o-ton sapphisch (4 sapphische strophen)

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]o-ton sapphisch


komm hervor komm zeige die elfenbeine
zeig der zehn blind bleichende nagelmonde
will dran lutschen will dein gekicher hören
[ 4]und deine seufzer

seh ich deine lider die kühl versonnen
deinen blick beschatten der seitlich heimlich
durch die kiemenbögen sich stiehlt im see der
[ 4]traurigen seelen

sing ich melancholische sappho-lieder
sing catulls verzweifelte fröhlichkeiten
o-ton hölderlin allelujah ruf ich
[ 4]o ton adonin

will den frühlings-keimling zum opfer bringen
den geliebten schatz an den rat verraten
ach den hohen herrn werde ich mich selber
[ 4]weinend ergeben
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Werk wirkt sehr erotisch in mancherlei Hinsicht, es verwendet viele Metaphern, von denen keine eine tote Metapher ist, keine sind versteinert, außer die Einzelwörter, die tote Metaphern sind.

So wurde Sappho, die Dichterin zu einer Metapher, die auf Lyrik übertragen wurde in vielerlei Sprachen, doch kennt sie heute kaum noch einer, selbst das Adjektiv "Sapphisch" ist fast verloren.

Die Strophen versteinerten formell, aber die Form wurde brüchig beim Über-Setzen in andere Sprachen. Deutsch ist grundlegend eine taktorientierte Sprache, die sapphische Ode ist eine silbenlängenorientierte Strophe, hierin ähnelt sie Formen in der Musik, die ungleiche Notenlängen verwenden.
Anders als Trochäus- und Jambus-Übertragungen, bei denen Tonlänge in Takte übersetzt wurden, erhält die Sapphische Strophe noch Teile der Musikalität des Ursprungs.

Dein Gedicht hat Mut zur Pause. Zwischen den Abschnitten innerhalb eines Verses herrscht Stille, wie im Wasser.

Das Werk wirkt melancholisch, wählt Symbolik, wie
will dein gekicher hören
und deine seufzer
Das Gekicher stimmt nicht fröhlich, denn da folgen Seufzer.

Und dann benennt sich das Gedicht selbst, Sappho-Strophen, erinnernd an die Dichterin.
Homoerotisch - las ich im Lexikon.

Und zum Schluss folgt der Verrat. Judas singt sein Lied.
Und ist er Held oder verloren?
Denn die Geschichte schreibt ihm seit Urzeiten in den Texten den Verrat vor. Ist erwarteter, ja geforderter Verrat noch Verrat?
Judas und Jesus küssten einander bekanntlich beim Abendmahl, als beide wussten. Judas musste zum Rat gehen, damit die Erfüllung war und wahr wurde.

Die Schlange, Schleiche tritt aus der ersten Strophe hervor und umschlingt das Gedicht.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
verraten

ja, richtig erkannt (und ich dachte, das merkt keiner): Judas, hier liebend. verrät lieber sich selbst als den "geliebten schatz". Jesus als Adonis, frühlings-keimling.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Judas-Evangelium, vor nicht allzulanger Zeit gefunden, fast zerstört durch unsachgemäße Aufbewahrung und Gier, wertet bereits kurz nach den Geschehnissen diese anders, als die anderen.

Als ich die Bibel das erste Mal las, (freiwillig, ohne Unterricht, ca. 5. Schuljahr - gegen den Willen meines Vaters), fiel mir diese Ungereimtheit auf. Judas tat, was ihm vorgeschrieben wurde, wogegen er sich nicht wehren kann, was selbst Zeitreisen nicht verhindern können, weil es ein Fixpunkt ist - und wird bestraft durch die Nachwelt.

Aber das entlernen die Menschen, wenn sie Bibel studieren.

Jesus hätte sich leicht retten können. Aber er konnte nicht, denn es steht geschrieben.

Diese Geschichten sind ja auch unabhängig von der "wirklichen" Geschichte, die Geschichtsschreiber überliefern oder verschweigen.

Einige Erfahrungen machte ich nach 1989, als die Geschichte des Ostens umgeschrieben wurde.

Zwei Geschichten, die beide wahr sind, wobei ich einen Teil nicht wiedererkenne, wenn ich es mit Erinnerungen, die gleichfalls trügerisch sind, vergleiche..
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
im aktuellen SPIEGEL gibts einen großen artikel über die änderbarkeit des gedächtnisses, die änderung der erinnerung: eine psychologin hat 70% ihrer versuchskaninchenmenschen dazu gebracht, "sicher zu wissen", daß sie in ihrer jugend eine straftat begangen hätten. ich dachte sofort an die entstehung der religionen, besonders des christentums.
ohne gegen das christentum zu sein - ich finde es sehr poetisch: die wirklichkeit liegt in den deutungstiefen der texte, nicht in einer objektiv scheinenden historie. wie paulus sagt: ein fleischleib wird gesät, ein geistleib ersteht daraus auf. es ist also eine geistige wirklichkeit, eine interpretierende, eine aus tathandlung bestehende wie das sich vollziehende ich.
die "positive" Judas-deutung ist mir durch die anthroposophie vertraut. und durchaus aus der bibel selbst, sie ist darin enthalten. mindestens das ist berührend, wie der "verräter" (offenbarer geheimnisse) die 30 silberlinge in den tempel wirft und sich erhängt. das wahrzunehmen oder nicht - scheidet die klopfenden herzen von den harten herzen.
 



 
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