Nur ein kleiner Schritt

Markus Veith

Mitglied
Die S45 fuhr ein. Auf den Schienen der Station Bromfelde kreischte Eisen auf Eisen. Die Türen öffneten sich jedoch nicht. Die Bahn verweilte einige Zeit, aber die Fahrgäste blieben auf ihren Sitzen und beschäftigten sich mit Kleinigkeiten und sei es nur mit stupiden Schauen aus den fahrtwindschmutzigen Fenstern. Dann fuhr der Zug anstandslos weiter. Das übliche, unangenehm schrille Intervallpfeifen blieb den Insassen erspart.
Am Ende des Bahnsteiges saß eine junge Frau. Sie trug einen hellen Herrenmantel und zwischen ihren Füßen stand eine lederne Tasche. Sie hatte dort bereits gesessen, als die Bahn eingefahren war. Der Zugführer hatte sie durch sein Schiebefenster mit einem befremdlichen Blick gemustert und erwartet, daß sie nun aufstehen und in seine Bahn steigen würde, doch sie hatte still und regungslos weiterhin die drei Monitore angestarrt. Sie hatte sich dazu umdrehen müssen, da sie hinter ihr hingen. Nebeneinander an die Decke montiert zeigten sie in schwarzweißen Bildern, was die Überwachungskameras beobachteten.
Die Station war so aufgeteilt, daß nicht die Schienen die Bahnsteige trennten, sondern dieser in der Mitte lag und die Bahnen rechts und links an ihm vorbeifuhren. Der geflieste Boden war verschmutzt und verstaubt. Zur Zeit wurde auf diesem Teil der Strecke nur ein Gleis genutzt. Die Schienen Richtung Vorderloh waren durch Baustellenverkehr blockiert und die Züge konnten daher nur auf einem Bahnsteig einfahren. Der Fahrplan war deshalb extra umgestellt worden. Die Kameras und die Monitore, die den Zugführer der aus Vorderloh kommenden Bahnen zeigten, wann sie die Türen schließen konnten, waren herumgedreht und so ausgerichtet worden, daß sie nun ausschließlich den befahrenen Bahnsteig beobachteten.
Noch vor wenigen Monaten hatte sich in unmittelbarer Nähe der Haltestelle Bromfelde ein Hochhaus befunden. Aber ein Feuer hatte großen Schaden angerichtet. Nun war es abgerissen und noch nicht wieder aufgebaut worden. Seitdem die nähere Umgebung eine Großbaustelle war und ein Großteil der Leute, die in dem Hochhaus gewohnt hatten, nicht mehr da waren, war auch die S-Bahn-Station nun meistens verwaist. Die Züge fuhren aber zur Endstelle Vorderloh unvermindert häufig hier durch. Jedoch konnte man die Fahrgäste, die momentan am Tag in Bromfelde ein- oder ausstiegen, an zwei Händen abzählen. Der Bahnsteig lag meist unbenutzt und wie ausgestorben da. Laut Bauleitung sollte sich das auch noch eine ganze Zeit nicht ändern.
Die junge Frau lauschte auf das leise Sirren der sich entfernenden Bahn. Sie wußte, das die nächste S45 aus der entgegengesetzten Richtung in fünfzehn Minuten kommen würde. Der Zeiger der weißen Uhr knarrte eine schwarzen Strich weiter. Einige Zeit noch starrte sie die Monitore an. Die Bilder waren die gleichen wie vor zwei Minuten. Auf den Mattscheiben war nichts zu sehen, außer den regungslosen, etwas unscharfen Bilder des leeren Bahnsteigs, aus drei verschiedenen Blickwinkeln gefilmt von simplen Kameras, die an drei Punkten an der Decke festmontiert waren. Einer der Bildschirme zeigte eine junge Frau, die auf den Plastiksitzen saß. Sie trug einen hellen Herrenmantel und zwischen ihren Füßen stand eine lederne Tasche. Müde hing der Blick der junge Frau auf den Monitoren. Sie beobachtete die Frau auf dem Bildschirm, aber die rührte sich nicht und schaute nur an ihr vorbei, als könne sie sie nicht sehen.
Sie war schon recht lange hier. Vor einer guten Stunde war sie zusammen mit ungewöhnlich vielen Leuten die Treppe herabgekommen. Aber als die Bahn in Richtung Innenstadt eingefahren war und die anderen Leute sich ins Innere des Abteils begeben hatten, war sie auf dem Bahnsteig geblieben. Die Bahn war ohne sie weitergefahren. Sie hatte stumm auf die Schienen geschaut und gewartet, bis wieder Stille war. Dann war sie einmal den Bahnsteig entlang gegangen, hatte sich am anderen Ende in eine der Plastiksitzschalen gesetzt, ihre Tasche zwischen die Beine gestellt und hatte gewartet. Dies war nun schon die dritte Bahn gewesen, die seitdem hier durchgefahren war und es war nichts weiter geschehen.
Nichts weiter. Bis jetzt.
"Hallo."
Sie hatte nicht geflüstert. Auch nicht gerufen. Sie hatte nur gesprochen. Niemand antwortete. Es war niemand da, der hätte antworten können. Sie winkte kurz zu den Monitoren hinauf, aber die Frau, die dort in dem einen, in dem linken Bild saß, schien sie nicht zu beachten. Im Gegenteil. Sie winkte in diesem Moment auch, aber wohl nicht zu ihr, sondern an ihr vorbei in eine andere Richtung, zu jemanden, den die junge Frau nicht sehen konnte.
"Hallo." Der zerbrechliche Klang hallte nur wenig in dem großen Raum und in dem schwarzen Maul des Tunnels. Die junge Frau lauschte, wie ihre Stimme in der Stille versiegte. "Ich ... ich würde mich gern beschweren", sprach sie in die einsame Luft. Sie lauschte, als erwartete sie, daß ihr jemand antwortet.
"Ich wollte schon längst zu Hause sein. Meine Mutter wird sich Sorgen machen. Ich war heute morgen im Einkaufszentrum Bahlefeld." Sie lächelte. "Ich habe mir einen neuen Bluse gekauft. - Synthetik", fügte sie etwas schuldbewußt hinzu. "Aber runtergesetzt. Auf fünfzig Mark. In weiß und ein bißchen durchsichtig, aber ich kann ja was drunterziehen."
Sie griff nach ihrer Tasche, hielt dann aber inne, winkte kurz ab und lehnte sich wieder zurück. Ihr heller Mantel rauschte leise.
"Ich wollte eigentlich noch weiter gucken, aber ich mußte zurück. Meine Mutter wartet. Sie wird immer schnell ungeduldig und es ist besser, sie nicht warten zu lassen. Als ich zurückgefahren bin, hielt die Bahn an der Haltestelle Nöllingen. Da wo die große Plakatwerbung von der Telekom an der Wand ist. Mit diesem Rennfahrer drauf. Aber die Bahn wartete lange. Sie blieb einfach weiterhin stehen.
Mir gegenüber saß ein Mann. Er war schon älter, hatte dünne Haare und viel Stirn und so. Der las Zeitung. Eine Sonderausgabe zum Millennium war mit dabei. Manchmal las ich von der anderen Seite mit. Aber nicht viel. Mir wird immer übel, wenn ich beim Zugfahren lese. Ich kann auch nicht mit dem Rücken in Fahrtrichtung sitzen. Da wird mir auch immer schlecht. Ich stehe dann schon lieber, wenn nichts in Fahrtrichtung frei ist. Der Mann wurde schon unruhig, weil es so lange dauerte und die Bahn immer noch nicht weiterfuhr. Er nuschelte auch irgendetwas, was ich nicht verstand und guckte immer auf seine Uhr und schaute hinter sich, ganz bedrohlich, als ob es dort etwas zu sehen oder zu bedrohen gäbe, außer die Leute die auch warteten, daß es weiterging.
Aber der Zug blieb stehen, trotzdem sich der alte Herr mit seiner Zeitung immer öfter umdrehte und bedrohlich guckte.
Dann kam plötzlich eine Durchsage. Der Lautsprecher sagte, der Zug könne hier nun auf unbestimmte Zeit nicht mehr weiterfahren, da es auf der Strecke einen ..." Sie runzelte die Stirn und dachte kurz nach. "... einen Personenschaden gegeben habe. Ja. Und der Lautsprecher bat um Verständnis." Sie nutzte eine Pause um mit einem der losen Knöpfe an dem hellen Herrenmantel, den sie trug, zu spielen. "Personenschaden. Ja. So hat der Lautsprecher es genannt. Personenschaden." Der Knopf, der nur noch an wenigen Fäden hing, riß ab. Die Frau hob nur kurz die Brauen und steckte den Knopf dann in eine Innentasche.
"Alle Fahrgäste stöhnten genervt auf. Einige nahmen sofort ihre Jacken oder Taschen und verließen wütend das Abteil. Der alte Herr mir gegenüber zeterte irgendetwas sehr, sehr ... Abfälliges über die Deutsche Bahn. Das das ja immer schlimmer werden würde und so. Aber nicht nur das. Er sagte noch mehr.
Ich machte mir Sorgen um meine Mutter. Nun würde ich ohne Zweifel viel zu spät kommen und sie würde sich wiederum Sorgen um mich machen. Meine Mutter macht sich immer Sorgen um mich, aber ich glaube, daß sie sich die nur deshalb macht, weil sie meint, daß es ihre Aufgabe ist, sich Sorgen zu machen. Sie ermahnt mich oft und viel. Da kann ich ihr noch so oft sagen: Mutter, sage ich oft, du brauchst dir keine Sorgen um mich ... na ja. - Sie ist halt meine Mutter." Wie um sich zu entschuldigen hob sie kurz die Schultern.
"Ich stieg dann auch raus. Und da sah ich, daß einige der Leute zu dem Fahrer nach vorne gegangen waren. Der lehnte aus seinem Fenster und sprach mit ihnen. Der alte Herr war mit mir ausgestiegen und ging nach vorne. Da bin ich dann einfach hinterhergegangen. Ich war ja auch neugierig, was da wohl geschehen sein mochte. Danach fragte der alte Mann auch und der Fahrer - ein freundlicher Mann, muß ich ja sagen, ganz ruhig war der und lächelte - der jedenfalls beruhigte den alten Herrn, der sehr aufgebracht war und schimpfte. Der Fahrer sagte zu ihm, er solle sich doch bitte nicht so aufregen, er, also der Fahrer, könne doch auch nichts dafür. Da habe wohl irgendwo wieder einer auf den Schienen gelegen und die Bahn war drübergefahren. Und jetzt müßten erstmal die Leute, die Polizei und die alle da nunmal kommen und gucken müßten, die müssen jetzt erstmal alle rauskommen und die Reste wieder wegräumen. Reste, das hat der Fahrer gesagt. Und dann hat er noch breit gegrinst und gesagt, schließlich könne man da jetzt nicht so einfach über einen halben Menschen drüberfahren. Einige der Leute lachten und sogar der alte Herr schmunzelte und da sagte der Fahrer noch, och, er könne schon, aber man ließe ihn sicher nicht. Daraufhin lachten wieder alle. Ich auch. Er hatte so etwas Komisches in der Stimme, sodaß man einfach lachen mußte. Ja, ja, sagte da der alte Herr, das käme nun zum Jahrtausendwechsel sicher recht häufig vor, oder? Er hätte das eben noch in der Zeitung gelesen. Man befürchte nun, sagte er, je näher die Tage zum Jahresende rücken, daß es da ganz viele Selbstmordfälle geben könnte. Weil alle Angst haben, es könne dann sowieso zu Ende sein, sagte er, und alle würden das befürchten, und würden jetzt schon vorzeitig Sylvester machen. So sagte er das: Die machen jetzt alle schon vorzeitig Sylvester und lassen's knallen. Ja. Und der Fahrer sagte dann, aber er lachte da nicht mehr und seine Stimme klang auch nicht mehr so komisch, daß es hieße, daß jeder Zugführer, also laut Statistik, daß da jeder Zugführer schon einen Selbstmörder auf den Schienen überfahren habe. Und weil er nicht lachte, lachten auch die anderen, die da standen, nicht. Tja, so sagte er dann auch noch und grinste wieder und zuckte mit den Schultern, tja, da sei er ja wohl mal wieder zu spät gekommen. Jetzt hätte er erstmal Pause und der Bernd aus der S56 vor ihm hätte sich wohl seinen Platz in der Statistik weggeschnappt. Das könne jetzt noch ganz schön dauern. Da lachten dann wieder alle.
Ich ging zurück und schaute auf den Fahrplan. Aber das bringt ja nichts, dachte ich mir da, wenn das Gleis ja sowieso durch diese Bahn besetzt ist. Man kann die Bahn ja nicht so einfach von den Schienen runterheben. - Und man kann ja nicht so einfach über einen halben Menschen drüberfahren. Der Fahrer, nun ja, er könnte schon, aber man ließ ihn ja nicht.
Da waren Telefonzellen an der Haltestelle. Ich hatte aber keine Karte. Münzen hätte ich gehabt, aber die nutzen einem ja nichts mehr. Ich wollte meine Mutter anrufen und ihr sagen, daß ich später komme. Sie macht sich immer so schnell Sorgen. Ich sah, wie dieser nette Rennfahrer mich mit seinem Handy anlächelte. Aber ich hatte ja kein Handy. Das hätte ich nun gerne gehabt. Mobil ins Millennium. Darüber hätten die Leute sicher auch lachen können. Tja."
In einem Kasten, der in der Mitte der Station an die Decke montiert war, flappte es und die Frau schaute hin. Die Anzeigetafel kündigte die Bahn Richtung Innenstadt an. In einem der Felder stand, wann sie zu erwarten war. In 5 Min. Gleis 2. Es ging nur auf Gleis 2.
Die junge Frau stand auf und ging langsam den Bahnsteig entlang. Die lederne Tasche ließ sie bei den Sitzen stehen.
"Ich mußte mir dann eine Alternativverbindung suchen und eine ältere Dame half mir dabei. Es war eine komplizierte Verbindung mit Busse und Straßenbahnen und mit drei Mal umsteigen und einigem Warten. Ich habe es mir aufschreiben müssen. Ich kann mir sowas schlecht merken. Das konnte ich noch nie." Sie kramte beiläufig in ihrer Jackentasche und holte einen zerknitterten Kassenbon heraus. "16:30 mit dem 462er nach Holsterfing in die Hallinger Straße, da dann in die U79 nach ... hm ..." Der Kassenbon wurde zerknüllt und in einen Behälter geworfen, auf dem Ascher stand. Die Anzeigetafel flappte kurz und noch einmal, als die junge Frau endlich am anderen Ende des Bahnsteigs stand. 2 Min.
Den ganzen Weg über hatte sie die Monitore, die auf dieser Seite hingen, nicht aus den Augen gelassen. Sie hatten einige junge Frauen gezeigt, die langsam durch die Bilder schlenderten. Nun wandte sie den Bildschirmen den Rücken zu. Ihre Schuhspitzen grenzten ganz knapp an der Bahnsteigkante.
"Es ist nur ein kleiner Schritt, nicht wahr? Ich denke oft daran, wenn ich an einer Haltestelle warte und auf die fortgeworfenen Zigarettenkippen schaue. Und ich muß oft an Haltestellen warten. Ich habe kein Auto. Ich durfte keinen Führerschein machen. Zu gefährlich, sagten die Ärzte. Aber der Gedanke kommt mir oft. Es ist nur ein ganz kleiner Schritt. Man braucht nicht einmal hinzusehen."
Nachdenklich schaute sie in den Tunnel Richtung Vorderloh, der etwa fünfzig Meter von ihr entfernt in einem undurchdringlichen Dunkel verschwand. Die Wand drumherum sah gelangweilt aus, als ob sie gähnte.
Die Anzeige flappte. 1 Min.
"Aber ob der Schwung der Bahn wohl noch reichen würde? Wenn sie hier hereinfährt bremst sie doch schon. Wahrscheinlich wird man zwar überfahren, aber man lebt dann noch. Das wäre peinlich. Nichts ist peinlicher, als ein mißglückter Selbstmordversuch. Man wacht im Krankenhaus auf, mit Verbänden an allen Gliedmaßen, die Geräte, an denen man angeschlossen ist, fiepen leise und man sieht nur noch Gesichter, in denen Mitleid leuchtet wie die Buchstaben einer Außenwerbung." Sie drehte sich um und sah die Monitore an. Die junge Frau war aus ihren elektronischen Blicken verschwunden. Ihre Schuhabsätze ließen etwas Staub in den Schienengraben rieseln.
"Aber es kann funktionieren", sprach sie zu den Monitoren hoch. "Es wäre nur ein ganz kleiner Schritt. Bei dem Menschen heute hat es auch funktioniert. Der war schlau. Hat sich auf offener Strecke überfahren lassen, wo die Züge am schnellsten und gründlichsten sind. Gar nicht so dumm. - Hier bringt es wohl nicht viel. Die Bahn wäre zu langsam. Würde nur peinlich werden, wenn es nicht klappt.
Man müßte dort hinten stehen, gleich nebehn dem Tunnelausgang, wo die Bahn noch genug Tempo hat und der Fahrer nicht richtig in die Station sehen kann. Ein ganz kleiner Schritt nur. Aus der Bewegung heraus. Ganz nah. Ohne großen Aufwand, ohne viel Nachdenken. Einfach ein weiterer Schritt und schon ist man im Jenseits. Ich denke sehr oft daran, wenn ich an Haltestellen stehe. Es ist als ob die Zigarettenstummel dort zwischen den Schwellen einen rufen."
In diesem Moment ertönte ein leises Sirren. Auf der Anzeigetafel erschien ein Sofort! Noch war das Sirren entfernt, kam aber rasch heran. Die junge Frau ließ den Blick nicht von den drei Monitoren. In dem Linken wallte Licht in dem schwarzen, gelangweilt gähnenden Fleck auf. Zwei helle Augen schauten um eine in der Dunkelheit liegende Biegung. Dann schob sich der Zug aus dem Tunnel.
"Er bremst schon", flüsterte die junge Frau. "Und jetzt doller." Ein Kreischen von Eisen auf Eisen war zu hören. "Zehn, neun, ..."
Die Bahn erschien im zweiten Bildschirm.
"... acht, sieben, sechs ..."
Der Triebwagen durchfuhr den dritten Monitor.
"... fünf, vier, drei ..."
Die Frau trat einen Schritt vor.
"... zwei, eins ..."
Die S45 hielt.
"Null."
Die Bahn verweilte einige Zeit, doch die Türen öffneten sich nicht. Die Fahrgäste blieben auf ihren Sitzen und beschäftigten sich mit Kleinigkeiten und sei es nur mit stupiden Schauen aus den fahrtwindschmutzigen Fenstern. Der Zugführer warf einen Blick aus seinem Schiebefenster und musterte die junge Frau, die vor ihm auf dem Bahnsteig stand mit einem befremdlichen Blick, als erwarte er, daß sie in seinen Zug einsteigt.
"Wollen Sie mit?" fragte er.
"Es ist nur ein kleiner Schritt, ich weiß", sagte die Frau. "Meine Mutter wird mich sicher ermahnen."
Der Zugführer blinzelte irritiert. "Na, dann schaun Sie mal, daß Sie nach Hause kommen. Es ist schon dunkel. Die Sorge ihrer Mutter ist berechtigt."
"Die Sorge meiner Mutter ..." Die junge Frau kicherte ein bitteres Lachen und schüttelte den Kopf. "Nein, noch nicht. - Guten Rutsch ins neue Jahrtausend. Kommen Sie mobil ins Millennium."
Der Bahnführer runzelte die Stirn, lächelte verkniffen und schob dann sein Fenster zu. Der Zug fuhr weiter. Das übliche, unangenehm schrille Intervallpfeifen blieb den Insassen erspart. Nach einer Weile verlor sich das Sirren, immer leiser werdend, in der finsteren Tiefe des Tunnels.
"Sie hat sich nie wirklich Sorgen gemacht", sagte die junge Frau zu den Monitoren hinter ihr. "Es waren ja zuerst nur Schnitte. Nicht weiter gefährlich. Mit dem Rasiermesser in den Oberarm." Sie knöpfte ihren Mantel zu. "Es ist kalt nachts um diese Jahreszeit. Wenn man nichts anhat." Schmunzelnd steckte sie die Hände in die Taschen. "Mein Gott, was war ich dumm. Ich dachte, ich könnte erfrieren und später, in einem neuen Jahrtausend, wieder aufwachen. Hätte ich mir doch denken können, daß das auffallen mußte. So einfach nackt durch die Stadt zu laufen ..." Sie kicherte. "Das macht man doch nicht. Und dann der verrückte Gedanke, es könnte klappen, wenn man einfach die Luft anhält. - Aber ich war ja noch jung. Peinlichkeiten heilen."
Die junge Frau schlenderte zurück zu den Sitzen, wo ihre Tasche stand. Sie nahm sie an den ledernen Riemen hoch und ging zu einem der Sitze, die dem anderen, dem zur Zeit nicht befahrenen Gleis zugewandt waren. Dabei kramte sie im Inhalt des Beutels und holte schließlich ein Paket Taschentücher hervor. Sie wischte mit einem Tuch über die verstaubte Sitzfläche und die Rückenlehne, bis das chlorgebleichte Weiß schmutzig grau war, warf dann das Tuch ordentlich in den Abfalleimer neben den Sitzen und setzte sich. Die Ledertasche hatte sie sich wieder zwischen die Füße gestellt.
Ihr Blick wanderte zu den umgedrehten Monitoren an der Decke. Es war kaum etwas zu sehen. Leere Gleise. Und eine Frau, die den rechten Bildschirm zierte. Aber sie schaute an der Frau, die auf den Sitzen saß, vorbei, als würde sie sie nicht sehen können.
Die junge Frau blickte nachdenklich nach oben. Plötzlich stand sie wieder auf und zog ihren hellen Mantel aus und legte ihn über den Sitz. Dann streifte sie den flusigen Pullover, den sie darunter trug, über den Kopf. Dann ein weißes T-Shirt. Darunter trug sie einen einfachen BH. Sie nahm ihre Umhängetasche und holte ein weißes Kleidungsstück heraus. Es war eine Bluse. Ein mit Rotstift übermaltes Preisschild hing am Kragen. Die junge Frau knöpfte die neue Bluse auf und wollte sie sich gerade überziehen, da verharrte sie.
Einen Moment. Zwei.
Sie schaute zu den Monitoren. Auch die Frau dort hatte sich entkleidet. Sie legte den Kopf schief und betrachtete sie.
Einen weiteren Moment. Zwei weitere.
Daraufhin legte sie die Bluse auf ihre anderen Kleidungsstücke und griff hinter sich, um den Verschluß ihres BHs zu öffnen. Sie merkte, wie ihre kleinen Knospen sich in der Kälte zusammenzogen. Dann zog sie sich die Bluse an, knöpfte sie sorgfältig zu und schaute wieder empor zu den Bildschirmen. Das Kameraauge ließ die kleinen dunklen Flecke ihrer Brüste unter dem dünnen, weißen Stoff nur schemenhaft erkennen.
"Steht ihnen gut. - Meinen Sie? - Doch, wirklich. - Ist es nicht ein bißchen eng obenrum? - Nein, finde ich nicht. Dürfte gar nicht kleiner sein. Können Sie sogar noch was drunterziehen. Brauch aber nicht. Können Sie sich doch leisten. Wollen Sie's gleich anlassen? - Ja, bitte. - M-hm. Ja, dann kommen Sie doch bitte mit zur Kasse. Ist auch runtergesetzt. Nur fünfzig Mark. Wollen Sie für Ihre anderen Sachen eine Tasche habe?"
Sie schaute auf den Pullover und das T-Shirt, die sie über die gesäuberte Sitzlehne gehangen hatte, wobei sie peinlich darauf geachtet hatte, sie nicht mit der dreckigen Umgebung in Berührung kommen zu lassen.
"Nein. Die lasse ich hier."
Pullover und Shirt stopfte sie in die Plastiktüte des Mülleimers. Auch den BH. Den Herrenmantel zog sie sich wieder über. Es war kalt in der winterlichen Station und sie zitterte, doch knöpfte sie den Mantel nicht zu.
"Mutti wird staunen", sagte die junge Frau als sie sich setzte. "Sie ermahnt mich häufig, ich solle mir doch mal endlich was Neues kaufen. Die ganzen, alten gammeligen Sachen von Papa solle ich doch mal endlich wegwerfen. Man müsse ja von uns denken, wir seien arm. Und jetzt zu Weihnachten wäre doch eine gute Gelegenheit, sich auch mal selbst was zu schenken. Es ist etwas besonderes, dieses Jahr. Es ist das letzte dieses Jahrtausends. Das ist ein großer Schritt. Und doch nur ein kleiner, weiterer. Wie aus der Bewegung heraus. Man würde ihn kaum bemerken, wenn er nicht so gefeiert werden würde. Solch einen kleinen, großen Schritt muß man feiern."
Sie wartete. Eine Weile betrachtete sie stumm die Frau auf dem Bildschirm, die dort einfach saß, die Hände in den Schoß gelegt.
Die Anzeigetafel flappte.
"Ob es wohl etwas besonderes ist, den kleinen, weiteren Schritt genau zum Jahrtausendwechsel zu machen? Das wäre doch eine Feier. Da muß sicherlich etwas ganz Außergewöhnliches geschehen. Die Letzte des Jahrtausends. Die Erste des neuen Millenniums. Man macht das Licht hinter allen anderen aus und knipst es doch vor allen anderen wieder an. In einem neuen Raum.
Aber wo fahren zu diesem Zeitpunkt welche Züge? Und fahren sie dann überhaupt noch. Das stand auch in der Zeitung des alten Herrn. Das stand in einem der kurzen Artikel, die ich auf der Rückseite gelesen habe. Aber ich konnte dann nicht weiterlesen, weil mir sonst schlecht geworden wäre. Es sei nicht sicher, stand da, daß dann überhaupt noch etwas funktioniert. Es könnte sein, daß dann alles still steht. Aber warum, das konnte ich nicht mehr lesen. Zu dumm. Das wäre ja peinlich. Wieder überall Mitleidsgesichter."
Wieder erklang das leise klappende Geräusch. Doch die Frau ließ ihren Blick nicht von den Monitoren. Das Geräusch kündigte auch die nächsten Minuten an. Schließlich war wieder das leise Sirren einer sich nähernden Bahn zu hören. Doch niemand war gekommen, in sie einzusteigen.
"Ich mag diesen Anblick. Die Züge sind wie eiserne Würmer, die sich durch die Fernseher fressen. Von links nach rechts, in einer Bewegung. Wenn sie den linken durchfressen haben, knabbern sie sich in das nächste Bild. Und ihre Augen leuchten dabei ganz hungrig. Es sind für sie nur kleine Schritte. Sie fressen schnell und werden satt und träge, je weiter sie kommen und brauchen länger für einen Fernseher." Sie nickte zu dem linken Monitor hoch. "Da kommt er. Er bremst. Guten Appetit."
Kreischen von Eisen auf Eisen.
"Zehn, neun, acht ... in den zweiten ... sieben, sechs, fünf, vier ... in den dritten ... drei, zwei, eins ..."
Die angekommene S45 hielt hinter der Frau auf dem Bildschirm.
"Null. - Schön, dich zu sehen."
Das Fenster der Bahn wurde zur Seite geschoben. Auf dem Monitor konnte die Frau einen schemenhaften Kopf erkennen, der durch den schwarzen Fleck blickte.
"Hallo! Junge Frau!" hörte sie eine Stimme hinter sich. "Junge Frau, das Gleis an dem sie da sitzen, wird zur Zeit nicht befahren. Wenn Sie nach Vorderloh möchten, dann müssen Sie hier einsteigen."
"Ich weiß", sagte sie, ohne sich umzudrehen. "Ich möchte auch nicht nach Vorderloh. Ich muß in die Innenstadt. Zu meiner Mutter. Sie wartet auf mich."
"Ah", machte die Stimme hinter ihr und sie sah, wie der helle Fleck in dem dunklen Loch die Schultern zuckte. "Na, dann ist ja gut."
Wenig später verschwand das Motorenrauschen der Bahn hinter der Biegung im Tunnel und das Sirren verebbte in der Finsternis. Die Frau war wieder allein. Sie saß da und beobachtete die Monitore und die Frau auf dem Bildschirm, die schweigend die Hände in den Schoß hielt und an ihr vorbeischaute. Die junge Frau fand, die junge Frau auf dem Bildschirm sehe sehr nachdenklich aus. Einige Zeit verging.
"Meine Mutter schreibt Kriminalromane." Ihre Worte kamen plötzlich. Hätte sich außer ihr jemand in der S-Bahn-Station befunden, wäre er sicher vor Schreck zusammengezuckt. "Sie ist eine kluge Frau. Eigentlich. Man lobt sie immer, daß sie eine großartige Art habe, alles sehr detailliert zu beschreiben. Daß eine Menge Leben in den Geschichten wäre, was grotesk sei, denn dies mache es den Lesern fast unerträglich, durch das gespannte Verfolgen der Handlung dieses Leben auf so grausame Weisen ins Jenseits zu schicken.
Siebzehn Romane hat Mutti bisher geschrieben. In jedem Jahr nach der Scheidung einen. Und immer waren es Männer, die in den Romanen starben. Mit jedem Buch wurden die Leichen auch immer ein Jahr älter. Sie hat in den Geschichten nie komplett beschrieben, wie diese Männer aussahen. Nur immer einzelne Kleinigkeiten. Das sei ein Stilmittel, sagt sie. So sollen die Leser sich selbst ein Bild von den Figuren machen. Aber eigentlich glichen sie sich alle. Seine Brille, seinen kleinen vorstehenden Papabauch ..." Sie kicherte in Erinnerungen. "Sein Haaransatz, der von Buch zu Buch höher und graumelierter wurde. Seine drollige Art, sich zu kleiden. Die flusigen Pullover, die ausgelatschten Schuhe, die langen Mäntel ... Aber sie beschrieb das alles nie so, wie es wirklich war. Die Figuren in ihren Büchern haben immer auch etwas Verabscheuungswürdiges. Niemand mag die Ermordeten. Niemandem tut es leid, wenn sie umgebracht werden. Und immer sind es Frauen, die Papa umbringen. Aber er hat sich nie bei Mutti beschwert. Vielleicht hat er ihre Bücher aber auch nie gelesen. Er hat sich nie besonders viel darum gekümmert.
Man hat mich damals gefragt, zu wem ich wollen würde. Zu Papa oder Mama. Aber Papa wollte nicht. Trotzdem er mich doch immer sehr gern ... na ja ... so lieb gehabt hat." Sie winkte lapidar ab. "Ich will nicht davon erzählen. Das würde zu lange dauern. Ich mußte es verstehen. Er hätte doch so viel zu tun und Ursula, seine Neue, mochte keine Kinder. Ich werde das schon noch verstehen, sagte er. Ich sei ja noch jung.
Ich gab mir Mühe. Wirklich.
Mama sagte dann später, verrückt zu sein sei zu simpel. Irre zu sein, sei immer ein schlechtes Alibi. Das würden die Leser nicht mögen. Das klänge immer wie eine schlechte Entschuldigung. Als sei der Autorin keine bessere Lösung für den Krimi eingefallen. Das ist mir später wieder aufgefallen. Sie sagten nie zu mir, ich sei verrückt. Ich war immer nur krank. Dabei fühlte ich mich gar nicht krank. Man sagte auch nie Klapsmühle oder sowas. Als ob es verboten gewesen wäre, irre, verrückt oder Klapsmühle zu sagen." Sie schmunzelte. "Schon komisch."
Die Anzeigetafel flappte auf 3 Min. Die junge Frau wartete noch eine Weile, stand dann auf und hängte sich ihre lederne Tasche über die Schulter. "Genug geredet", sagte sie. "Nun muß ich aber wirklich meine Bahn kriegen. Diesmal soll Mutti mich nicht ermahnen."
Es flappte wieder. 2 Min. Die junge Frau ging um die Sitze herum zu dem Gleis und blieb dicht an der Bahnsteigkante stehen. Direkt links neben ihr gähnte das dunkle Loch des Tunnels, in dem die Schienen hinter einer Biegung, die man kaum sehen konnte, verschwanden.
"Zehn Sekunden. Wie beim Jahrtausendwechsel. Man zählt rückwärts uns schon ist man drüben. Es ist nur ein kleiner Schritt. Aus der Bewegung heraus getan. Man merkt ihn gar nicht."
Die Anzeigetafel flappte. Ein leises Sirren flüsterte in dem Tunnel.
Die junge Frau schaute herab. "Es ist ziemlich schmutzig dort unten. Diese vielen Zigarettenkippen. Es gibt doch Ascher. Meine schöne neue Bluse. Mutti wird sauer werden. Jetzt hab ich mir schon mal ein neues Hemd gekauft ..."
Sie wandte sich noch einmal zu den Monitoren um, zu der Frau, die auf dem Bildschirm am Bahnsteig stand. Der verdrängte Wind aus dem Tunnel ließ den hellen Stoff des offenen Herrenmantels und des weißen Hemdes wehen.
"Es war schön, sich mit Ihnen zu unterhalten."
Sie winkte dem Monitor kurz zu und die Frau winkte im selben Moment zurück. Dann flappte die kleine Klappe der Anzeigetafel auf Sofort!
 
G

Guest

Gast
Zuerst ging es (für mich) im Zak-Zak Rhytmus. Ab "meine Mutter schrieb ..." war es besser, die Sprache wurde plötzlich weicher, flüssiger und (ich muss das sagen) die Geschichte teilt sich in zwei Geschichten. Oder wolltest Du so?
 



 
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