Liselotte Kranich
Mitglied
Leben ist das mit der Freude und den Farben,
nicht das mit dem Ärger und dem Grau.
(unbekannt)
Prolog
„Was macht Anne?“, fragte Klaus am Telefon.
Annes Mann Christian stellte sein Handy üblicherweise auf laut.
„Anne malt.“
„Grüß schön.“
„Danke, du auch. Bis zum nächsten Mal.“
Anne gab nicht nach. Sie konnte und wollte es nicht. Der Film über den wirtschaftlichen Werdegang von Aenne Burda, der gerade im Fernsehen lief, machte ihr noch mehr Mut. Anne hatte keine Ambitionen, in die Geschichte einzugehen. Sie war aber auf keinen Fall bereit, vor Hindernissen und Misserfolgen einzuknicken. Sie ließ gerne jedem die Freiheit, ihre Schöpfungen nicht zu mögen oder gar für keine solcher Art zu halten. Sie behielt aber auch gern ihre Freiheit, weitermachen zu dürfen.
Sie malte viel, jede freie Minute, die sich ergab. Ihr Hobby artete in eine Flucht vor der Realität aus. Anne sah es als Therapie und wollte partout ihre „heile Welt“ nicht verlassen. Die von ihr gemalten Bilder stapelten sich in einem Schrank im Hauswirtschaftsraum. Manche Bilder nahmen einen Ehrenplatz an den Wänden in ihrem Haus ein. Die Quantität ging langsam in Qualität über. Angesichts der starken Konkurrenz war öfter die Rede von einer mangelhaften Verkaufsperspektive. Anne ließ sich nicht entmutigen: „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.“ Was konnte ihr groß passieren? Im schlimmsten Fall bliebe sie einfach auf ihren unzähligen Bildern sitzen.
Der Gedanke, ihre Kunstwerke unbedingt unter die Leute zu bringen, verankerte sich fest in Annes Kopf. Wo ein Wille war, war auch ein Weg. Wer diesen Weg suchte, fand ihn auch. Annes Weg führte in den „Knödel Club“, eine recht nette Kneipe mit einer großen, dekorfreien Wand im ersten Stock. Der Hauswirtschaftsraum wurde entlastet. Kurz drauf fand das erste Bild einen neuen, glücklichen Besitzer. Der „Stein des Anstoßes“ kam ins Rollen. Annes Ehrgeiz bekam Futter und drohte, ins Ungesunde auszuarten.
Das war eine explosive Kombination aus zwei Süchten: der Sucht nach einer illusorisch problemfreien Welt und der Sucht nach Anerkennung. Jeder weitere Erfolg verlieh Anne Flügel und gab ihr die Kraft, die folgenden Misserfolge besser zu ertragen. Sie scheute keine Herausforderungen und probierte alle möglichen Motive der Welt künstlerisch aus.
Anne formulierte selbst ihre Diagnose und holte eine Bestätigung dafür bei ihrer Psychologin ein. Der geplante, volle, fünfwöchige Entzug bekam aus der psychologischen Sicht eher keine Befürwortung. Anne war jedoch fest entschlossen, während ihres Reha-Aufenthaltes gänzlich aufs Malen zu verzichten. Es gelang ihr inzwischen gut. iSe hatte viel Ablenkung durch Anwendungen, neue Bekanntschaften und gemeinsame Erkundungen der unbekannten Umgebung.
Anne machte ihre neuen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychosomatik. Sie war von Menschen mit ähnlichen Sorgen umgeben. Eine davon war äußerst verbreitet. Das war die Sorge, für einen Simulanten gehalten zu werden. Dass andere Menschen so über Anne urteilten, war im Grunde nur ihre Vermutung, da niemand das je zu ihr gesagt hatte. Anne arbeitete daran, diesen Gedanken loszuwerden. Er musste aus ihrem Kopf unverzüglich wegtherapiert werden. Einfach war es nicht. Sie fühlte sich bei Unterhaltungen dieser Art angesprochen. Das führte zur sofortigen Abwehr- und Kampfbereitschaft. Sie kämpfte gegen einen illusorischen Gegner. So, wie der Cervantes‘sche Don Quijote gegen Windmühlen kämpfte. Das falsche Herangehen an die Problematik war offensichtlich. Das fleißige Bienchen namens Anne hätte gerne weiter das Hamsterrad gedreht, wenn sie es nur gekonnt hätte. Sie konnte es leider nicht mehr. Sie fand aber ein anderes Hamsterrad und rannte sich unermüdlich weiter kaputt. Sie war zweifelsfrei reif für eine Therapie.
Anne postete viele Bilder und berichtete über dies und das, über Gott und die Welt. Sie informierte regelmäßig über ihre Ausstellorte, worauf sie sehr stolz war. Das Prinzip „aus den Augen aus dem Sinn“ bewahrheitete sich bei Anne nicht: so etwas könnte ihr einfach nicht passieren.
„Bist du auf Reha oder auf einer Vernissage-Reise?“,- kamen berechtigte Rückmeldungen von Annes Followern.
Natürlich nahm Anne ein paar kleinere Bilder in die Reha mit. Auf gut Glück sozusagen. In ihrem Einzelzimmer waren zwei Magnetleisten an einer Wand angebracht. Eine tolle Erfindung! Es dauerte nicht lange und die Bilder hingen schon. Das restliche Gepäck durfte solange warten. Sie lud anschließend jeden, den sie kennenlernte, zu sich ins Zimmer ein. Das schränkte zwar in gewissem Maße ihre Privatsphäre ein, sorgte aber gleichzeitig für immer herrschende Ordnung in ihrem Zimmer, was eher vorteilhaft war.
Mit der Zeit musste sich Anne eingestehen, dass ihre geniale Idee wenig fruchtete. Wider Annes Erwartungen bildete sich keine Schlange von Interessenten vor ihrer Tür. Doch Nachgeben, wie schon erwähnt wurde, war für Anne nie eine Option.
„Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt“, - dachte Anne laut, „muss der Prophet zum Berg gehen.“ Sie bewaffnete sich mit einem ihrer Bilder und ging damit zur Rezeption. Auch wenn nicht sofort, wurde letztendlich eine Lösung gefunden. Und schon stapelte Anne Bücher aus dem „Lieblingsplatz-Regal“ im Nebenraum. Sie dienten als Stütze für ihre Bilder. Der Eingangsbereich der Klinik wurde zu ihrem dritten, temporären Ausstellort.
Annes Werke wurden auf keinen Fall übersehen. Der eine oder andere Patient blieben am Bilderstand stehen. Es mangelte weder an Lob noch an Bewunderung der hervorragenden Leistung und der vielfältigen Motivideen. Eine nette Kollegin aus Annes Gruppe liebäugelte mit einem Bild und erwarb es ohne längeres Zögern. Man wünschte sich, dass alle Kunden so unkompliziert und entschlossen wären. Die Realität schaffte es leider nicht, Annes Wünschen hinterher zu eilen. Von dem männlichen Teil der Belegschaft ganz abzusehen waren die Frauen bereit Unmengen an Schmuck bei anderen Ausstellern aufzukaufen, hatten jedoch bedauerlicherweise keine Budget-Reserven für Annes Bilder. Diese Tatsache stimmte Anne traurig. Chris tröstete seine Frau: „Das hat nichts mit deinen Bildern zu tun.“ War das der falsche Ort für ihre Kunst? So, wie die „Eckapotheke“? Brauchten kranke Menschen keine selbstgemalte Bilder? Anne war vom Gegenteil überzeugt. Sie musste einen Denkfehler haben. Die Gedanken köchelten in ihr und quellten wie spiralförmige Nudeln auf. Sie erinnerte sich an den alten Witz: „Es gibt drei Dinge, die man sich immer zu viel macht: Hoffnungen, Gedanken und Nudeln.“ Die Betonung lag auf „zu viel“. Es wäre sicherlich besser gewesen, wider Erwartungen überrascht zu sein. Wenn man wenig erwartete, könnte man nicht enttäuscht werden. Obwohl über eine Enttäuschung sollte man sich eigentlich freuen. Man hätte letztendlich eine Täuschung weniger im Leben. Anne übte sich darin, mit allem zu rechnen, auch mit dem Guten. In der Theorie war sie gut. Mit dem Umsetzen haperte es bei ihr und zwar gewaltig. Sie kam sich wie ein Schuster vor, der selbst keine Schuhe besaß. Die Nudeln „kochten in ihrem Kopf über“. Sie war immer noch traurig.
Am nächsten Tag wollte Anne ihre Gedanken mit den Gleichgesinnten in der Psychotherapiegruppe teilen. Überraschend stieß sie dabei eher auf Unverständnis. Sie servierte zu viel „Nudeln“. Die „Nudelspiralen“ waren wohl zu straff. Sie „drückte auf die Stopptaste“ und hörte auf, ihre für viele Anwesenden missverständlichen Überlegungen vorzutragen. Die Stille füllte den Raum. Der „Elefant“ des Schweigens wurde immer größer. Das nervte Anne. Die Wanduhr vor ihren Augen lief gnadenlos weiter. Die „vertane“ Zeit war ihr einfach zu schade. Anne spürte, wie sie sich in der Gruppe unbeliebt machte. Das war nur ihr subjektives Empfinden, solange es nicht ausgesprochen wurde. Sie bemühte sich, von diesem Gedanken abzukommen. Der liebe Gott beendete ihre Torturen, indem eine andere Kollegin ihr plötzlich aus der Seele sprach. „Da sind wir jetzt zwei, glücklicherweise“, äußerte sich Anne dankbar ihrer „Retterin“ gegenüber. An dem Tag gelobte sich Anne, ihre „Nudeln“ vor dem Kochen genau abzuwiegen.
Anne vermisste ihre „heile Welt der Malerei“. Der Kreis schloss sich. Sie brauchte dieses Schmieren mit Farbe auf Leinwand. Es war jedes Mal spannend, was aus der einen oder anderen Idee wird. Mit dem Malen hatte sie vor circa vier Jahren angefangen. Zuerst mit Blei- und Kohlestiften. Drei Jahre später startete sie den Versuch mit Acrylfarben.
Sie mochte ihre Bilder. Sie wurde oft gefragt, wie sie auf ihre Motivideen komme. Ob sie alles aus dem Kopf male oder irgendwo anders her die Inspiration schöpfe? „Ich suche mir aus verschiedenen Quellen ein Motiv aus, zum Beispiel einen Hasen, und fange an, ihn nachzumalen. Aus diesem Hasen wird letztendlich eine Kuh. Meine Kuh hat gewöhnlich mit dem besagten Hasen wenig bis gar nichts gemeinsam. Der inspirative Hase ist aber ein Muss.“
Jedoch zurück zu den „Nudeln“. Neulich fragte jemand in der Psychotherapierunde nach Erfahrungen, wie man mit den lästigen, beunruhigenden Gedanken umgehen sollte? Wie wurde man sie los? Anne fiel nichts anderes als ihre Malerei ein. Beim Malen kam Annas Kopf zur Ruhe und befreite sich von den „wie eine lästige Fliege summenden“ Gedanken. Das tat Anne gut. Das war sozusagen eine Medizin, die drohte, zu einer Art „Droge“ zu werden. Diese Abhängigkeit beunruhigte Anne: „Wenn ich bloß nicht jeden Tag, sondern jede Woche ein Bild „produzieren“ würde. Dann würden die unzähligen, bunten Laufmetern Leinwand sich mit tieferem Inhalt füllen.“
Anne malte schon zwei Wochen nicht. Von einer Abhängigkeit konnte also nicht die Rede sein. Das war ein Plus. Ein Minus gab es an der Sache leider Gottes auch. Es gab auf einmal viel Spielraum für „summende“, beunruhigende Gedanken. Wenn man die Gedanken nicht los werden konnte, versuchte man sie zumindest zu ordnen. Anne sortierte und speicherte ihre Gedanken am besten in einer Word-Datei. So konnte sie anfangs gedankliche Fetzen ganz in Ruhe zusammenfügen und damit logische Sätze bilden. Langsam entstand ein fließender Text. Die spiralförmigen Nudeln wurden nach und nach zu langen Spagetti gezogen. Sie konnten immer noch überkochen. Auch mit der Menge klappte es noch nicht hundertprozentig. Die sorgfältig formulierten Gedanken machten Anne selbst nicht mehr verrückt und durften langsam der Öffentlichkeit vorgetragen werden, ohne jemanden stark zu verwirren.
Eins war für Anne klar. Sie beherrschte nicht die Kunst, sich beim Chillen nicht zu langweilen. Für sie bedeutete Erholung eher einen Tätigkeitswechsel. Sie war froh wieder mal eine schriftstellerische Idee zu haben. Die Word-Datei war Annes vielem Plappern gegenüber geduldig. „So kann sich auch meine Psychotherapiegruppe von meinem Gedanken-Wirrwarr erholen“, dachte Anne.
Ein Thema hätte sie mit der Gruppe doch noch gern diskutiert. Warum hatten manche Menschen keinen Arsch in der Hose, etwas offen und ehrlich abzusagen, was früher felsenfest angekündigt worden war? Warum entschieden sie sich für den Standby-Modus? Zwischendurch bekräftigten sie nochmalig ihr Vorhaben. Dabei mussten sie schon bewusst gelogen haben, denn danach kam nichts mehr.
Anne hatte nicht vor, die Namen zu nennen. Sie wollte nur sagen: „Leute, vergackeiern kann ich mich selber.“ Anne hielt es schon für richtig, dass Lob in die Öffentlichkeit gehörte, die Kritik dagegen eine private Angelegenheit war. Sie wollte nur allgemein erfahren, ob nur sie dieses „Nein“ ohne zusätzliche Aufforderung gern hören würde. Das anfängliche „Ja“ erzwang sie auch bei niemandem. Ein heikles Thema. Anne konnte immer noch nicht entscheiden, ob sie wieder mal mit ihren Überlegungen loslegen wollte, oder doch lieber den Mund halten sollte. Die Entscheidung schob sie bis auf Weiteres auf. Sie erinnerte sich an einen alten Werbeslogan über die flexiblen Dr.-Best-Zahnbürsten: „Die klügere Bürste gibt nach.“ Anne behauptete nie, dass sie klüger, als wer auch immer, war.
Anne lebte in der Reha wieder auf. Sie konnte Informationen, Gedanken, Gefühle mit anderen austauschen: das vermisste sie sonst in ihrer gewöhnlichen Umgebung. Mit ihrem Mann waren mittlerweile alle Themen ausgiebig besprochen. Sie konnten schon langsam mit Nummern versehen werden. Dann wäre die Unterhaltung noch kürzer. Man müsste nur ankündigen: „Das Thema Nummer drei“ oder „Der Witz Nummer elf.“ Das meinte Anne nicht ernst. Jeder Witz besteht bekanntlich nur anteilig aus einem Witz. Die Kommunikation mit der Außenwelt fehlte in der letzten Zeit. Dafür waren die Meinungsunterschiede verantwortlich. Chris und Anne wollten Konfrontationen mit anderen vermeiden und fingen keine grundlegenden Diskussionen an. Der Krieg in Annes Heimat ging weiter. Es zeichneten sich vereinzelte Erfolge ab. Es war aber noch keine Wende absehbar, geschweige ein Ende. Daraus resultierten öfter die unerwünschten Diskussionen bezüglich der Flüchtlingspolitik. Der enge Bekanntenkreis wurde immer enger. Chris und Anne fraßen alles in sich hinein und kochten sozusagen im eigenen Saft. Das machte auf Dauer keinen Spaß mehr. Sie fühlten sich in ihrem schönen Haus wie in einem goldenen Käfig eingesperrt.
Jeder ist Schmied seines eigenen Glückes oder Unglückes. Chris und Anne entschieden sich für einen Ortswechsel und waren seit geraumer Zeit dabei, ihr Haus samt den Hof zu verkaufen. Anne freute sich auf ihre Rückkehr nach der Reha. Der Notartermin stand fest. Langsam begann die Zeit der intensiven Suche nach einer Mietwohnung. Chris und Anne freuten sich auf einen neuen Abschnitt in ihrem Leben und hofften das Beste. Es stand eine spannende Zeit bevor. Während der Reha sammelte Anne die Kräfte dafür.
Heute beschäftigte sich Anne mit der Frage, ob sie in ihre Malerei vor der Realität floh, oder in ihrer heilen Welt ihre Energie und Kraft pumpte, sozusagen ihren Akku auflud. Für Anne waren beide Sichtweisen richtig. Sie sah keine Not, sich unbedingt für etwas zu entscheiden. Sie floh in die Malereiwelt, um ihren Akku aufzuladen. Die Kunst machte es möglich.
Die jüngste Musiktherapierunde gab Anne Kraft und Zuversicht. Das war ein Durchbruch. Sie fühlte sich mit ihren Selbstausdrucksbedürfnissen und Austauschbemühungen wohl in dieser Runde. Das war eine geniale Idee, Musikinstrumente in eine Psychotherapiegruppe zur Hilfe zu nehmen, ein Musikinstrument sprechen zu lassen, wenn man selber nichts sagen mochte. Das war auf jeden Fall eine Option, die drückende Stille des etwas längeren Schweigens der „Lämmer“ zu unterbrechen. Und man musste dabei kein begabter Musiker sein. Am besten wäre es sogar, gar keine Ahnung auf diesem Gebiet zu haben. Oder so wie Anne, schon vergessen zu haben, was sie als Kind mal gelernt hatte.
Es war verblüffend, mitzuerleben, wie sich aus einer Kakophonie am Anfang allmählich ein interaktives Agieren entwickelte. Zum Schluss entstand eine Art gemeinsames Musikstück, auch wenn es sich nicht unbedingt wohlklingend anhörte, zumindest nicht im klassischen Sinne. In diesem Stück ging es nicht um die Noten. Die gemeinsame Energie war wichtig. Die Energie, die sich akkumulierte.
Im Anschluss durften alle Beteiligten das Erlebte in Worte fassen. Anne überraschte, dass es allen so leicht fiel. Es lebe der Erfinder der Musiktherapie! Die Musiker müssten allerdings fähig sein, in einem Orchester zu interagieren.
Anne verstand langsam die Schwerpunkte der Psychosomatik. Dem Patienten musste beigebracht werden, seine Krankheit zu lokalisieren, sich dazu zu bekennen, nach Ursachen zu suchen, sie möglichst zu neutralisieren oder gar zu beseitigen, im Zweifelsfall nicht dauernd gegen Windmühlen zu kämpfen, sondern womöglich die eigene Einstellung zu ändern.
Beim stressigen Job mussten Abläufe geändert werden. War das unmöglich, müsste der Job eventuell ganz aufgegeben werden. Mit keinem Geld der Welt konnte man Gesundheit erkaufen. Nach dem eigenen gesundheitlichen Versagen war man zack weg vom Fenster.
Beim Stress in der Familie könnte man Ordnung mit einem klaren „Nein“ schaffen, wenn das Wasser bis zum Hals stand. Eine faire Aufgabenumverteilung nutzte auch schon mal. Bei Untreue wäre der Übeltäter zu beseitigen. Aus welchem Lager auch immer. Nach eigenem Ermessen. Unartige Kinder würden einen leichten Klaps auf den Po bekommen und sich unverzüglich den Hausaufgaben widmen.
Unheilbaren Krankheiten wurden möglichst so therapiert, dass ihre Flamme nur ganz langsam vor sich hin flackerte. Jeder Tag wurde zelebriert und dafür dankend gelebt, dass er nicht der vorletzte war.
Wie ginge man mit einem Eroberungskrieg in der Heimat um? Wie therapierte man die verheerenden Wirkungen von Luftangriffen, zerstörten Wohnhäusern, Kliniken und anderen Zivilobjekten? Wie therapierte man die Erkenntnis, dass der eigene Schwager seit mehreren Monaten verschollen war, und die Unkenntnis darüber, ob er an seinem Geburtstag ein Jahr älter geworden war? Wie therapierte man den Gedanken, dass der eigene Vater wie üblich am Fenster sitzen konnte, während die Glasscheibe durch einen Raketeneinschlag zerbrach und ihn mit Splittern verletzen konnte? Gott sei Dank war er zur richtigen Zeit am anderen richtigen Ort. Wie beseitigte man den Krieg? Wie änderte man die eigene Einstellung dazu? Wie verbannte man die Angst um die engen Verwandten im Krieg? Wie therapierte man die eigene Hilflosigkeit? Die Fragen blieben nach jeglicher Therapie für Anne offen.
Das, was uns nicht umbringen konnte, härtete uns ab. Ob das stimmte, war fraglich. Hoffentlich machte das uns nicht endgültig zu einem Wrack. Der Mensch war so konzipiert, dass seine Wunden früher oder später heilten. Die Narben blieben. Unsere Narben waren die Mahnmale und Stoppschilder. Die höchste Leistung in unserem Leben wäre, kein zweites Mal auf eine Harke zu treten. Es lohnt sich nicht, wiederholt zu überprüfen, ob der Stiel genauso schnell und mit der gleichen Wucht hoch kommt und auf die Birne schlägt. Ein Idealfall wäre es, selbst mit einer Harke nie etwas zu tun zu haben, sondern sich auf Erfahrungen anderer zu verlassen.
Anne konnte die Frage wirklich für sich nicht beantworten, ob sie von Anfang an auf die Warnung von der „brotlosen Kunst“ hätte hören sollen oder doch ihre eigene Erfahrung machen musste. Am Anfang schien es einen Versuch wert zu sein, sollte sie auch nur ein einziges Bild verkaufen. Sie verkaufte mehr als eins, jedoch immer noch nicht genug, um über „tägliches Brot“ sprechen zu können. Sie bemühte sich, vielen Geschmäckern zu entsprechen, und produzierte Unmengen an Bildern. Es ist ihr offensichtlich nicht gelungen, „DAS“ zu erschaffen, was gesucht wurde. Langsam kam Anne zum Entschluss, „DEN“ zu suchen, der zwischen zig vorhandenen Bildern „DAS“ für sich finden konnte. Anne entschied sich für das ursprüngliche Nur-für-sich-selbst-malen. Und sollte dieses oder jenes Bild jemandem gefallen, durfte derjenige es auch erwerben. Anne wollte auf keinen Fall sich selbst in der Bildermasse verlieren. Die übermäßig breite Palette an Techniken und Motiven musste reduziert werden. Es war an der Zeit, ihre eigene Nische zu finden. Es war die höchste Zeit. Anne war froh, ihre gedanklichen Nudeln zumindest auf diesem Gebiet etwas sortiert bekommen zu haben.
Anne erinnerte sich an den Text auf der Verpackung in einem Krims-Krams-Laden. Das war schon etwas länger her. „Ich glaube, ich hatte dort etwas Dekoratives für meine Blumen-terrasse gekauft“, dachte Anne laut. „Gut, dass ich damals ein Foto gemacht habe.“ Die Verpackung war natürlich längst entsorgt. „Leben ist das mit der Freude und den Farben. Nicht das mit dem Ärger und dem Grau“, las Anne den Text auf dem Foto. Auch wenn die optimistische Idee der Zeilen völlig verständlich war, stimmte Anne dem un-bekannten Autor nicht ganz zu. Das Leben war nämlich alles: die Freude und der Ärger und das mit allen möglichen Farben. „Seit wann ist das Grau keine Farbe?“, zuckte Anne mit den Schultern. Sie hatte sich nämlich vor Kurzem eine Bilderserie überlegt, wo überwiegend Graustufen im Spiel waren. Sie weigerte sich, ihre neuen Motive als leblos zu betrachten.
Die Zeit lief schnell. Die fünfte, „malfreie“ Woche ging zu Ende. Auch die Reha näherte sich dem Ende. Anne überlegte sich, welche ihrer Sorgen sie in der letzten Gruppentherapie loswerden könnte. Wie bestellt ergab sich ein Vorfall im Speisesaal. Eine neue Tischnachbarin wollte nach der ersten gemeinsamen Brotzeit zusammen mit Anne unbedingt den Tisch wechseln: „Merkst du, wie es hier zieht?“ Anne merkte es nicht. Sie hatte durchaus mitgekriegt, dass Heike, die vorher mit am Tisch saß und mittlerweile abgereist war, immer ein Jäckchen mit sich führte. Anne selbst empfand den Luftzug im Speisesaal nicht als Tornado und daher nicht der Rede wert.
„Und dann grübelte ich den ganzen Abend lang, ob es wirklich der Luftzug war? Oder passte der Frau meine Gesellschaft nicht?“, trug Anne in der Gruppenrunde am nächsten Tag vor. „Und diese unverzügliche Umsetzung ihres Vorhabens noch dazu. Aufgeschoben auf den nächsten Tag wäre es für mich schonender gewesen.“
Daraufhin entwickelte sich eine rege Unterhaltung. Viele konnten sich an eine ähnliche Situation aus dem eigenen Leben erinnern. Die objektive Einschätzung der Gruppenmitglieder neigte eher zu der eigentlichen Ursache und zwar dem Windzug. Keiner aus der Gruppe wollte es versäumen, Anne aufzumuntern und ihre allen sympathischen Eigenschaften hervorzuheben. Anne durfte ungeplant zum Abschied die besten Rezensionen sammeln. Ihre Psychologin hob die nette Art von Anne als Bereicherung für Gruppensitzungen hervor. Besser hätte die Abschlussrunde nicht laufen können. Anne fühlte sich geschmeichelt und um mindestens einen Zentimeter gewachsen.
Dadurch inspiriert wollte sich Anne noch für jeden aus der Gruppe ein kleines, nettes und unbedingt symbolisches Geschenk überlegen. Die Idee kam auch ganz spontan. Und schon packte sie für jeden ein Teelicht in Geschenkpapier ein. Der Hersteller von Teelichtern versprach auf der Verpackung eine Brennzeit von vier Stunden. Das passte perfekt. Anne versah jedes Geschenk mit der kurzen Notiz „noch vier Stunden mit mir“ (also solange das jeweilige Teelicht brannte). Anne war selbst von ihrer Idee begeistert. Das war ein perfektes „Happy End“.
„Malt Anne?“, fragte Klaus am Telefon.
Annes Mann Christian stellte sein Handy auf laut.
„Klar.“
„Grüß schön.“
„Danke, du auch. Bis zum nächsten Mal.“
nicht das mit dem Ärger und dem Grau.
(unbekannt)
Prolog
„Was macht Anne?“, fragte Klaus am Telefon.
Annes Mann Christian stellte sein Handy üblicherweise auf laut.
„Anne malt.“
„Grüß schön.“
„Danke, du auch. Bis zum nächsten Mal.“
Gedankennudeln
Anne gab nicht nach. Sie konnte und wollte es nicht. Der Film über den wirtschaftlichen Werdegang von Aenne Burda, der gerade im Fernsehen lief, machte ihr noch mehr Mut. Anne hatte keine Ambitionen, in die Geschichte einzugehen. Sie war aber auf keinen Fall bereit, vor Hindernissen und Misserfolgen einzuknicken. Sie ließ gerne jedem die Freiheit, ihre Schöpfungen nicht zu mögen oder gar für keine solcher Art zu halten. Sie behielt aber auch gern ihre Freiheit, weitermachen zu dürfen.
Sie malte viel, jede freie Minute, die sich ergab. Ihr Hobby artete in eine Flucht vor der Realität aus. Anne sah es als Therapie und wollte partout ihre „heile Welt“ nicht verlassen. Die von ihr gemalten Bilder stapelten sich in einem Schrank im Hauswirtschaftsraum. Manche Bilder nahmen einen Ehrenplatz an den Wänden in ihrem Haus ein. Die Quantität ging langsam in Qualität über. Angesichts der starken Konkurrenz war öfter die Rede von einer mangelhaften Verkaufsperspektive. Anne ließ sich nicht entmutigen: „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.“ Was konnte ihr groß passieren? Im schlimmsten Fall bliebe sie einfach auf ihren unzähligen Bildern sitzen.
Der Gedanke, ihre Kunstwerke unbedingt unter die Leute zu bringen, verankerte sich fest in Annes Kopf. Wo ein Wille war, war auch ein Weg. Wer diesen Weg suchte, fand ihn auch. Annes Weg führte in den „Knödel Club“, eine recht nette Kneipe mit einer großen, dekorfreien Wand im ersten Stock. Der Hauswirtschaftsraum wurde entlastet. Kurz drauf fand das erste Bild einen neuen, glücklichen Besitzer. Der „Stein des Anstoßes“ kam ins Rollen. Annes Ehrgeiz bekam Futter und drohte, ins Ungesunde auszuarten.
Das war eine explosive Kombination aus zwei Süchten: der Sucht nach einer illusorisch problemfreien Welt und der Sucht nach Anerkennung. Jeder weitere Erfolg verlieh Anne Flügel und gab ihr die Kraft, die folgenden Misserfolge besser zu ertragen. Sie scheute keine Herausforderungen und probierte alle möglichen Motive der Welt künstlerisch aus.
Anne formulierte selbst ihre Diagnose und holte eine Bestätigung dafür bei ihrer Psychologin ein. Der geplante, volle, fünfwöchige Entzug bekam aus der psychologischen Sicht eher keine Befürwortung. Anne war jedoch fest entschlossen, während ihres Reha-Aufenthaltes gänzlich aufs Malen zu verzichten. Es gelang ihr inzwischen gut. iSe hatte viel Ablenkung durch Anwendungen, neue Bekanntschaften und gemeinsame Erkundungen der unbekannten Umgebung.
Anne machte ihre neuen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychosomatik. Sie war von Menschen mit ähnlichen Sorgen umgeben. Eine davon war äußerst verbreitet. Das war die Sorge, für einen Simulanten gehalten zu werden. Dass andere Menschen so über Anne urteilten, war im Grunde nur ihre Vermutung, da niemand das je zu ihr gesagt hatte. Anne arbeitete daran, diesen Gedanken loszuwerden. Er musste aus ihrem Kopf unverzüglich wegtherapiert werden. Einfach war es nicht. Sie fühlte sich bei Unterhaltungen dieser Art angesprochen. Das führte zur sofortigen Abwehr- und Kampfbereitschaft. Sie kämpfte gegen einen illusorischen Gegner. So, wie der Cervantes‘sche Don Quijote gegen Windmühlen kämpfte. Das falsche Herangehen an die Problematik war offensichtlich. Das fleißige Bienchen namens Anne hätte gerne weiter das Hamsterrad gedreht, wenn sie es nur gekonnt hätte. Sie konnte es leider nicht mehr. Sie fand aber ein anderes Hamsterrad und rannte sich unermüdlich weiter kaputt. Sie war zweifelsfrei reif für eine Therapie.
Anne postete viele Bilder und berichtete über dies und das, über Gott und die Welt. Sie informierte regelmäßig über ihre Ausstellorte, worauf sie sehr stolz war. Das Prinzip „aus den Augen aus dem Sinn“ bewahrheitete sich bei Anne nicht: so etwas könnte ihr einfach nicht passieren.
„Bist du auf Reha oder auf einer Vernissage-Reise?“,- kamen berechtigte Rückmeldungen von Annes Followern.
Natürlich nahm Anne ein paar kleinere Bilder in die Reha mit. Auf gut Glück sozusagen. In ihrem Einzelzimmer waren zwei Magnetleisten an einer Wand angebracht. Eine tolle Erfindung! Es dauerte nicht lange und die Bilder hingen schon. Das restliche Gepäck durfte solange warten. Sie lud anschließend jeden, den sie kennenlernte, zu sich ins Zimmer ein. Das schränkte zwar in gewissem Maße ihre Privatsphäre ein, sorgte aber gleichzeitig für immer herrschende Ordnung in ihrem Zimmer, was eher vorteilhaft war.
Mit der Zeit musste sich Anne eingestehen, dass ihre geniale Idee wenig fruchtete. Wider Annes Erwartungen bildete sich keine Schlange von Interessenten vor ihrer Tür. Doch Nachgeben, wie schon erwähnt wurde, war für Anne nie eine Option.
„Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt“, - dachte Anne laut, „muss der Prophet zum Berg gehen.“ Sie bewaffnete sich mit einem ihrer Bilder und ging damit zur Rezeption. Auch wenn nicht sofort, wurde letztendlich eine Lösung gefunden. Und schon stapelte Anne Bücher aus dem „Lieblingsplatz-Regal“ im Nebenraum. Sie dienten als Stütze für ihre Bilder. Der Eingangsbereich der Klinik wurde zu ihrem dritten, temporären Ausstellort.
Annes Werke wurden auf keinen Fall übersehen. Der eine oder andere Patient blieben am Bilderstand stehen. Es mangelte weder an Lob noch an Bewunderung der hervorragenden Leistung und der vielfältigen Motivideen. Eine nette Kollegin aus Annes Gruppe liebäugelte mit einem Bild und erwarb es ohne längeres Zögern. Man wünschte sich, dass alle Kunden so unkompliziert und entschlossen wären. Die Realität schaffte es leider nicht, Annes Wünschen hinterher zu eilen. Von dem männlichen Teil der Belegschaft ganz abzusehen waren die Frauen bereit Unmengen an Schmuck bei anderen Ausstellern aufzukaufen, hatten jedoch bedauerlicherweise keine Budget-Reserven für Annes Bilder. Diese Tatsache stimmte Anne traurig. Chris tröstete seine Frau: „Das hat nichts mit deinen Bildern zu tun.“ War das der falsche Ort für ihre Kunst? So, wie die „Eckapotheke“? Brauchten kranke Menschen keine selbstgemalte Bilder? Anne war vom Gegenteil überzeugt. Sie musste einen Denkfehler haben. Die Gedanken köchelten in ihr und quellten wie spiralförmige Nudeln auf. Sie erinnerte sich an den alten Witz: „Es gibt drei Dinge, die man sich immer zu viel macht: Hoffnungen, Gedanken und Nudeln.“ Die Betonung lag auf „zu viel“. Es wäre sicherlich besser gewesen, wider Erwartungen überrascht zu sein. Wenn man wenig erwartete, könnte man nicht enttäuscht werden. Obwohl über eine Enttäuschung sollte man sich eigentlich freuen. Man hätte letztendlich eine Täuschung weniger im Leben. Anne übte sich darin, mit allem zu rechnen, auch mit dem Guten. In der Theorie war sie gut. Mit dem Umsetzen haperte es bei ihr und zwar gewaltig. Sie kam sich wie ein Schuster vor, der selbst keine Schuhe besaß. Die Nudeln „kochten in ihrem Kopf über“. Sie war immer noch traurig.
Am nächsten Tag wollte Anne ihre Gedanken mit den Gleichgesinnten in der Psychotherapiegruppe teilen. Überraschend stieß sie dabei eher auf Unverständnis. Sie servierte zu viel „Nudeln“. Die „Nudelspiralen“ waren wohl zu straff. Sie „drückte auf die Stopptaste“ und hörte auf, ihre für viele Anwesenden missverständlichen Überlegungen vorzutragen. Die Stille füllte den Raum. Der „Elefant“ des Schweigens wurde immer größer. Das nervte Anne. Die Wanduhr vor ihren Augen lief gnadenlos weiter. Die „vertane“ Zeit war ihr einfach zu schade. Anne spürte, wie sie sich in der Gruppe unbeliebt machte. Das war nur ihr subjektives Empfinden, solange es nicht ausgesprochen wurde. Sie bemühte sich, von diesem Gedanken abzukommen. Der liebe Gott beendete ihre Torturen, indem eine andere Kollegin ihr plötzlich aus der Seele sprach. „Da sind wir jetzt zwei, glücklicherweise“, äußerte sich Anne dankbar ihrer „Retterin“ gegenüber. An dem Tag gelobte sich Anne, ihre „Nudeln“ vor dem Kochen genau abzuwiegen.
Anne vermisste ihre „heile Welt der Malerei“. Der Kreis schloss sich. Sie brauchte dieses Schmieren mit Farbe auf Leinwand. Es war jedes Mal spannend, was aus der einen oder anderen Idee wird. Mit dem Malen hatte sie vor circa vier Jahren angefangen. Zuerst mit Blei- und Kohlestiften. Drei Jahre später startete sie den Versuch mit Acrylfarben.
Sie mochte ihre Bilder. Sie wurde oft gefragt, wie sie auf ihre Motivideen komme. Ob sie alles aus dem Kopf male oder irgendwo anders her die Inspiration schöpfe? „Ich suche mir aus verschiedenen Quellen ein Motiv aus, zum Beispiel einen Hasen, und fange an, ihn nachzumalen. Aus diesem Hasen wird letztendlich eine Kuh. Meine Kuh hat gewöhnlich mit dem besagten Hasen wenig bis gar nichts gemeinsam. Der inspirative Hase ist aber ein Muss.“
Jedoch zurück zu den „Nudeln“. Neulich fragte jemand in der Psychotherapierunde nach Erfahrungen, wie man mit den lästigen, beunruhigenden Gedanken umgehen sollte? Wie wurde man sie los? Anne fiel nichts anderes als ihre Malerei ein. Beim Malen kam Annas Kopf zur Ruhe und befreite sich von den „wie eine lästige Fliege summenden“ Gedanken. Das tat Anne gut. Das war sozusagen eine Medizin, die drohte, zu einer Art „Droge“ zu werden. Diese Abhängigkeit beunruhigte Anne: „Wenn ich bloß nicht jeden Tag, sondern jede Woche ein Bild „produzieren“ würde. Dann würden die unzähligen, bunten Laufmetern Leinwand sich mit tieferem Inhalt füllen.“
Anne malte schon zwei Wochen nicht. Von einer Abhängigkeit konnte also nicht die Rede sein. Das war ein Plus. Ein Minus gab es an der Sache leider Gottes auch. Es gab auf einmal viel Spielraum für „summende“, beunruhigende Gedanken. Wenn man die Gedanken nicht los werden konnte, versuchte man sie zumindest zu ordnen. Anne sortierte und speicherte ihre Gedanken am besten in einer Word-Datei. So konnte sie anfangs gedankliche Fetzen ganz in Ruhe zusammenfügen und damit logische Sätze bilden. Langsam entstand ein fließender Text. Die spiralförmigen Nudeln wurden nach und nach zu langen Spagetti gezogen. Sie konnten immer noch überkochen. Auch mit der Menge klappte es noch nicht hundertprozentig. Die sorgfältig formulierten Gedanken machten Anne selbst nicht mehr verrückt und durften langsam der Öffentlichkeit vorgetragen werden, ohne jemanden stark zu verwirren.
Eins war für Anne klar. Sie beherrschte nicht die Kunst, sich beim Chillen nicht zu langweilen. Für sie bedeutete Erholung eher einen Tätigkeitswechsel. Sie war froh wieder mal eine schriftstellerische Idee zu haben. Die Word-Datei war Annes vielem Plappern gegenüber geduldig. „So kann sich auch meine Psychotherapiegruppe von meinem Gedanken-Wirrwarr erholen“, dachte Anne.
Ein Thema hätte sie mit der Gruppe doch noch gern diskutiert. Warum hatten manche Menschen keinen Arsch in der Hose, etwas offen und ehrlich abzusagen, was früher felsenfest angekündigt worden war? Warum entschieden sie sich für den Standby-Modus? Zwischendurch bekräftigten sie nochmalig ihr Vorhaben. Dabei mussten sie schon bewusst gelogen haben, denn danach kam nichts mehr.
Anne hatte nicht vor, die Namen zu nennen. Sie wollte nur sagen: „Leute, vergackeiern kann ich mich selber.“ Anne hielt es schon für richtig, dass Lob in die Öffentlichkeit gehörte, die Kritik dagegen eine private Angelegenheit war. Sie wollte nur allgemein erfahren, ob nur sie dieses „Nein“ ohne zusätzliche Aufforderung gern hören würde. Das anfängliche „Ja“ erzwang sie auch bei niemandem. Ein heikles Thema. Anne konnte immer noch nicht entscheiden, ob sie wieder mal mit ihren Überlegungen loslegen wollte, oder doch lieber den Mund halten sollte. Die Entscheidung schob sie bis auf Weiteres auf. Sie erinnerte sich an einen alten Werbeslogan über die flexiblen Dr.-Best-Zahnbürsten: „Die klügere Bürste gibt nach.“ Anne behauptete nie, dass sie klüger, als wer auch immer, war.
Anne lebte in der Reha wieder auf. Sie konnte Informationen, Gedanken, Gefühle mit anderen austauschen: das vermisste sie sonst in ihrer gewöhnlichen Umgebung. Mit ihrem Mann waren mittlerweile alle Themen ausgiebig besprochen. Sie konnten schon langsam mit Nummern versehen werden. Dann wäre die Unterhaltung noch kürzer. Man müsste nur ankündigen: „Das Thema Nummer drei“ oder „Der Witz Nummer elf.“ Das meinte Anne nicht ernst. Jeder Witz besteht bekanntlich nur anteilig aus einem Witz. Die Kommunikation mit der Außenwelt fehlte in der letzten Zeit. Dafür waren die Meinungsunterschiede verantwortlich. Chris und Anne wollten Konfrontationen mit anderen vermeiden und fingen keine grundlegenden Diskussionen an. Der Krieg in Annes Heimat ging weiter. Es zeichneten sich vereinzelte Erfolge ab. Es war aber noch keine Wende absehbar, geschweige ein Ende. Daraus resultierten öfter die unerwünschten Diskussionen bezüglich der Flüchtlingspolitik. Der enge Bekanntenkreis wurde immer enger. Chris und Anne fraßen alles in sich hinein und kochten sozusagen im eigenen Saft. Das machte auf Dauer keinen Spaß mehr. Sie fühlten sich in ihrem schönen Haus wie in einem goldenen Käfig eingesperrt.
Jeder ist Schmied seines eigenen Glückes oder Unglückes. Chris und Anne entschieden sich für einen Ortswechsel und waren seit geraumer Zeit dabei, ihr Haus samt den Hof zu verkaufen. Anne freute sich auf ihre Rückkehr nach der Reha. Der Notartermin stand fest. Langsam begann die Zeit der intensiven Suche nach einer Mietwohnung. Chris und Anne freuten sich auf einen neuen Abschnitt in ihrem Leben und hofften das Beste. Es stand eine spannende Zeit bevor. Während der Reha sammelte Anne die Kräfte dafür.
Heute beschäftigte sich Anne mit der Frage, ob sie in ihre Malerei vor der Realität floh, oder in ihrer heilen Welt ihre Energie und Kraft pumpte, sozusagen ihren Akku auflud. Für Anne waren beide Sichtweisen richtig. Sie sah keine Not, sich unbedingt für etwas zu entscheiden. Sie floh in die Malereiwelt, um ihren Akku aufzuladen. Die Kunst machte es möglich.
Die jüngste Musiktherapierunde gab Anne Kraft und Zuversicht. Das war ein Durchbruch. Sie fühlte sich mit ihren Selbstausdrucksbedürfnissen und Austauschbemühungen wohl in dieser Runde. Das war eine geniale Idee, Musikinstrumente in eine Psychotherapiegruppe zur Hilfe zu nehmen, ein Musikinstrument sprechen zu lassen, wenn man selber nichts sagen mochte. Das war auf jeden Fall eine Option, die drückende Stille des etwas längeren Schweigens der „Lämmer“ zu unterbrechen. Und man musste dabei kein begabter Musiker sein. Am besten wäre es sogar, gar keine Ahnung auf diesem Gebiet zu haben. Oder so wie Anne, schon vergessen zu haben, was sie als Kind mal gelernt hatte.
Es war verblüffend, mitzuerleben, wie sich aus einer Kakophonie am Anfang allmählich ein interaktives Agieren entwickelte. Zum Schluss entstand eine Art gemeinsames Musikstück, auch wenn es sich nicht unbedingt wohlklingend anhörte, zumindest nicht im klassischen Sinne. In diesem Stück ging es nicht um die Noten. Die gemeinsame Energie war wichtig. Die Energie, die sich akkumulierte.
Im Anschluss durften alle Beteiligten das Erlebte in Worte fassen. Anne überraschte, dass es allen so leicht fiel. Es lebe der Erfinder der Musiktherapie! Die Musiker müssten allerdings fähig sein, in einem Orchester zu interagieren.
Anne verstand langsam die Schwerpunkte der Psychosomatik. Dem Patienten musste beigebracht werden, seine Krankheit zu lokalisieren, sich dazu zu bekennen, nach Ursachen zu suchen, sie möglichst zu neutralisieren oder gar zu beseitigen, im Zweifelsfall nicht dauernd gegen Windmühlen zu kämpfen, sondern womöglich die eigene Einstellung zu ändern.
Beim stressigen Job mussten Abläufe geändert werden. War das unmöglich, müsste der Job eventuell ganz aufgegeben werden. Mit keinem Geld der Welt konnte man Gesundheit erkaufen. Nach dem eigenen gesundheitlichen Versagen war man zack weg vom Fenster.
Beim Stress in der Familie könnte man Ordnung mit einem klaren „Nein“ schaffen, wenn das Wasser bis zum Hals stand. Eine faire Aufgabenumverteilung nutzte auch schon mal. Bei Untreue wäre der Übeltäter zu beseitigen. Aus welchem Lager auch immer. Nach eigenem Ermessen. Unartige Kinder würden einen leichten Klaps auf den Po bekommen und sich unverzüglich den Hausaufgaben widmen.
Unheilbaren Krankheiten wurden möglichst so therapiert, dass ihre Flamme nur ganz langsam vor sich hin flackerte. Jeder Tag wurde zelebriert und dafür dankend gelebt, dass er nicht der vorletzte war.
Wie ginge man mit einem Eroberungskrieg in der Heimat um? Wie therapierte man die verheerenden Wirkungen von Luftangriffen, zerstörten Wohnhäusern, Kliniken und anderen Zivilobjekten? Wie therapierte man die Erkenntnis, dass der eigene Schwager seit mehreren Monaten verschollen war, und die Unkenntnis darüber, ob er an seinem Geburtstag ein Jahr älter geworden war? Wie therapierte man den Gedanken, dass der eigene Vater wie üblich am Fenster sitzen konnte, während die Glasscheibe durch einen Raketeneinschlag zerbrach und ihn mit Splittern verletzen konnte? Gott sei Dank war er zur richtigen Zeit am anderen richtigen Ort. Wie beseitigte man den Krieg? Wie änderte man die eigene Einstellung dazu? Wie verbannte man die Angst um die engen Verwandten im Krieg? Wie therapierte man die eigene Hilflosigkeit? Die Fragen blieben nach jeglicher Therapie für Anne offen.
Das, was uns nicht umbringen konnte, härtete uns ab. Ob das stimmte, war fraglich. Hoffentlich machte das uns nicht endgültig zu einem Wrack. Der Mensch war so konzipiert, dass seine Wunden früher oder später heilten. Die Narben blieben. Unsere Narben waren die Mahnmale und Stoppschilder. Die höchste Leistung in unserem Leben wäre, kein zweites Mal auf eine Harke zu treten. Es lohnt sich nicht, wiederholt zu überprüfen, ob der Stiel genauso schnell und mit der gleichen Wucht hoch kommt und auf die Birne schlägt. Ein Idealfall wäre es, selbst mit einer Harke nie etwas zu tun zu haben, sondern sich auf Erfahrungen anderer zu verlassen.
Anne konnte die Frage wirklich für sich nicht beantworten, ob sie von Anfang an auf die Warnung von der „brotlosen Kunst“ hätte hören sollen oder doch ihre eigene Erfahrung machen musste. Am Anfang schien es einen Versuch wert zu sein, sollte sie auch nur ein einziges Bild verkaufen. Sie verkaufte mehr als eins, jedoch immer noch nicht genug, um über „tägliches Brot“ sprechen zu können. Sie bemühte sich, vielen Geschmäckern zu entsprechen, und produzierte Unmengen an Bildern. Es ist ihr offensichtlich nicht gelungen, „DAS“ zu erschaffen, was gesucht wurde. Langsam kam Anne zum Entschluss, „DEN“ zu suchen, der zwischen zig vorhandenen Bildern „DAS“ für sich finden konnte. Anne entschied sich für das ursprüngliche Nur-für-sich-selbst-malen. Und sollte dieses oder jenes Bild jemandem gefallen, durfte derjenige es auch erwerben. Anne wollte auf keinen Fall sich selbst in der Bildermasse verlieren. Die übermäßig breite Palette an Techniken und Motiven musste reduziert werden. Es war an der Zeit, ihre eigene Nische zu finden. Es war die höchste Zeit. Anne war froh, ihre gedanklichen Nudeln zumindest auf diesem Gebiet etwas sortiert bekommen zu haben.
Anne erinnerte sich an den Text auf der Verpackung in einem Krims-Krams-Laden. Das war schon etwas länger her. „Ich glaube, ich hatte dort etwas Dekoratives für meine Blumen-terrasse gekauft“, dachte Anne laut. „Gut, dass ich damals ein Foto gemacht habe.“ Die Verpackung war natürlich längst entsorgt. „Leben ist das mit der Freude und den Farben. Nicht das mit dem Ärger und dem Grau“, las Anne den Text auf dem Foto. Auch wenn die optimistische Idee der Zeilen völlig verständlich war, stimmte Anne dem un-bekannten Autor nicht ganz zu. Das Leben war nämlich alles: die Freude und der Ärger und das mit allen möglichen Farben. „Seit wann ist das Grau keine Farbe?“, zuckte Anne mit den Schultern. Sie hatte sich nämlich vor Kurzem eine Bilderserie überlegt, wo überwiegend Graustufen im Spiel waren. Sie weigerte sich, ihre neuen Motive als leblos zu betrachten.
Die Zeit lief schnell. Die fünfte, „malfreie“ Woche ging zu Ende. Auch die Reha näherte sich dem Ende. Anne überlegte sich, welche ihrer Sorgen sie in der letzten Gruppentherapie loswerden könnte. Wie bestellt ergab sich ein Vorfall im Speisesaal. Eine neue Tischnachbarin wollte nach der ersten gemeinsamen Brotzeit zusammen mit Anne unbedingt den Tisch wechseln: „Merkst du, wie es hier zieht?“ Anne merkte es nicht. Sie hatte durchaus mitgekriegt, dass Heike, die vorher mit am Tisch saß und mittlerweile abgereist war, immer ein Jäckchen mit sich führte. Anne selbst empfand den Luftzug im Speisesaal nicht als Tornado und daher nicht der Rede wert.
„Und dann grübelte ich den ganzen Abend lang, ob es wirklich der Luftzug war? Oder passte der Frau meine Gesellschaft nicht?“, trug Anne in der Gruppenrunde am nächsten Tag vor. „Und diese unverzügliche Umsetzung ihres Vorhabens noch dazu. Aufgeschoben auf den nächsten Tag wäre es für mich schonender gewesen.“
Daraufhin entwickelte sich eine rege Unterhaltung. Viele konnten sich an eine ähnliche Situation aus dem eigenen Leben erinnern. Die objektive Einschätzung der Gruppenmitglieder neigte eher zu der eigentlichen Ursache und zwar dem Windzug. Keiner aus der Gruppe wollte es versäumen, Anne aufzumuntern und ihre allen sympathischen Eigenschaften hervorzuheben. Anne durfte ungeplant zum Abschied die besten Rezensionen sammeln. Ihre Psychologin hob die nette Art von Anne als Bereicherung für Gruppensitzungen hervor. Besser hätte die Abschlussrunde nicht laufen können. Anne fühlte sich geschmeichelt und um mindestens einen Zentimeter gewachsen.
Dadurch inspiriert wollte sich Anne noch für jeden aus der Gruppe ein kleines, nettes und unbedingt symbolisches Geschenk überlegen. Die Idee kam auch ganz spontan. Und schon packte sie für jeden ein Teelicht in Geschenkpapier ein. Der Hersteller von Teelichtern versprach auf der Verpackung eine Brennzeit von vier Stunden. Das passte perfekt. Anne versah jedes Geschenk mit der kurzen Notiz „noch vier Stunden mit mir“ (also solange das jeweilige Teelicht brannte). Anne war selbst von ihrer Idee begeistert. Das war ein perfektes „Happy End“.
Epilog
„Malt Anne?“, fragte Klaus am Telefon.
Annes Mann Christian stellte sein Handy auf laut.
„Klar.“
„Grüß schön.“
„Danke, du auch. Bis zum nächsten Mal.“