ mir drei Portionen Ravioli geben. Sie kamen aus Büchsen, wo praktischerweise der Ketchup schon mit drin war. Diese Dosen sollen ein Grundnahrungsmittel für arme Studenten sein, habe ich gehört.
Meine Freundin und ihr Mann kauften sich für ihr Begrüßungsgeld, dass es am nächsten Tag gab, nachts ein Flasche Whiskey bei einem Türken in Kreuzberg, der so spät noch auf hatte. Jonny Walker natürlich, wie in dem Song von Westernhagen, von dem sie ein großer Fan war. Ich übrigens überhaupt nicht.
Mit dieser Flasche in der Hand machten sie die Nacht durch und liefen bis frühmorgens durch die Gegend. "Wie schmeckt denn Whiskey?", fragte ich interessiert. Bei uns kannten wir keinen Whiskey, wussten aber, dass er das Lieblingsgetränk von Jim Morrison - Show me the way to the next whiskey bar, plärrte der Kassettenrecorder den ganzen Tag - und Janis Joplin war. Meine Freundin verzog das Gesicht. "Wie Spülmittel".
Unseren Lebensunterhalt bestritten wir bei der Rosenkohlernte, auf einer LPG in der Nähe. Dort konnte man tageweise arbeiten und verdiente sehr gut. Frühmorgens brachen wir auf und kamen noch in der Dunkelheit auf dem Feld an.
Alles, was in Berlin nicht so reinpasste in die sozialistischen Kollektive, versammelte sich dort. Langhaarige, Punker, Alkoholiker. Die Betrunkenen schliefen oft während der Arbeit ein, was nicht ungefährlich war, denn der Winter 89/90 war hart. Dann lagen sie auf dem Sack mit Rosenkohl, den sie gepflückt hatten.
Wir gingen oft zum Frühstück in eine winzige Kneipe in der Boxhagener, die schon um sechs oder sieben Uhr öffnete, wegen der Arbeiter, die aus der Nachtschicht im Bremsenwerk kamen und aus dem Gummiwerk.
Es gab, außer dem Tresen, eigentlich nur zwei Tische mit Sitzgelegenheiten und einen, wo man nur stehen konnte, der sich am Ausgang zu den Toiletten befand. Deshalb stand man dort mit den anderen Gästen auf Tuchfühlung, was schnell vergessen war, wenn der Alkohol seine Wirkung entfaltet hatte.
Ein Bier um diese Uhrzeit erschien mir, die aus einem kleinen Dorf im Norden stammte, als der Gipfel der Dekadenz.
Da, wo ich herkam, hätte ich als Schlampe gegolten und niemand hätte mich geheiratet.
Die Anderen und besonders mein Freund, der ja Berliner war, liebten diese Kneipe. Ich wunderte mich immer, dass die Arbeiter, die dort mit uns ihr Feierabendbier tranken, sich nicht an seinem wilden Outfit störten.
Ich vermute, dass sie hellsichtig durchschauten, dass er das, was er sein wollte, gar nicht war. Außerdem hatten sie, wie viele Berliner, zu ihrer Jugendzeit auch mal irgendwo mitgemischt und interessantere Musik als die, die in der Kneipe lief, gekannt und geliebt.
Ich staunte, was sie früher, meist bevor sie geheiratet hatten, mal für Bands gehört hatten. Ich glaube, ihre Frau war gar nicht Schuld daran, dass sie das aufgegeben haben, sondern der Grund war, dass sie einfach in einen anderen Lebensabschnitt übergewechselt waren, und da gehörte die Liebe zur Musik nicht mehr mit rein.
Unter uns wurde oft über manch einen behauptet: „Er ist gar kein echter … als was auch immer, er sich präsentierte. Später ist mir klargeworden, dass so eine Aussage Quatsch ist. Solche Jugendgruppierungen sind ein Sammelsurium von den verschiedensten Leuten, und davon leben sie, und es hält sie lebendig, dass ständig Leute kommen und gehen.
Man wunderte sich, wenn welche, die man für beinharte … als Erste ausstiegen, und sich völlig veränderten, während andere, die mir eigentlich Mitläufer zu sein schienen, immer die Alten blieben.
Alle nannten das Kneipchen nur „Bei Winkler“. Vater und Sohn und Daisy, die lustige Kellnerin, wechselten sich hinter dem Tresen ab. Nach der Wende versuchten sie es noch mit einer 24-Stunden-Kneipe. Es lief nicht. So mussten sich die Stammkunden bald traurig von außen die eingeschlagenen Fenster ankucken.
Mein Freund kannte „Bei Winkler“ schon aus der Zeit, wo er im Gummiwerk gearbeitet hatte, wo man es nicht so genau nahm mit den Kaderakten und wo viele waren, die woanders nicht eingestellt wurden.
Durch ihn lernte ich die Berliner Arbeiterkneipen kennen, an denen ich früher vorbeigegangen war, einfach, weil man sich als Frau da gar nicht reintrauen konnte. Wir beide saßen jetzt ständig „Bei Winkler“ und in ähnlichen Lokalen Friedrichshains rum.
Nicht allzu lange nach dem Fall der Mauer ist erst das Gummiwerk, dann das Bremsenwerk verschwunden und etwas später auch diese kleine Kneipe.
Billy lernte immer überall Leute kennen. In Kreuzberg, am S-Bahnhof Schlesisches Tor, hatte er Hausbesetzer kennengelernt, die uns einluden, bei ihnen vorbeizukommen. Sie wohnten auf der Skalizer Straße in Kreuzberg, unweit des Übergangs. „Sie haben gesagt, wir sollen Kohlen mitbringen“, erzählte Billy.
Wir machten uns mit den Kohlen auf den Weg. Als ich mich mit den Besetzern unterhielt, staunte ich, dass die meisten von ihnen Studenten waren.
Mein Freund geriet vor Begeisterung total aus dem Häuschen, als er die vielen Kartons sah, die Platten enthielten. Meist Punk. Wenn er etwas wirklich liebte, war das die Musik.
Mit verzücktem Gesichtsausdruck studierte er die Cover. Da war jemand ins Paradies geraten, fast so als wenn sich ein Kind in einem Raum in einem Raum mit lauter Süßigkeiten wiederfindet.
Die Hausbesetzer, die aus dem Westen kamen, rauchten Eimer. Mein Freund nahm ein tiefen Zug und fiel um wie ein Stein. Der Raum und der Fußboden waren eisekalt. Ich zerrte ihn, der sich nicht mehr regte, auf eine Matratze rauf und wickelte ihn in eine Decke ein. Nach einer ganzen Weile kam er wieder zu sich und begann Platten abzuspielen. Die Anderen wollten eigentlich schlafen aber störten ihn nicht, da sie seine Freude dabei sahen.
Als ich eines Tages am Ostkreuz in die S-Bahn einsteigen wollte, sah ich den Musikbegeisterten wieder, mit dem ich schon seit einer Weile nicht mehr zusammen war. Ich hatte vorher schon von Billy gehört, dass er jetzt mit Skins abhängt. Er und einige andere Kahlgeschorene mit hochgekrempelten Hosen krakehlten dort rum. Zum Glück war er so in lautstarke Gespräche vertieft, dass er mich nicht bemerkte. Schnell verließ ich das Abteil wieder und wartete lieber auf die Nächste.
Ein paar Monate zuvor hatte er mich noch wachgerüttelt, als im Fernsehen ein französischer Film über einen jüdischen Jungen kam, der sich in einem Kinderheim versteckt hielt. „Das musst du unbedingt sehen“. Viele Punks mutierten zu Wendezeiten zu Rechten. Die Lehrlinge, die auf den Baugerüsten zu sehen waren, trugen fast ausschließlich Bomberjacke zu sehr kurzem Haar.
Die ganze Truppe saß auf der Couch um den Apparat herum. Ich wohnte gerne mit der Clique zusammen. Ständig war was los. Immer kamen neue Leute vorbei. Mein Ideal war immer die Haight-Ashbury in San Franzisco gewesen, wo die Hippies in Kommunen lebten.
Das bürgerliche Familienmodell hatte schon im Hinblick auf mich versagt, da ich meinen Vater nicht kannte und alleinerziehend aufgewachsen war. Andere Wege im Zusammenleben mussten gegangen werden, fand ich.
Nicht lange danach, ging es mit uns auseinander, was schon abzusehen gewesen war. Auch in der Clique konnte ich mich als einzige Frau nicht länger halten.
Jemand gab mir einen Schlüssel für eine Wohnung in der Jessner Straße, ganz in der Nähe, mehr zur Frankfurter Allee hin. Der Besitzer wohnte bei seiner Freundin. Dort verbrachte ich Weihnachten und Silvester.
Finanziell hielt ich mich mit Blutplasmaspenden in Westberlin über Wasser. Das Westgeld tauschte ich am Bahnhof Zoo wieder in Ostgeld, da bei uns die Lebensmittel billiger waren.
Im Februar fand die erste Berlinale statt, die beide Seiten der Stadt zum ersten Mal vereinte. Die Berlinale war bei uns ein Begriff, seit „Solo Sunny“ dort einen Silbernen Bären gewonnen hatte. "Das bist ja du", sagte meine Mutter zu mir, als der Film einmal in Fernsehen kam. Nach der Wende, als Video und DVD aufkam, war er der meistgekaufte Film bei uns.
Im Kino Kosmos auf der Karl-Marx-Allee, unweit von meiner Wohnung, wurden Wettbewerbsfilme gezeigt. Für DDR-Mark. Ich hatte aber leider weder Ost- noch Westgeld.
So las ich mir wenigstens das Programmheft durch, dass in jedem Briefkasten lag. Es war ausführlich gehalten. Zu allem, was gezeigt wurde, gab es Inhaltsangaben. Besonders interessant fand ich den Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.
Eine Arbeiterin kauft sich am Zahltag ein teures Kleid, lernt in einer Bar einen Typen aus besseren Kreisen kennen, der nichts von ihrer Realität ahnt. Als er die kennenlernt und sie verläßt, weiß sie sich zu rächen.
Ich habe diesen Film später mal tatsächlich gesehen, und er war wirklich gut. Da hatte ich den richtigen Riecher bewiesen.
Die Normannenstraße wurde besetzt. Ich war vorher völlig ahnungslos gewesen, dass sich dort die Stasizentrale von Berlin befand.
Einmal sah es finanziell bei mir ganz schlecht aus. Da fiel mir das Rosenkohlfeld ein. Spätabends stieg ich in die Straßenbahn und fuhr nach Lindenberg bei Weißensee. Dort erntete ich mutterseelenallein auf dem Feld ein große Tasche von den Vitaminbomben. Veganer wider Willen, lebte ich eine Weile davon.
Es kamen auch wieder bessere Zeiten. Meine Mutter traf ein. Sie war mit ihrer Klasse auf der jährlich stattfindenden Jugendweihefahrt in die Hauptstadt, die mich ebenfalls, als ich halb so alt wie jetzt, in dieses schöne Städtchen geführt hatte. Sie kam bei mir vorbei und lud mich in ein Restaurant zum Essen ein, und es fielen ein paar Scheine ab. Endlich kam wieder etwas Anderes als nur Rosenkohl auf den Teller.
Es klopfte an der Tür. „Wenn du nicht aufmachst, trete ich das Brett ein“. Ich wusste, wer das war. Den Tag zuvor war Billy, der sich immer wahllos mit jedem einließ, dagewesen und hatte einen Kumpel mitgebracht, den ich als Knacki bezeichnen würde. Er hatte sich wohl die Adresse gemerkt und suchte eine Penne. Er verschwand am nächsten Morgen und kehrte glücklicherweise nicht mehr zurück. Vorher hatte er mir noch Flecken auf seiner Bomberjacke gezeigt. „Die stammen von einer Schlägerei.“ Mit ihm, der merkwürdig leere Augen hatte, war nicht zu spaßen. Mir ist aber nichts passiert.
Jetzt verstand ich auch die Frauen, die irgendwie in diese Kreise reingeraten waren, obwohl sie selber gar nicht so waren. Die wurden diese Typen einfach nicht mehr los. Ehe sie Stress mit den Nachbarn riskierten, öffneten sie lieber die Tür, so wie ich jetzt. In der DDR gab es keine Frauenhäuser. Gewalt gegen Frauen durfte es nicht geben im Arbeiter- und Bauernstaat.
Neben dem Radio, meinem einzigen Besitz, auf dem ich nachts die Diskussionen, die mir naiv und weltfremd erschienen, am Runden Tisch hörte, hatte ich auch noch zwei Bücher. Das eine waren Stücke von Jean-Paul Sarte, das Andere war „Der Erlkönig“ von Michael Tournier. Durch die Stücke kämpfte ich mich tapfer durch. Ich wollte schon lange mal was von Sartre lesen. Der Roman war genauso öde. Jetzt wurde mir klar, warum meine Freundin gesagt hatte: „Nimm ihn dir mit. Du brauchst dich auch nicht zu beeilen.“ Mir ist noch in Erinnerung geblieben, dass ein Elch in der Schorfheide herumläuft.
Überall an den Straßenecken hingen Wahlplakate für die erste demokratische Wahl am 18. März 1990. Täglich standen Leitartikel in den Zeitungen darüber, welche der Kandidaten, die als Bürgerrechtler galten, wieder als Stasimitarbeiter enttarnt worden waren. Ich sah überhaupt nicht mehr durch.
Im Jugendradio DT 64 wurde dazu aufgerufen, in den Palast der Republik zu kommen, der von alternativen Bands aus dem Osten besetzt worden war. Ich fuhr hin und saß mit dem Sänger von unserer Lieblingsband* und seinem Anhang an einem Tisch.
Ein Intellektuellentyp, der im Palast neben mir am Bistrotisch saß, und, während er mit mir redete, durch mich hindurch sah wie durch Glas, wie solche Leute wie er das immer tun, sagte: Hoffentlich gewinnt die CDU die Wahl“. Ich wunderte mich. „Ich dachte, du bist links.“ Er gehörte ja zum Freundeskreis von einer Anarchoband aus dem Osten, die dort oft verboten war.
Er antwortete mir: „Ja, aber ich möchte nicht, dass wir die Schuld bekommen für das, was jetzt alles passieren wird in den Betrieben.“ Da hatte jemand die ganzen Umwälzungen, die Abwicklung der Wirtschaft im Osten vorausgeahnt.
Um Mitternacht wurde alles friedlich beendet. War wohl nicht so ernst gemeint gewesen.
Auch im besetzen Haus an der Schönhauser Allee, das von denselben Bands und ihren Freunden besetzt wurde, kämpften sie nicht wirklich. Irgendwas machten wir Ossis falsch. Die Meisten dort steckten Abfindungen ein.
Nur Aljoscha von Feeling B hielt als Einziger durch. Ich kannte ihn von Konzerten, aber mehr durch „Flüstern und Schreien“. In dem Film, der kurz vor Mauerfall in die DDR Kinos kam, hatte der, um keine Antwort verlegene, Aljoscha, das Ruder an sich gerissen und den Film zu dem seinen gemacht.
Im zweiten Teil des Films, der ein paar Jahre später entstand, kam er mir schon längst nicht mehr so optimistisch vor. Er, der Asthma hatte, wurde von Bauarbeitern in seinem Wohnwagen, der auf dem Hof des Hauses in der Schönhauser Allee stand, tot aufgefunden. Das war 2001. Bei dem Gedenkkonzert, das im Kesselhaus der Kulturbrauerei stattfand, kam ich wegen Überfüllung nicht mehr rein.
Nur kurze Zeit später nach unserer Spaßbesetzung wurde der Palast, den ich liebte, tatsächlich für immer geschlossen. Der Vorwand war Asbest. Im Arbeitsamt in der Gotlindestraße in Lichtenberg traf ich eine Frau, die mir erzählte, dass sie im Palast Restaurantleiterin gewesen war.
Jemand aus dem Westen sagte mal zu mir: „Die wollten euch zeigen, den Kalten Krieg haben wir gewonnen.“ Warum ich dieses Haus geliebt habe?
Das war eine Oase des Wohlstands. Alles war neu, blitzblank und luxuriös. Und offen für jedermann. Auch für die mit kleinem Geldbeutel, weil die Preise im Haus des Volkes extra kleingehalten waren.
Die Leute in der Gastronomie waren flink und gutgelaunt. Woanders wurde dir das Essen nach langer Wartezeit immer mit einem Gesichtsausdruck serviert, der besagte: „Friß und stirb dran.“ Hier war das ganz anders.
Von dem Würzfleisch in der Mokkabar träume ich heute noch. Wenn bei mir mal finanziell bessere Zeiten ausgebrochen waren, saß ich oft dort und aß die Speisekarte hoch und runter. Wenn ich richtig mit dem Geld knallen wollte, nahm ich immer Sekt mit einer Kugel Eis, obendrauf Schlagsahne, der in einem Kelch mit gewelltem Rand serviert wurde.
Dazu gehörte eine selbstgebackene Waffel aus Brandteig und ein Früchtespieß. Hinterher trank ich noch einen Mokka, wobei man anmerken muss, dass den nur im Palast gab. Hatte ich jedenfalls noch nie irgendwo anders gesehen.
In der weitläufigen Eingangshalle, die pottwarm war – Viele Berlinbesucher – auch Schülergruppen - wärmten sich hier auf – standen riesige weiche Ledersessel, in denen man versank, und in der oberen Stockwerken gab es eine Gemäldegalerie. Sozialistischer Realismus.
Man sah meist Brigaden mit Schutzhelm, die vor einem Baugerüst posierten.
Auch das Jugendradio aus dem Osten wurde Anfang der Neunziger abgewickelt. Es fanden Hungerstreiks vor dem Roten Rathaus statt.
Eine Autobahn wurde gesperrt von Fans, die den Sender, der nach Mauerfall ein sehr gutes Programm sendete, behalten wollten.
Zuerst riefen die Redakteure noch zum Widerstand auf. Nach einer Weile wurden sie merkwürdig ruhig. Ich vermute, dass es fette Abfindungen gab, und einige erhielten gute Jobs in der neuen Medienlandschaft.
Meine Freundin lernte mal jemanden kennen, der ihr in seiner Wohnung Musik vorspielte in einem glasklaren Sound, wie sie ihn noch nie vernommen hatte. Er zeigte ihr eine Anlage, die in einem Schrank verborgen war. Er arbeitete mal als Toningenieur in der Nalepastraße beim DDR-Radio. Als die große Entlassungswelle kam, bedienten er und seine Kollegen sich an der Technik, die übrigens sowieso für viele Jahre nicht mehr benutzt wurde.
Ausgerechnet Billy hatte dafür gesorgt, dass ich eine Arbeit bei einer Verleihfirma aufnahm. Er, ich und noch ein Anderer gingen nach Kreuzberg zu einer Verleihfirma. Scheinbar brauchten sie keine Männer, denn nur ich wurde genommen. Wir besetzten mal wieder eine Wohnung. Diesmal bekam ich einen Mietvertrag und der Student, der neben mir wohnte, schenkte mir seine alten Möbel, die auf dem Boden standen.
Neue Zeit, du kannst kommen.
*Freygang
Der Anstoß für diesen Blick zurück war auch, dass morgen die Berlinale anfängt und außerdem erinnert mich die Waschküchenatmosphäre, die jetzt ständig in Berlin herrscht, an diesen merkwürdigen Winter, nach dem sich alles veränderte.
Irgendwo in einer Zeitung habe ich mal den Satz gelesen: „Sie lebten an den Ereignissen vorbei“. Ein Satz der auch auf uns zutraf.
Es ging um einen Film über einen russischen Soldaten, der kurz vor Mauerfall aus seiner Garnison in einem Provinzstädtchen in der Altmark flieht, und sich bei Einheimischen versteckt hält. Der Umbruch lässt ihn und seine Helfer seltsam unberührt. Auch wir lebten in einer Blase und waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich ring um uns abspielten, nur am Rande wahrnahmen.
Am Sparkassenautomaten in den Zweitausendern. „Dich gibt’s auch noch“, sagte ein Mann zu mir.
Es war Billy. Ich habe ihn eigentlich nur an der Stimme erkannt. 89 waren wir Kumpels. Eigentlich waren wir gar keine richtigen Freunde, aber liefen trotzdem ständig zusammen durch Berlin. Die Beziehung zwischen uns war von der Art, von der man weiß, dass ihr keine Dauer beschieden sein wird, die aber trotzdem in einer Phase des Lebens wichtig ist.
So erging es mir vielen, mit denen ich befreundet war, und wo die Wege dann völlig auseinandergingen.
Ich weiß gar nicht, was eigentlich mit seinem Liebesleben war.
Er hatte merkwürdigerweise immer Freundinnen von außerhalb, die noch zur Schule gingen und bei den Eltern wohnten. Vielleicht zog ihn, der von der Hand in den Mund lebte, die bürgerliche Sicherheit an, die sie umgab. Einmal trampte er nach Schwerin. Dort traf er sich mit seiner sechszehnjährigen Freundin und kehrte am nächsten Tag wieder zurück. "Ich habe in der Busbude neben ihrem Hochhaus am Großen Dreesch übernachtet", erzählte er.
Vielleicht reichte ihm so eine platonische Beziehung ja. Merkwürdigerweise wusste er immer sofort, wenn einer schwul war.
Der Fall Mauer traf mich bei bester Laune an.
Zu der Zeit wohnten wir beide – Billy war der Typ, der immer bei Kumpels wohnt, als er eine Wohnung zugewiesen bekam, kuckte er sie sich noch nicht mal an - bei einem anderen Kumpel in Friedrichshain, unweit der Warschauer Straße. Ich hatte einen Freund, der ein waschechter Berliner war und auch oft bei uns zu Gast war.
Neunter November. Jemand hatte spätabends bei uns die Nachricht verbreitet, dass man in den Westen rübergehen kann. Wegen der räumlichen Nähe waren wir schnell am Grenzübergang an der Oberbaumbrücke. Da stand ich dann auf einmal mit Billy und den Anderen ungläubig nachts in dem berühmten Kreuzberg, dass ich gar nicht so nah an Friedrichshain vermutet hatte.
Es ist ja gleich auf der anderen Seite der Spree.
Genauso ungläubig hatte ich zuvor die die französischen und englischen Hinweisschilder der Aliierten betrachtet, die sich auf der Grenzanlage befanden.
Jemand aus Kreuzberg spendierte mir in einem türkischen Imbiss die berühmte Linsensuppe, wegen der ich noch heute extra nach Kreuzberg rübergehe, da sie nie den Weg nach Friedrichshain gefunden hat und Anisschnaps.
Ein anderer Westberliner kaufte mir in der Nähe vom Schlesischen Tor beim Griechen einen gerollten Teigfladen, der mit Zaziki und Fleisch gefüllt war und außen in Folie eingewickelt war.
Das war in der ersten Euphorie nach dem Fall der Mauer, als die Leute sich noch einfach so auf der Straße anquatschten.
Aus einem LKW wurden Tüten verteilt. Ich erwischte eine mit fünf Tafeln Sarotti-Bitterschokolade. Ich hasste Bitterschokolade. Unsere Kommune in der Boxhagener lebte aber eine Weile davon. Die Malteser hatten Zelte aufgestellt und verteilten in Plastikschüsselchen heißes Essen an hungrige DDR-Bürger.
Ich ließ mir drei Portionen Ravioli geben. Sie kamen aus Büchsen, wo praktischerweise der Ketchup schon mit drin war. Diese Dosen sollen ein Grundnahrungsmittel für arme Studenten sein, habe ich gehört.
Meine Freundin und ihr Mann kauften sich für ihr Begrüßungsgeld, dass es am nächsten Tag gab, nachts ein Flasche Whiskey bei einem Türken in Kreuzberg, der so spät noch auf hatte. Jonny Walker natürlich, wie in dem Song von Westernhagen, von dem sie ein großer Fan war. Ich übrigens überhaupt nicht.
Mit dieser Flasche in der Hand machten sie die Nacht durch und liefen bis frühmorgens durch die Gegend. "Wie schmeckt denn Whiskey?", fragte ich interessiert. Bei uns kannten wir keinen Whiskey, wussten aber, dass er das Lieblingsgetränk von Jim Morrison - Show me the way to the next whiskey bar, plärrte der Kassettenrecorder den ganzen Tag - und Janis Joplin war. Meine Freundin verzog das Gesicht. "Wie Spülmittel".
Unseren Lebensunterhalt bestritten wir bei der Rosenkohlernte, auf einer LPG in der Nähe. Dort konnte man tageweise arbeiten und verdiente sehr gut. Frühmorgens brachen wir auf und kamen noch in der Dunkelheit auf dem Feld an.
Alles, was in Berlin nicht so reinpasste in die sozialistischen Kollektive, versammelte sich dort. Langhaarige, Punker, Alkoholiker. Die Betrunkenen schliefen oft während der Arbeit ein, was nicht ungefährlich war, denn der Winter 89/90 war hart. Dann lagen sie auf dem Sack mit Rosenkohl, den sie gepflückt hatten.
Wir gingen oft zum Frühstück in eine winzige Kneipe in der Boxhagener, die schon um sechs oder sieben Uhr öffnete, wegen der Arbeiter, die aus der Nachtschicht im Bremsenwerk kamen und aus dem Gummiwerk.
Es gab, außer dem Tresen, eigentlich nur zwei Tische mit Sitzgelegenheiten und einen, wo man nur stehen konnte, der sich am Ausgang zu den Toiletten befand. Deshalb stand man dort mit den anderen Gästen auf Tuchfühlung, was schnell vergessen war, wenn der Alkohol seine Wirkung entfaltet hatte.
Ein Bier um diese Uhrzeit erschien mir, die aus einem kleinen Dorf im Norden stammte, als der Gipfel der Dekadenz.
Da, wo ich herkam, hätte ich als Schlampe gegolten und niemand hätte mich geheiratet.
Die Anderen und besonders mein Freund, der ja Berliner war, liebten diese Kneipe. Ich wunderte mich immer, dass die Arbeiter, die dort mit uns ihr Feierabendbier tranken, sich nicht an seinem wilden Outfit störten.
Ich vermute, dass sie hellsichtig durchschauten, dass er das, was er sein wollte, gar nicht war. Außerdem hatten sie, wie viele Berliner, zu ihrer Jugendzeit auch mal irgendwo mitgemischt und interessantere Musik als die, die in der Kneipe lief, gekannt und geliebt.
Ich staunte, was sie früher, meist bevor sie geheiratet hatten, mal für Bands gehört hatten. Ich glaube, ihre Frau war gar nicht Schuld daran, dass sie das aufgegeben haben, sondern der Grund war, dass sie einfach in einen anderen Lebensabschnitt übergewechselt waren, und da gehörte die Liebe zur Musik nicht mehr mit rein.
Unter uns wurde oft über manch einen behauptet: „Er ist gar kein echter … als was auch immer, er sich präsentierte. Später ist mir klargeworden, dass so eine Aussage Quatsch ist. Solche Jugendgruppierungen sind ein Sammelsurium von den verschiedensten Leuten, und davon leben sie, und es hält sie lebendig, dass ständig Leute kommen und gehen.
Man wunderte sich, wenn welche, die man für beinharte … als Erste ausstiegen, und sich völlig veränderten, während andere, die mir eigentlich Mitläufer zu sein schienen, immer die Alten blieben.
Alle nannten das Kneipchen nur „Bei Winkler“. Vater und Sohn und Daisy, die lustige Kellnerin, wechselten sich hinter dem Tresen ab. Nach der Wende versuchten sie es noch mit einer 24-Stunden-Kneipe. Es lief nicht. So mussten sich die Stammkunden bald traurig von außen die eingeschlagenen Fenster ankucken.
Mein Freund kannte „Bei Winkler“ schon aus der Zeit, wo er im Gummiwerk gearbeitet hatte, wo man es nicht so genau nahm mit den Kaderakten und wo viele waren, die woanders nicht eingestellt wurden.
Durch ihn lernte ich die Berliner Arbeiterkneipen kennen, an denen ich früher vorbeigegangen war, einfach, weil man sich als Frau da gar nicht reintrauen konnte. Wir beide saßen jetzt ständig „Bei Winkler“ und in ähnlichen Lokalen Friedrichshains rum.
Nicht allzu lange nach dem Fall der Mauer ist erst das Gummiwerk, dann das Bremsenwerk verschwunden und etwas später auch diese kleine Kneipe.
Billy lernte immer überall Leute kennen. In Kreuzberg, am S-Bahnhof Schlesisches Tor, hatte er Hausbesetzer kennengelernt, die uns einluden, bei ihnen vorbeizukommen. Sie wohnten auf der Skalizer Straße in Kreuzberg, unweit des Übergangs. „Sie haben gesagt, wir sollen Kohlen mitbringen“, erzählte Billy.
Wir machten uns mit den Kohlen auf den Weg. Als ich mich mit den Besetzern unterhielt, staunte ich, dass die meisten von ihnen Studenten waren.
Mein Freund geriet vor Begeisterung total aus dem Häuschen, als er die vielen Kartons sah, die Platten enthielten. Meist Punk. Wenn er etwas wirklich liebte, war das die Musik.
Mit verzücktem Gesichtsausdruck studierte er die Cover. Da war jemand ins Paradies geraten, fast so als wenn sich ein Kind in einem Raum in einem Raum mit lauter Süßigkeiten wiederfindet.
Die Hausbesetzer, die aus dem Westen kamen, rauchten Eimer. Mein Freund nahm ein tiefen Zug und fiel um wie ein Stein. Der Raum und der Fußboden waren eisekalt. Ich zerrte ihn, der sich nicht mehr regte, auf eine Matratze rauf und wickelte ihn in eine Decke ein. Nach einer ganzen Weile kam er wieder zu sich und begann Platten abzuspielen. Die Anderen wollten eigentlich schlafen aber störten ihn nicht, da sie seine Freude dabei sahen.
Als ich eines Tages am Ostkreuz in die S-Bahn einsteigen wollte, sah ich den Musikbegeisterten wieder, mit dem ich schon seit einer Weile nicht mehr zusammen war. Ich hatte vorher schon von Billy gehört, dass er jetzt mit Skins abhängt. Er und einige andere Kahlgeschorene mit hochgekrempelten Hosen krakehlten dort rum. Zum Glück war er so in lautstarke Gespräche vertieft, dass er mich nicht bemerkte. Schnell verließ ich das Abteil wieder und wartete lieber auf die Nächste.
Ein paar Monate zuvor hatte er mich noch wachgerüttelt, als im Fernsehen ein französischer Film über einen jüdischen Jungen kam, der sich in einem Kinderheim versteckt hielt. „Das musst du unbedingt sehen“. Viele Punks mutierten zu Wendezeiten zu Rechten. Die Lehrlinge, die auf den Baugerüsten zu sehen waren, trugen fast ausschließlich Bomberjacke zu sehr kurzem Haar.
Die ganze Truppe saß auf der Couch um den Apparat herum. Ich wohnte gerne mit der Clique zusammen. Ständig war was los. Immer kamen neue Leute vorbei. Mein Ideal war immer die Haight-Ashbury in San Franzisco gewesen, wo die Hippies in Kommunen lebten.
Das bürgerliche Familienmodell hatte schon im Hinblick auf mich versagt, da ich meinen Vater nicht kannte und alleinerziehend aufgewachsen war. Andere Wege im Zusammenleben mussten gegangen werden, fand ich.
Nicht lange danach, ging es mit uns auseinander, was schon abzusehen gewesen war. Auch in der Clique konnte ich mich als einzige Frau nicht länger halten.
Jemand gab mir einen Schlüssel für eine Wohnung in der Jessner Straße, ganz in der Nähe, mehr zur Frankfurter Allee hin. Der Besitzer wohnte bei seiner Freundin. Dort verbrachte ich Weihnachten und Silvester.
Finanziell hielt ich mich mit Blutplasmaspenden in Westberlin über Wasser. Das Westgeld tauschte ich am Bahnhof Zoo wieder in Ostgeld, da bei uns die Lebensmittel billiger waren.
Im Februar fand die erste Berlinale statt, die beide Seiten der Stadt zum ersten Mal vereinte. Die Berlinale war bei uns ein Begriff, seit „Solo Sunny“ dort einen Silbernen Bären gewonnen hatte. "Das bist ja du", sagte meine Mutter zu mir, als der Film einmal in Fernsehen kam. Nach der Wende, als Video und DVD aufkam, war er der meistgekaufte Film bei uns.
Im Kino Kosmos auf der Karl-Marx-Allee, unweit von meiner Wohnung, wurden Wettbewerbsfilme gezeigt. Für DDR-Mark. Ich hatte aber leider weder Ost- noch Westgeld.
So las ich mir wenigstens das Programmheft durch, dass in jedem Briefkasten lag. Es war ausführlich gehalten. Zu allem, was gezeigt wurde, gab es Inhaltsangaben. Besonders interessant fand ich den Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“.
Eine Arbeiterin kauft sich am Zahltag ein teures Kleid, lernt in einer Bar einen Typen aus besseren Kreisen kennen, der nichts von ihrer Realität ahnt. Als er die kennenlernt und sie verläßt, weiß sie sich zu rächen.
Ich habe diesen Film später mal tatsächlich gesehen, und er war wirklich gut. Da hatte ich den richtigen Riecher bewiesen.
Die Normannenstraße wurde besetzt. Ich war vorher völlig ahnungslos gewesen, dass sich dort die Stasizentrale von Berlin befand.
Einmal sah es finanziell bei mir ganz schlecht aus. Da fiel mir das Rosenkohlfeld ein. Spätabends stieg ich in die Straßenbahn und fuhr nach Lindenberg bei Weißensee. Dort erntete ich mutterseelenallein auf dem Feld ein große Tasche von den Vitaminbomben. Veganer wider Willen, lebte ich eine Weile davon.
Es kamen auch wieder bessere Zeiten. Meine Mutter traf ein. Sie war mit ihrer Klasse auf der jährlich stattfindenden Jugendweihefahrt in die Hauptstadt, die mich ebenfalls, als ich halb so alt wie jetzt, in dieses schöne Städtchen geführt hatte. Sie kam bei mir vorbei und lud mich in ein Restaurant zum Essen ein, und es fielen ein paar Scheine ab. Endlich kam wieder etwas Anderes als nur Rosenkohl auf den Teller.
Es klopfte an der Tür. „Wenn du nicht aufmachst, trete ich das Brett ein“. Ich wusste, wer das war. Den Tag zuvor war Billy, der sich immer wahllos mit jedem einließ, dagewesen und hatte einen Kumpel mitgebracht, den ich als Knacki bezeichnen würde. Er hatte sich wohl die Adresse gemerkt und suchte eine Penne. Er verschwand am nächsten Morgen und kehrte glücklicherweise nicht mehr zurück. Vorher hatte er mir noch Flecken auf seiner Bomberjacke gezeigt. „Die stammen von einer Schlägerei.“ Mit ihm, der merkwürdig leere Augen hatte, war nicht zu spaßen. Mir ist aber nichts passiert.
Jetzt verstand ich auch die Frauen, die irgendwie in diese Kreise reingeraten waren, obwohl sie selber gar nicht so waren. Die wurden diese Typen einfach nicht mehr los. Ehe sie Stress mit den Nachbarn riskierten, öffneten sie lieber die Tür, so wie ich jetzt. In der DDR gab es keine Frauenhäuser. Gewalt gegen Frauen durfte es nicht geben im Arbeiter- und Bauernstaat.
Neben dem Radio, meinem einzigen Besitz, auf dem ich nachts die Diskussionen, die mir naiv und weltfremd erschienen, am Runden Tisch hörte, hatte ich auch noch zwei Bücher. Das eine waren Stücke von Jean-Paul Sarte, das Andere war „Der Erlkönig“ von Michael Tournier. Durch die Stücke kämpfte ich mich tapfer durch. Ich wollte schon lange mal was von Sartre lesen. Der Roman war genauso öde. Jetzt wurde mir klar, warum meine Freundin gesagt hatte: „Nimm ihn dir mit. Du brauchst dich auch nicht zu beeilen.“ Mir ist noch in Erinnerung geblieben, dass ein Elch in der Schorfheide herumläuft.
Überall an den Straßenecken hingen Wahlplakate für die erste demokratische Wahl am 18. März 1990. Täglich standen Leitartikel in den Zeitungen darüber, welche der Kandidaten, die als Bürgerrechtler galten, wieder als Stasimitarbeiter enttarnt worden waren. Ich sah überhaupt nicht mehr durch.
Im Jugendradio DT 64 wurde dazu aufgerufen, in den Palast der Republik zu kommen, der von alternativen Bands aus dem Osten besetzt worden war. Ich fuhr hin und saß mit dem Sänger von unserer Lieblingsband* und seinem Anhang an einem Tisch.
Ein Intellektuellentyp, der im Palast neben mir am Bistrotisch saß, und, während er mit mir redete, durch mich hindurch sah wie durch Glas, wie solche Leute wie er das immer tun, sagte: Hoffentlich gewinnt die CDU die Wahl“. Ich wunderte mich. „Ich dachte, du bist links.“ Er gehörte ja zum Freundeskreis von einer Anarchoband aus dem Osten, die dort oft verboten war.
Er antwortete mir: „Ja, aber ich möchte nicht, dass wir die Schuld bekommen für das, was jetzt alles passieren wird in den Betrieben.“ Da hatte jemand die ganzen Umwälzungen, die Abwicklung der Wirtschaft im Osten vorausgeahnt.
Um Mitternacht wurde alles friedlich beendet. War wohl nicht so ernst gemeint gewesen.
Auch im besetzen Haus an der Schönhauser Allee, das von denselben Bands und ihren Freunden besetzt wurde, kämpften sie nicht wirklich. Irgendwas machten wir Ossis falsch. Die Meisten dort steckten Abfindungen ein.
Nur Aljoscha von Feeling B hielt als Einziger durch. Ich kannte ihn von Konzerten, aber mehr durch „Flüstern und Schreien“. In dem Film, der kurz vor Mauerfall in die DDR Kinos kam, hatte der, um keine Antwort verlegene, Aljoscha, das Ruder an sich gerissen und den Film zu dem seinen gemacht.
Im zweiten Teil des Films, der ein paar Jahre später entstand, kam er mir schon längst nicht mehr so optimistisch vor. Er, der Asthma hatte, wurde von Bauarbeitern in seinem Wohnwagen, der auf dem Hof des Hauses in der Schönhauser Allee stand, tot aufgefunden. Das war 2001. Bei dem Gedenkkonzert, das im Kesselhaus der Kulturbrauerei stattfand, kam ich wegen Überfüllung nicht mehr rein.
Nur kurze Zeit später nach unserer Spaßbesetzung wurde der Palast, den ich liebte, tatsächlich für immer geschlossen. Der Vorwand war Asbest. Im Arbeitsamt in der Gotlindestraße in Lichtenberg traf ich eine Frau, die mir erzählte, dass sie im Palast Restaurantleiterin gewesen war.
Jemand aus dem Westen sagte mal zu mir: „Die wollten euch zeigen, den Kalten Krieg haben wir gewonnen.“ Warum ich dieses Haus geliebt habe?
Das war eine Oase des Wohlstands. Alles war neu, blitzblank und luxuriös. Und offen für jedermann. Auch für die mit kleinem Geldbeutel, weil die Preise im Haus des Volkes extra kleingehalten waren.
Die Leute in der Gastronomie waren flink und gutgelaunt. Woanders wurde dir das Essen nach langer Wartezeit immer mit einem Gesichtsausdruck serviert, der besagte: „Friß und stirb dran.“ Hier war das ganz anders.
Von dem Würzfleisch in der Mokkabar träume ich heute noch. Wenn bei mir mal finanziell bessere Zeiten ausgebrochen waren, saß ich oft dort und aß die Speisekarte hoch und runter. Wenn ich richtig mit dem Geld knallen wollte, nahm ich immer Sekt mit einer Kugel Eis, obendrauf Schlagsahne, der in einem Kelch mit gewelltem Rand serviert wurde.
Dazu gehörte eine selbstgebackene Waffel aus Brandteig und ein Früchtespieß. Hinterher trank ich noch einen Mokka, wobei man anmerken muss, dass den nur im Palast gab. Hatte ich jedenfalls noch nie irgendwo anders gesehen.
In der weitläufigen Eingangshalle, die pottwarm war – Viele Berlinbesucher – auch Schülergruppen - wärmten sich hier auf – standen riesige weiche Ledersessel, in denen man versank, und in der oberen Stockwerken gab es eine Gemäldegalerie. Sozialistischer Realismus.
Man sah meist Brigaden mit Schutzhelm, die vor einem Baugerüst posierten.
Auch das Jugendradio aus dem Osten wurde Anfang der Neunziger abgewickelt. Es fanden Hungerstreiks vor dem Roten Rathaus statt.
Eine Autobahn wurde gesperrt von Fans, die den Sender, der nach Mauerfall ein sehr gutes Programm sendete, behalten wollten.
Zuerst riefen die Redakteure noch zum Widerstand auf. Nach einer Weile wurden sie merkwürdig ruhig. Ich vermute, dass es fette Abfindungen gab, und einige erhielten gute Jobs in der neuen Medienlandschaft.
Meine Freundin lernte mal jemanden kennen, der ihr in seiner Wohnung Musik vorspielte in einem glasklaren Sound, wie sie ihn noch nie vernommen hatte. Er zeigte ihr eine Anlage, die in einem Schrank verborgen war. Er arbeitete mal als Toningenieur in der Nalepastraße beim DDR-Radio. Als die große Entlassungswelle kam, bedienten er und seine Kollegen sich an der Technik, die übrigens sowieso für viele Jahre nicht mehr benutzt wurde.
Ausgerechnet Billy hatte dafür gesorgt, dass ich eine Arbeit bei einer Verleihfirma aufnahm. Er, ich und noch ein Anderer gingen nach Kreuzberg zu einer Verleihfirma. Scheinbar brauchten sie keine Männer, denn nur ich wurde genommen. Wir besetzten mal wieder eine Wohnung. Diesmal bekam ich einen Mietvertrag und der Student, der neben mir wohnte, schenkte mir seine alten Möbel, die auf dem Boden standen.
Neue Zeit, du kannst kommen.
*Freygang
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