Nur Vizemeister

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Klaus K.

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Sein Kopf brummte wie ein Bienenschwarm. Nur mit Mühe öffnete sich sein linkes Augenlid. Mein Gott, was hatte er nur getrunken gestern Abend? Jetzt ließ sich auch sein rechtes Lid öffnen. Er blickte an sich herunter. Ja, er lag auf seinem Bett, in seinem Haus. Schweißverklebt und immer noch restlos benommen. Die Hitze war fürchterlich. Bekleidet war er nur mit Unterhemd und Unterhose. Jetzt konnte er seine Füße scharf erkennen, er wurde langsam richtig wach. Aber sein Kopf schmerzte, wobei «schmerzte» nur ein gelinder Ausdruck für das war, was er empfand und was seiner Meinung nach auch von einem Schlag mit einer Keule herrühren konnte. Aber nein, sie hatten getrunken gestern Abend – und wie! Sein Nachbar hatte zum 50. Geburtstag geladen, 23 Meilen entfernt, und seine Frau hatte dann den Wagen nach Hause gefahren, soviel konnte er im Moment noch erinnern. Seine Frau? Wo war sie? Hatte sie nicht irgendetwas von Einkäufen gesagt? Egal, er blickte an sich herunter, langsam konnte er seine Gedanken wieder ordnen. Aber was war das? Auf seinem rechten Bein, oberhalb des Knies…was war das? Schlagartig war er hellwach. Eine Redback-Spider! Er erkannte die Spinne sofort. Sie saß auf seinem Bein und rührte sich nicht. Er hielt den Atem an. Ja, es war eine weibliche Redback, etwa drei Zentimeter lang, mit dem markanten roten Fleck auf dem Hinterleib! Als Australier, 64 Meilen von Cairns entfernt, wusste er sofort Bescheid. Nur die weiblichen Tiere waren gefährlich, bissen aber nur zur Selbstverteidigung. Es gab sie überall in Australien, sie waren Verwandte der «Schwarzen Witwe». Sogar der lateinische Name fiel ihm jetzt ein: Latrodectus. Und, dass allein in Queensland jährlich mehr als 200 Personen von ihr gebissen wurden. Todesfälle, wie noch vor einigen Jahren an der Tagesordnung, waren jedoch selten geworden, seit man über ausreichend Antiserum in den Kliniken verfügte. Das Gift der Spinne war ein Neurotoxin, das die Nerven befiel und lähmte. Aber bei rechtzeitiger Verabreichung des Gegengiftes war nichts zu befürchten.



Er war jetzt wieder völlig klar. Die Spinne saß immer noch unverändert unbeweglich auf seinem Oberschenkel. Er bewegte sich nicht und atmete nur ganz flach. «Rechtzeitig» – das war das entscheidende Wort. Wenn er gebissen wurde, wie kam er dann rechtzeitig nach Cairns in die Klink? Seine Frau war mit dem Wagen weg – wenn sie zu spät kam, war vielleicht bereits alles zu spät. Das Telefon? Unerreichbar im Nebenzimmer. Er beobachtete die Spinne. Und sie beobachtete ihn, er spürte es. Was konnte er tun? Seinen rechten Arm anheben, sich langsam vorbeugen und versuchen, sie mit einer raschen Handbewegung wegzufegen? Aber wenn das nicht schnell genug ging und sie vorher noch zubiss? Oder sollte er blitzschnell sein Bein – oder gleich beide Beine – anziehen, damit sie durch den Ruck herunterfiel? Und wohin würde sie dann fallen und vor allem: biß sie dann eventuell doch noch? Beißt eine Redback wirklich nur zur Selbstverteidigung? Die Situation war prekär. Bereits das leichte Anheben seines rechten Armes konnte sie zu einer entsprechenden Reaktion veranlassen. Was tun also? Er beschloss, sich vorerst überhaupt nicht zu bewegen, alle gedachten Varianten bargen ein immenses Risiko. Vielleicht ließ sie ja von ihm ab und wechselte den Standort? Der Schweiß lief ihm jetzt über das Gesicht. Nur nicht zu stark atmen. Ganz ruhig liegen bleiben und beobachten. Die Spinne rührte sich nicht.



Ein Motorgeräusch kam langsam näher. Seine Frau? Ruhig bleiben jetzt, nicht rufen. Der Wagen hielt vor dem Haus, er hörte, wie sie ausstieg, er hörte, wie die Wagentür zufiel. Dann kam sie zur Haustür herein. Er rührte sich nicht.



«Bist du endlich wieder nüchtern, Henry? Meine Güte, warst du betrunken!» Sie kam ins Zimmer. «Na, da bist du ja! Schau’ mal, was ich dir mitgebracht habe!» In ihrer rechten Hand hielt sie ein T-Shirt, in Zellophan verpackt. Sie hatte im letzten Jahr bei den Frisbee-Meisterschaften in New South Wales den zweiten Platz erreicht.



«Hier, mach’ mal auf! Das steht dir bestimmt gut!» Mit einer gekonnten Drehung aus dem Handgelenk warf sie das flache Zellophanpäckchen in seine Richtung. Es kreiste kurz in der Luft, bevor es platziert auf seinem rechten Oberschenkel landete.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Klaus K.,

eine spannende Geschichte ist Dir gelungen, die ich gerne gelesen habe. Denn der Ausgang ist ja schön ungewiss ...

Zwei Punkte, die mir aufgefallen sind: Der Spinne würde ich den deutschen Namen "Rotrückenspinne" verpassen.

Der Titel ist verwirrend, er nimmt natürlich Bezug auf das Ende, aber ich würde einen anderen vorziehen, der irgendwie die Angst vor der Spinne thematisiert, ohne zu viel vorwegzunehmen.

Viel Freude in und an der Leselupe wünscht

DS
 



 
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