Omas Bäume

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Ich saß am WC, als mein Handy läutete. Es war meine Oma. Ich hob nicht ab, sondern drückte sie weg. So wichtig würde es schon nicht sein, dachte ich. Außerdem wäre es mir peinlich gewesen, in der Toilettenanlage der Uni ein Gespräch zu führen. Dass man auf dem Handy spielte, während man sein Geschäft erledigte, hatte ich auch schon von anderen gehört. Mich entspannte es. Allerdings blieb ich dann oft länger als notwendig sitzen. Diesmal nicht, denn die Vorlesung zur Philosophie im Mittelalter hatte schon begonnen. Ich schaltete mein Handy auf Lautlos, bevor ich den Saal betrat.

Neun Anrufe, alle von meiner Oma. Ich ging ins Freie. Fast wäre ich gestürzt, denn die Stiegen waren spiegelglatt. Gefrierender Regen hatte die Gehsteige und Straßen in einen Eislaufplatz verwandelt. Vielleicht war auch meine Oma von der Glätte überrascht worden. Unsinn. Sie verließ kaum noch die Wohnung und sie hatte auch kein Handy. Die Anrufe waren von ihrer Festnetznummer gekommen. Dicht neben mir kam eine Studentin zu Fall und fing sich erst nach zwei Stufen auf. Ich fragte, ob alles gut sei. Sie nickte und rutschte mit den Knien zuerst auf allen Vieren die restlichen Stufen hinab. Also zurück in die Uni und warten, dachte ich. In einer Ecke der Aula setzte ich mich auf meinen Rucksack und drückte auf Rückruf. Es dauerte ein wenig, bis sie abhob.

„Endlich“, sagte sie.

Was denn los sei, wollte ich wissen.

„Die Bäume. Die Bäume werden gefällt.“

„Welche Bäume?“

„Ach Gott, welche Bäume. Die ich von meinem Fenster aus sehe.“

„Jetzt werden sie gefällt?“

„Nein, im Frühjahr. Die Nachbarin hat’s mir erzählt.“

„Aha. Wer weiß, ob das stimmt.“

„Ihre Tochter arbeitet beim Magistratischen Bezirksamt.“

„Hm. Naja. Reden wir darüber, wenn ich zu Hause bin.“

„Wann kommst du?“

„Weiß ich nicht genau. Alles ist spiegelglatt. Ich muss auf der Uni warten.“

„Pass bitte auf. Es gibt faschierte Laibchen.“

Seit zwei Jahren wohnte ich bei meiner Oma. Sie hatte eine Drei-Zimmer-Wohnung und lebte alleine. Da ich kaum Geld hatte, war das Zimmer bei ihr die ideale Wohnmöglichkeit während meines Studiums. Meine Oma war sehr nett. Ich hatte schon als Kind immer wieder einen Großteil der Ferien bei ihr verbracht. Für ein Landei wie mich steckte die Stadt voller Geheimnisse. Und voller Leben. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wieder am Land zu wohnen, umgeben von Menschen, die man in- und auswendig konnte.

Nach fünf Laibchen und einem Teller voll Kartoffelsalat wollte ich nicht mehr über die Bäume reden, die angeblich gefällt werden sollten. Die liebe Oma bestand aber darauf und bat die Nachbarin, auf einen Kaffee zu kommen. Also, sagte diese, nachdem sie den Kuchen aufgegessen hatte. Vor den Bäumen werde gebaut, also nicht direkt davor, sondern knapp rechts daneben. Warum dann die Bäume gefällt werden müssten, fragte ich. Das wisse sie auch nicht, vielleicht müssten sie der Garage weichen. Jedenfalls habe ihre Tochter von der Genehmigung erzählt. Ende April sollte es so weit sein.

Meine Oma begann zu weinen. Das müsse verhindert werden, schluchzte sie. Wenn die Bäume nicht mehr da waren, hätte sie keine schöne Aussicht mehr. Früher wäre es nicht so schlimm gewesen, weil sich hinter den Bäumen eine Gstetten erstreckte. Aber seit die Wohnanlage errichtet worden war, seien die Bäume zu einem grünen Schutzwall geworden, der ab dem Frühjahr bis in den späten Herbst die hässlichen Betonmonster verbarg.

Der Küchentisch stand direkt vor dem Fenster, von dem man auf die drei Bäume, ich glaubte, dass es Bergahorne waren, mächtige Kronen mit mehr als fünfzehn Meter Höhe, schaute. Meine Oma verbrachte einen großen Teil des Tages an diesem Tisch. Das Fenster sei ihr Fernseher, sagte sie. Und auch, wenn das Programm ähnlich zu sein schien, gebe es genug Abwechslung. Damit meine sie nicht den Gang der Jahreszeiten, die das Grün ins Rote und Gelbe wechseln ließ, die fallenden Blätter, die ersten Knospen, die man aus der Entfernung kaum ausmachen konnte, sondern den Wind, der meistens von Nordwest, manchmal aber auch aus dem Osten oder gar aus dem Süden wehte, sanft oder stürmisch, den Regen, der die Baumkronen erglänzen ließ, und die Sonne, die das Grün hell oder dunkel färbte.

Am nächsten Tag erkundigte ich mich bei der Baupolizei. Ja, es gäbe ein beschleunigtes Bauverfahren für die gegenüberliegende Parzelle, aber der gewidmete Grünbereich würde selbstverständlich nicht verbaut. Warum dann die Bäume wegmüssten, fragte ich. Das wisse man nicht genau, es könnte mit der Garage zusammenhängen. Ob man Einspruch erheben könne. Prinzipiell ja. Nur müsste ein berechtigtes Anliegen gegeben sein. Naja, der Ausblick, die Bäume. Für die Bäume sei man nicht zuständig. Wer dann? Das Magistratische Bezirksamt. Es dauerte, bis ich dort endlich jemanden erreichte. Und es brauchte einige Zeit, um zum Punkt zu kommen. Allerdings, man dürfe mir nicht sagen, ob und für welche Bäume eine Entfernung genehmigt oder ein Ansuchen eingebracht worden sei.

Das sei ärger als unter Hitler, sagte meine Oma, als ich ihr davon erzählte. Man habe überhaupt keine Rechte mehr. Den Vergleich mit der NS-Zeit fand ich geschmacklos, aber bitte. Die Grünen. Man müsse die Grünen einschalten. Die seien doch für Bäume und für die Erhaltung der Natur. Auch ich konnte mir vorstellen, dass sich die Grünen der Sache annehmen würden. Also schrieb ich eine Nachricht an die Bezirksvertretung. Zwei Tage später rief mich eine Frau an und ließ sich das Anliegen meiner Oma erklären. Immerhin, sagte meine Oma. Die würden sich wenigstens melden. Ich solle der Dame sagen, dass sie in Zukunft nur mehr Grün wählen werde, wenn die Bäume nicht gefällt würden. Tage später erhielt ich eine Nachricht, in der langatmig ausgeführt wurde, dass auch die Schaffung von Wohnraum wichtig sei und außerdem Ersatzpflanzungen getätigt werden müssten. Meine Oma lachte auf. Kleine Bäumchen, irgendwo. Sie wirkte verbittert. Es war Februar und die Bäume waren noch kahl. Trotzdem bildeten die Äste und Zweige eine Art Gitter, einen Schutz, der die Wohnanlage dahinter zurückdrängte. Sagte meine Oma.

Der März zog ins Land. Meine Oma war oft mürrisch, ein Wesenszug, den ich nicht von ihr kannte. In der Früh blieb sie lange im Bett liegen. Mein Frühstück musste ich mir selbst machen. Kein Problem, aber vor dieser Baumgeschichte war sie erpicht darauf, mich zu bedienen und dabei von ihrer Jugend, manchmal auch von ihren Träumen zu erzählen. Sie müsse sich damit abfinden, dachte ich. Wenn die Bäume einmal gefällt waren, würde sie schnell vergessen, wie es davor ausgesehen hatte. Gewiss, manchmal würde sie in alten Erinnerungen schwelgen und die Bäume wie ein grünes Gemälde voller Leben und Licht darstellen. Sie neigte zu solch blumigen Vergleichen.

Als ich wieder einmal nach Hause kam, erzählte sie mir aufgeregt, dass der Redakteur von der Bezirkszeitung vorbeikommen und Fotos machen werde. Eine große Story würde es werden. Sie war gut gelaunt und hatte zur Feier des Tages Schnitzel vorbereitet, die man nur mehr herausbacken musste. Am nächsten Tag kam der Redakteur und machte Fotos vom Blick auf die Bäume und von meiner Oma. Ich zweifelte daran, ob damit das Fällen der Bäume verhindert werden konnte. Meine Oma war aber euphorisch. Sie zeigte auf die Bäume und behauptete, dass man schon sehen könne, wie die Blätter aus den Knospen drängten. Noch zart und daher schwer auszumachen, aber wenn es so warm bliebe, würden sie schon bald regelrecht herausschießen. Ich war kurzsichtig und konnte trotz der Brillen keine einzige Knospe sehen, aus der das erste Grün sprießte. Ende März erschien die neue Ausgabe der Bezirkszeitung. Oma warf mir das Blatt voller Entrüstung hin. Kein Bericht, keine Fotos, nichts. Dieser Falott habe den Schwanz eingezogen. Natürlich habe sie ihn sofort angerufen. Nach einigem Hin und Her habe er behauptet, dass er seinen Job los wäre, wenn er den Artikel in der Ausgabe gelassen hätte. Ich runzelte die Stirn. Gab es so etwas wie Zensur im Bezirk oder gar in der ganzen Stadt? Der Bezirksvorsteher sei es, rief meine Oma. Tröpfchen ihres Speichels landeten auf meinen Händen. Dieser falsche Fuchzger, schimpfte sie. Zu Ihrem achtzigsten Geburtstag sei er noch persönlich vorbeigekommen und hatte einen billigen Strauß Blumen gebracht. Beim neunzigsten würde sie ihn wegschicken, diesen Saukerl.

Anfang April. Die erste Hitzewelle des Jahres wollte nicht weichen. Die drei Bäume hatten sich voll entfaltet. Hätten sie die Bäume gefällt, als sie kahl waren, sagte meine Oma. Aber jetzt? Das sei ein Verbrechen. Es seien gesunde Bäume, die noch nie prächtiger ausgesehen hatten. Das werde sie nicht überleben, sagte sie. Wenn die Bäume weg sind, werde sie es auch sein. Ich versuchte, sie zu beruhigen. Keine Chance. Mal war sie aufgebracht, dann wieder in Tränen aufgelöst. Wenn ich am Vormittag zur Uni fuhr, saß sie beim Tisch und schaute aus dem Fenster. Wenn ich am späten Nachmittag wieder kam, schien sie sich nicht von der Stelle gerührt zu haben.

Sie zeigte in der Dämmerung auf den mittleren Baum. Da, sagte sie. Der Franz sitzt im Baum und schaut zu mir herüber. Der soll gefälligst was unternehmen, nicht nur herumsitzen und das Grün genießen. Aber so sei er schon immer gewesen. Reden habe sie müssen, vor allem beim Amt. Wenn die Verwandtschaft zu Besuch war, habe er das große Wort geführt, aber sonst. Sie winkte verächtlich mit der Hand.

Einige Tage später rief mich die Nachbarin an. Ich müsse unbedingt sofort kommen. Meine Oma habe sich an einen Baum gekettet und schreie aus Leibeskräften, dass alle Baummörder seien und wenn man den Baum fälle, sie auch umbringen müsse. Als ich ankam, hatte die Feuerwehr sie bereits befreit. Den Schlüssel für das Vorhängeschloss, mit dem sie die Kette verbunden hatte, habe sie weggeworfen, hatte sie behauptet. Sie saß in einem Rettungswagen und zitterte. Der Arzt meinte, dass sie ins Spital gebracht werden müsse. Nicht ins Spital, schrie meine Oma auf. Lasst mir die wenigen Tage mit meinen Bäumen. Danach werde sie ohnehin tot sein. Nur mit Mühe konnte ich den Arzt überzeugen, dass ich bei ihr bleiben und auf sie aufpassen werde, ja, auch morgen und übermorgen.

Am nächsten Tag gab sie mir ein beschriebenes Blatt Papier. Das sei ihr Testament, sagte sie. Ich solle alles bekommen, auch die Wohnung. Eine Mietwohnung könne man nicht vererben, sagte ich. Sie sah mich erschrocken an. Außerdem werde sie mindestens neunzig Jahre alt werden. Ach was, hundert. Sie habe sich doch vorgenommen, dem Bezirksvorsteher die Tür zu weisen, wenn er ihr gratulieren wollte. Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Am Nachmittag sahen wir gemeinsam zum Fenster hinaus. Der Südwind drückte die Blätter und Zweige in unsere Richtung. Wie anmutig und elastisch sie seien, sagte meine Oma. Sie erzählte, dass die Bäume noch keine fünf Meter hoch waren, als sie mit Franz hier eingezogen war, vor mehr als dreißig Jahren. Die Bäume hatten sie durch ihr Leben begleitet. Jedes Jahr legten sie an Größe zu, aber auch an Breite und Dichte. Ein Sturm hatte einmal einen Ast abgebrochen, aber der Baum hatte sich selbst geheilt. Nichts mehr war von dieser schweren Verletzung zu sehen. Ich fragte, ob sie nicht woanders hinziehen wolle, in eine Wohnung, aus der sie einen Blick ins Grüne hätte. Vielleicht aufs Land, in die Nähe ihres Sohnes, der zufällig auch mein Vater war. Da brächten sie keine zehn Pferde hin, sagte sie. Alleine der Geruch der Jauche, wenn die Bauern die Felder adelten. Und über meinen Vater wolle sie lieber nichts sagen. Ich schlug vor, dass ein dünner Vorhang mit einem Blattmuster ein wenig Abhilfe schaffen könnte. Ein Vorhang? So ein Blödsinn, sagte sie. Dann hätte sie kein Tageslicht mehr in der Küche.

Zwei Tage später weckte mich der Lärm von Kettensägen. Das Auf und Ab des durchdringenden Geräusches erinnerte mich an ein Moped, bei dem der Gashebel wieder und wieder gedreht wurde. Ich ging in die Küche, um meine Oma zu trösten. Doch sie war schon nach draußen geeilt, hin zu den Bäumen. Zwei Arbeiter redeten auf sie ein und drängten sie zurück. Ein anderer sägte aus der Hebebühne eines Krans, die oberen Äste ab. Meine Oma setze sich auf den Boden, die Arbeiter trugen sie ein gutes Stück weg von den Bäumen. Ich zog mich an und ging zu meiner Oma hinaus. Die Situation war mir peinlich. Als ich bei ihr angekommen war, hörte ich das Folgetonhorn der Polizei. Meine Oma blieb trotzdem sitzen. Ich bat sie, mit mir zurück in die Wohnung zu gehen. Die Polizei würde sie verhaften, wenn sie so weiter machte. Ich sei genau so feig wie mein Großvater, pfauchte sie mich an. Nichts hätte ich unternommen. Gar nichts. Eine Polizistin sprach mit ihr. Zuerst höflich und an Omas Vernunft appellierend. Meine Oma schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. Wenn sie nicht freiwillig aufstünde, müsse man sie wegtragen, drohte nun die Polizistin. Als zwei weitere Beamte herankamen, stand sie unvermittelt auf und verschwand im Haus. Die Polizistin erklärte mir, sie würden von einer Anzeige absehen, wenn meine Großmutter ab sofort Frieden gäbe. Ich konnte sie nur schwer verstehen, da nun bereits zwei Motorsägen im Einsatz waren und abwechselnd aufheulten.

Meine Oma lag im Bett. Die Tuchent hatte sie über den Kopf gezogen. Wenn ich sie anredete, bekam ich nur ein Brummen als Antwort. Ich versuchte, sie zu streicheln und wurde weggestoßen. Das ging jetzt schon den zweiten Tag so. Ich stellte ihr eine Tasse Tee hin. Sie blieb unberührt. Auch ein Schnittlauchbrot, das sie doch so sehr liebte, lehnte sie ab. Ich bat die Nachbarin, mit ihr zu reden. Raus, sofort raus, schrie meine Oma, etwas gedämpft durch die Tuchent, die sie immer noch über den Kopf gezogen hatte. Schließlich rief ich den Hausarzt an. Als er kam, setzte sich meine Oma auf. Vielleicht war es ihr peinlich, sich vor dem Arzt, den sie schon so lange kannte, gehen zu lassen. Der Arzt wollte alleine mit ihr reden. Ich wartete in der Küche. Die Bäume waren weg. Drei große Löcher waren zurückgeblieben. Ich versuchte mir einzureden, dass die Wohnanlage so schlecht auch nicht aussah. Einige Balkone waren begrünt, die gelbe Fassade wirkte freundlich auf mich. Außerdem waren die Häuser in etwa fünfzehn Meter entfernt. Ich hörte den Arzt in die Küche kommen. Er setzte sich nieder und schaute lange zum Fenster hinaus, bevor er zu reden begann. Meine Großmutter leide an einer schweren Depression. Das Beste wäre, wenn sie ein oder zwei Wochen im Spital verbrächte. Das lehne sie aber strikt ab. Er habe ihr ein Medikament verschrieben, das helfen könnte. Das habe aber Nebenwirkungen. Schläfrigkeit und Gewichtszunahme würden häufig auftreten. So wie er meine Großmutter kenne, werde sie die Tabletten ohnehin nicht einnehmen. Das Beste wäre, wenn ich mit ihr auf Urlaub führe, vielleicht ans Meer. Da sei sie noch nie gewesen.

Immerhin stand meine Oma wieder auf. Sie hängte ein Tuch, das nur wenig Licht durchließ, vor das Fenster. Nach und nach begann sie wieder zu reden. Als ich ihr vorschlug, anstatt des Tuches einen Vorhang zu kaufen, meinte sie, dass sie das Fenster am liebsten zumauern würde. Auf Urlaub? Nein, auf keinen Fall. Sie wolle nur ihre Bäume wiederhaben.

Das Auto eines Freundes war an die zwanzig Jahre alt. Immerhin war es ein Skoda Octavia, also gab es mehr als genug Platz für den Urlaub mit meiner Oma in Krk. Zwar hatte sie behauptet, noch nie am Meer gewesen zu sein, aber an die Stadt Vrbnik auf der Insel erinnerte sie sich irgendwann doch. Franz und sie hatten sich von einem befreundeten Ehepaar überreden lassen, auf einen Kurzurlaub mitzukommen. Drei Tage, mehr waren es nicht gewesen. Ja, dort wollte sie noch einmal hin. Es sei wunderschön gewesen. Die Stadt lag auf einem felsigen Gelände, das auf drei Seiten zum Meer abbrach. Die Altstadt hatte es ihr damals besonders angetan. Nicht groß, also überschaubar und voll historischer Schätze. Und dann die mächtigen Kastanienbäume in einem Gastgarten, direkt am Abbruch zum Hafen. Ihre Augen wurden nass, als sie von den Bäumen erzählte.

Während der Fahrt summte sie Lieder, schaute zum Fenster hinaus oder schlief. Seit dem Baummord, wie sie es nannte, redete sie nur mehr wenig. Das Appartement lag am Rande der Altstadt und bot einen atemberaubenden Blick auf die Kvarner Bucht. In den letzten Wochen hatte meine Oma viel Gewicht verloren. Sie war schwach geworden und brauchte einen Stock zum Gehen. Wenn wir essen gingen, rührte sie kaum etwas an. Fisch mochte sie ohnehin nicht besonders. Jeden Abend gingen wir trotzdem in das Lokal mit dem riesigen Gastgarten, in dem einige große Kastanienbäume standen. Sie setzte sich so, dass sie auf möglichst viele Bäume sehen konnte. Am letzten Abend überredete ich sie, Gulasch mit Palenta (so hießen die kleinen runden Polentascheiben dort) zu wählen. Ich bestellte nur eine Vorspeise, da ich die Tage zuvor den größten Teil ihres Essens übernehmen musste. Diesmal war es anders. Sie aß fast die Hälfte ihrer Portion und lobte den guten Geschmack. Ich fragte sie, ob sie noch einige Tage bleiben wolle. Das Wetter war prächtig und es schien mir, dass ihr die mächtigen Kastanienbäume und der Blick aufs Meer guttaten. Nein, sagte sie. Alles habe ein Ende. Und das hier sei ein besonders schönes. Mir war es recht, denn ich hatte mein Studium sehr vernachlässigt und hoffte, bis zum Ende des Semesters einiges aufzuholen.

Am Tag unserer Abreise wachte ich schon um fünf Uhr auf. Vielleicht lag es auch an der weichen Couch, aber die Nächte davor hatte ich ganz gut geschlafen. Jedenfalls versuchte ich leise zu sein und machte mir einen Kaffee, den ich am Balkon trank. Das Meer war spiegelglatt, die Ruhe empfand ich als unheimlich. Ab und zu ein entferntes Vogelgezwitscher, mehr war nicht zu hören. Meine Gedanken sprangen hin und her. Was war nur mit meinem Vater los? Er kümmerte sich nicht um seine Mutter, rief sie nicht einmal ab und zu an. Was war zwischen den beiden vorgefallen, dass er so ablehnend ihr gegenüber war? Ich nahm mir vor, meine Oma bei der Rückfahrt darauf anzusprechen. Wie würde es meiner Oma gehen, wenn sie wieder in ihrer Wohnung mit dem verhängten Küchenfenster lebte? Ich musste eingenickt sein. Als ich wieder erwachte, war es kurz vor sieben und von meiner Oma war noch immer nichts zu sehen. Ich ging zum Schlafzimmer und öffnete die Tür einen Spalt. Sie lag nicht im Bett. War sie auf die Toilette gegangen? Nein, auch dort war niemand. Ich rief nach ihr, aber sie gab keine Antwort. Dann bemerkte ich, dass ihre Schuhe und der Stock fehlten. Die Wohnungstür war nicht abgesperrt. Am Abend hatte sie noch überprüft, ob abgeschlossen war. Nachdem ich die Umgebung abgesucht hatte und keine Spur von ihr fand, begann ich mir Sorgen zu machen. Der Vermieter drängte mich, das Apartment zu räumen, weil schon morgen neue Gäste ankämen. Was meine Oma beträfe, solle ich bei der Polizeistation in der Stadt Krk eine Meldung machen. Hier in Vrbnik gäbe es keine. Es wären aber nur 20 Minuten mit dem Auto.

Nach einer Woche verließ ich die Insel und fuhr zurück nach Wien. Man hatte den Gehstock meiner Oma gefunden, direkt am Strand. Die Polizei ging davon aus, dass sie ins Meer hinausgegangen und von der Strömung abgetrieben worden war. Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu glauben.
 



 
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