Old Fashioned

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amelie_franzi

Mitglied
Bevor ich im Juli `99 eine plötzliche Flucht aus meiner Heimatstadt wagte, verbrachte ich einige Monate lang viel Zeit in einer Bar namens „Bar“. Ich fand sie in einer kleinen Gasse, umringt von Mülltonnen und Straßenkötern - kaum ein Ort für einen jungen Mann, aber damals gefiel mir der aussätzige Charakter dieses Ortes, der zugleich vertraut und fremd auf mich wirkte.
Der Name dieser Bar war nicht tatsächlich „Bar“, aber Marcel, der Besitzer, hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr einen richtigen Namen zu geben. Ich hatte ihn einmal danach gefragt, aber seine Antwort, „ich taufe meine Stubenfliegen nicht, also kriegt die Bar auch keinen Namen“, empfand ich damals wie heute als unbefriedigend.
Marcel war nicht gesprächig, was seine übliche Kundschaft, hauptsächlich Bauarbeiter und Personal aus den Pubs der Gegend, durchaus zu begrüßen schienen, denn sie waren es auch nicht. Das machte für mich die Persönlichkeit der Bar aus: ein stiller Ort, nicht einmal Musik spielte, und es wurde nur hartes Zeug getrunken, passend zu den ernsten Gesprächen, die die müden Herren an den verstaubten Tischen führten.

Als junger Schriftsteller war ich mit meinem optimistischen Zukunftsblick nicht gemacht für diesen Ort, aber dennoch ließ ich mir von Marcel beinahe jeden Abend einen Old Fashioned servieren, während ich den wenigen Gesprächen der Kundschaft lauschte, um Inspiration für meine Arbeit zu finden.

Es sollte nicht lange dauern, bis mir ein älterer Herr auffiel, der immer, wenn ich die Bar betrat, in der gleichen Ecke saß, sodass ich schließlich überzeugt war, er wäre dort festgewachsen. Sein Platz war ein wenig hinter einer Topfpflanze versteckt, aber es bestand niemals ein Zweifel, dass er dort war, denn aus der Ecke schien es durchweg zu qualmen. Der Grund, wieso er mir dennoch auffiel, war der, dass er ebenfalls ausschließlich Old Fashioned trank, die er allerdings als „Whiskey Cocktail“ bezeichnete. Ich fand, dass der Name „Old Fashioned“ viel besser zu dem Herrn passte, der lediglich einen einzigen Anzug zu besitzen schien, bei dem die zugehörige Weste viel zu eng um den prallen Bauch saß, und dessen tiefe Stimme mich an Darsteller aus alten Schwarzweißfilmen erinnerte.

Die Faszination um diesem Mann, dessen Name offenbar George Nolan war, wie mir Marcel in einem Moment der Schwäche erzählte, brachte mich dazu, mich stets an den benachbarten Tisch zu setzen. Aber Nolan war nicht gesprächig, weniger, er schien stumm zu sein, denn ich konnte in den Monaten meiner Anwesenheit kein einziges Gespräch mit ihm provozieren. Vielleicht mochte er mich auch nicht, meine Anwesenheit war schließlich Lärm in diesem stillen Ambiente, wirkte wohl beinahe arrogant, und meine durchlöchernden Blicke waren, rückblickend betrachtet, sicherlich etwas aufdringlich. Um ihm seine Geschichte zu entlocken, war ich also nur auf den Anblick seiner tiefsitzenden, dunklen Augen angewiesen, die stets durch den Raum wanderten, als suchte er nach einem Ausweg.

Nolans Geruch war, neben starken Tabak, auch durch die beißende Kopfnote von schlechten Entscheidungen geprägt. Er ließ sich nicht ausblenden, sobald man ihn einmal vernommen hatte. Er wirkte wie jemand, der den Tod geradezu herausforderte, seine Leber und Lunge zu zerfressen, während er in Gedanken schwelgte und wartete. Unbeeindruckt von allem, denn er hatte alles erlebt, das Gute, aber vor allem das Schlechte. Im Alter vermischten sich nun alle seine Gefühle und Erinnerungen zu einer Gleichgültigkeit, die nur ein anderer Sterbender nachvollziehen konnte. Und während er so nachdachte, an seine Enkelin nämlich, fiel ihm eine merkwürdige Parallele mit ihr auf: Kinder sind von allem fasziniert, von einer Tüte im Wind ebenso wie von den talentiertesten Akrobaten. Sie können die Reize nicht unterscheiden, wissen nicht, was außergewöhnlich ist, denn für sie ist alles außergewöhnlich. Für Nolan war es genauso, jedoch war für ihn jeder Reiz gleichwertig unbedeutend. Die Nachrichten schockierten ihn nicht, und wenn wieder einmal etwas passierte, was Marcel wütend auf die Bar Theke schlagen ließ, schüttelte er nur den Kopf und dachte, dass es ja nur wieder einmal kam, wie es kommen musste.

Als meine Gedanken ihren Weg zurück in die Bar fanden, ermahnte ich mich selbst; Ich bemühte mich eigentlich zu meiden, Nolan eine Geschichte aufzuzwingen, eine Erklärung für die vielen Narben auf Gesicht und Händen zu finden, für seine schweigsame Art. Eine Nebenwirkung meiner Arbeit war, dass ich stets versuchte, eine Erklärung für die Eigenarten eines Menschen zu finden und dabei vergaß, richtig zuzuhören. Sicherlich waren mir so schon viele Geschichten entgangen. Nolan jedoch schien sich, mit jedem Mal, wenn er Zigarrenqualm auspustete, über meine Ratlosigkeit zu amüsieren.

Von Zeit zu Zeit denke ich an George Nolan, an diesen vergessenen Charakter in einer Bar am Rande der Welt, und frage mich, ob er wohl immer noch dort sitzt. Wenn ich durch die Zeitung blättere, ertappe ich mich selbst dabei, dass ich seinen Namen bei den Todesanzeigen suche. Auch quälen mich immer noch die Fragen, die ich diesem Mann gerne gestellt hätte, über seine Vergangenheit, seine Familie. „Vielleicht trinkt er Whiskey, weil es ihn an einen verstorbenen Freund erinnert“, denke ich. „Vielleicht“, denke ich dann, „trinkt er seinen Whiskey aber auch nur, weil er ihm schmeckt.“ Ich bemühe mich, damit aufzuhören. Denn, ich muss es mir eingestehen, was weiß ich schon über George Nolan und seinen Whiskey?
 

anbas

Mitglied
Ein sehr stimmungsvoller Text, wie ich finde. Ich habe ihn gern gelesen.

Etwas schwierig finde ich den Teil in der Geschichte, als plötzlich über Nolans Gedanken erzählt wird. Hier wird für mein Empfinden nicht deutlich genug, dass es Gedanken des Erzählers sind, was Nolan wohl so denken könnte.
Sollten es aber tatsächlich die Gedanken von Nolan sein, so wäre dies ein Bruch in der Geschichte, der nicht nachvollziehbar ist.

Liebe Grüße

Andreas
 

amelie_franzi

Mitglied
Hallo Andreas,

erstmal wollte ich mich dafür bedanken, dass Du Dir die Zeit nimmst, Dich mit meinen Texten zu beschäftigen - das bedeutet mir viel!

Ich habe mich bemüht, mit dem Erzähler eine Figur zu erschaffen, die fanatisch und übergriffig agiert: er hat kein tatsächliches Interesse an der Person Nolans, sondern sucht nur Material für seine Arbeit. Somit instrumentalisiert er Nolan gewissermaßen. Bei der Stelle, wo der Erzähler von Nolans "Gedanken" erzählt, wollte ich genau das auf die Spitze treiben: der Erzähler ist so vernarrt in seine Vorstellung von Nolan, dass er ihm Gedanken aufzwingt, um das "Rätsel zu lösen".

Ich kann gut verstehen, dass das nicht ganz ersichtlich ist. Das war mein erster Versuch, Erzählinstanzen ineinander verschmelzen zu lassen.

Nochmals vielen Dank und freundliche Grüße,
Amelie
 



 
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