Panik in Paradies

ziner

Mitglied
Der nächste Tag war Silvester. Ein neues Jahr stand vor der Tür. Ein neues Jahr voller Möglichkeiten, die am Ende doch wieder nur als verpaßte Chancen zu Buche schlagen würden. Ein neues Jahr, das irgendwann langweilig wird. Ich hatte mit Patrick abgemacht, daß wir Silvester zusammen verbringen wollten. Jan sollte auch dabeisein. Und Tina hatte sich angesagt! Das war doch was! Vielleicht würde dieser Jahreswechsel nicht einer von denen werden, an die man sich nicht so gerne erinnert, weil der nächste Morgen mit Wiederbelebung begonnen werden mußte. Nicht eine von diesen Parties auf denen ein Drittel des Personals aus Leuten besteht, die man sowieso andauernd sieht. Die anderen dreiunddreißig Prozent aus Figuren, denen man Ihr Pädagogik-, BWL- oder Ingenieur-Studium drei Meilen gegen den Wind ansieht. Diese Jack Wolfskin- und Fjällräven-Spießer, die Sonnabends mit ihren irre praktischen Trecking-Rucksäcken zum Einkaufen eiern, an der Kasse ihre frischgezeugten Kinder hochhalten um sie das Bezahlen üben zu lassen. "Torben-Sebastian" - oder Pia-Mareike-Marie - "nun gib der Tante das Geld." Torben-Sebastian-Mareike-Marie weigert sich aber und fängt an zu plärren. "Wenn du der Tante das Geld nicht gibtst, kannst du das Eis nicht behalten." Eine Aussage die noch heftigeres Geschrei zur Folge hat. Alles Umstehenden finden's lustig und ich frage mich, wieso ausgerechnet ich unter der Fruchtbarkeit anderer Leute leiden muß. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, hat man es auf solchen Festen immer seltener mit Studierenden zutun, dafür um so häufiger mit Studierten. Die haben dann Kollegen dabei. So kann es passieren, daß man sich unversehends in einer Runde aus einem halben dutzend Staatsanwälten, wahlweise einer nicht minder großen Gruppe von Kinderärztinnen gegenübersieht. Oder trifft auf ein Gruppe von Sozialpädagogen und findet sich plötzlich in ein oberflächlich, aber in allerfeinster Betroffenheits-Rhethorik geführtes Gespräch, über das äußere und das innere Ich verwickelt. Muß dann feststellen wie sehr doch der Standpunkt vom Ausgangspunkt abhängt, daß sich dabei so mancher vehement vertretener Standpunkt als Aussichtspunkt entpuppt von dem aus sich ein trefflicher Blick auf die geistigen Landschaften werfen läßt. Der Rest der Belegschaft besteht dann aus Leuten, die man nicht einmal in einem vollen Bus neben sich möchte. Auf solchen Veranstaltungen, tut man gut daran, sich still in eine Ecke zu verziehen und sich - natürlich in bequemer Reichweite des Bieres also in der Nähe des Kühlschranks - langsam vollaufen zu lassen. Ein Verhalten, das man anderntags bitter bereut. Den Silvestertag verbrachte ich ziemlich eintönig. Ich hatte Urlaub und morgens aufzustehen war so ziemlich das anstrengendste was ich an diesem Tag tat. Natürlich hängt es immer davon ab, wo man den Nullpunkt setzt. Manchmal ist schon das Heben eines Kaffeebechers eine übermenschliche Anstrengung, dann wieder sind Waschmaschinen in den vierten Stock nicht schwerer als mein Federbett. Aber nicht an diesem Tag. Ich war ziemlich ausgeglichen, was vielleicht an der Aussicht auf einen Spitzen-Abend lag. Wir hatten verabredet uns bei Patrick zu treffen. Wir wollten Esssen, ein wenig reden, Quatsch machen trinken, und das neue Jahr gesittet begrüßen. Patrick wollte kochen. Wir tun das häufiger. Kochen. Ein zwei Wochen vorher verabreden wir, was wir essen wollen, wer was einkauft und wer am Ende mit dem Abwasch dasteht. Dann wird geschnitten und gehäckselt, gesotten und gebraten, getrunken und beraten. Zwischen zwei Schluck Wein wird der Braten begossen, alle machen mit und keiner hat auch nur einen blassen Schimmer was am Ende dabei herauskommen wird. Meistens ist dann etwas recht exotisches die Zierde der Tafel. Wildschweinkeule mit Spinat, Zander in Bierteig oder Ente surprise, die sich dann - zwar erstaulich wohlriechend mit iher Apfel-Ingwer-Weintrauben-Füllung - als Suppenhuhn entpuppte, das sich zäh gegen seine Verspeisung zur Wehr zu setzen versteht. Dazu gehen dann nicht unerhebliche Mengen Vinho Verde den Hals herunter und wir haben eine Menge Spaß. Für diesen Abend wollte Patrick etwas Vorder, Mittel-, Hinter- oder Niederindisches kochen. Eine Sinfonie in Curry. Ein Traum in Ocker.
"So ab acht", hatte er gesagt. Um sechs hatte ich in meiner Wohnung alles einmal von A nach B, von oben nach unten, von links nach rechts geräumt. Ohne auch nur ansatzweise einen Zustand zu erreichen, den meine Mutter als Ordnung bezeichnen würde. Allerdings hatte ich einige Dinge, die ich lange nicht vermißt hatte, wiedergefunden, und mich gefragt wie ich je ohne sie auskommen konnte. In der Sammlung meiner pubertären Liebesbriefe gelesen und mich doch sehr gewundert. Zwei Stunden noch. Ich lief in meiner kleinen Wohnung auf und ab. Überlegte ob ich mich noch eine Stunde hinlegen sollte, stand nach zehn Minuten wieder auf, duschte ein weiteres Mal, und die ganze Zeit drehte sich mein Kopf wie ein Brummkreisel. Was bildete ich mir eigentlich ein. Wie konnte ich allen ernstes glauben, diese Frau würde sich mehr als Feuer von mir geben lassen. Wie konnte ich hoffen, sie würde mein Interesse erwidern. Um zehn vor acht stand ich gestiefelt und gespornt auf der Straße, bereit alles zu ertragen und nichts zu erwarten. Auf dem Weg und auf den größten Reinfall meines Lebens gefaßt. Patrick wohnt eine Querstraße von mir entfernt. In normalen Zeiten ein Fußweg von maximal fünf Minuten. Bei Hagel-, Schnee- und Graupelschauern oder anderen Wettern höchstens sieben Minuten. An diesem Abend brauchte ich geschlagene zwanzig. Zwei Schritt vor einen zurück, das große starke Skrupel-Band im Nacken. Was erwartete ich, was kam da auf mich zu? Weiter kam ich nicht. Wenn schon die Titanic eineinhalb Stunden braucht um zu verschwinden, wie konnte ich dann so schwerwiegende Fragen in zwanzig Minuten beantworten. Unmöglich. Ich hätte noch einmal um den Block gehen sollen. Das, was auf mich zukam, war nicht zu erwarten. Ich klingelte und mir ward aufgetan, also stieg ich die drei Stockwerke hinauf, und hatte ein eigenartiges Gefühl im Magen. Eine Mischung aus Neugier, freudiger Erwartung und Fluchtgedanken. Ich war zwar pünktlich, aber ich kam als letzter, die anderen waren schon da und saßen in der Küche um den Tisch. Tina war auch da! Ich traute mich nicht so richtig sie anzusehen, sondern hustete mit erhobener Hand ein allgemeines, unverbindliches "Hi" in den Raum. Verschwand um mich meiner Jacke zu entledigen und ließ mir Zeit, ging noch mal ins Bad, um in den Spiegel zu sehen, und mich noch einmal meiner Unwiderstehlichkeit zu versichern. Das Ergebnis war ernüchternd, aber es würde reichen mich über den Abend zu bringen. Etwas linkisch, um Selbstverständlichkeit bemüht betrat ich die Küche und setzte mich. Gestern hatte ich das Glück neben Ihr zu sitzen. Zufall. Heute war der einzige freie Platz ihr gegenüber. Auch Zufall? Ich finde Sich-Gegenüber-Sitzen prima. Man ist gezwungen sich anzusehen. Sieht sich voll von vorne. Keine Chance im Gespräch etwas in eine andere Richtung zu nuscheln. Und außerdem fällt das Problem mit der Schokoladenseite weg. Man sitzt via a vis, Gesicht an Gesicht - face to face. Das hat etwas Unmittelbares. Keine Möglichkeit sich zu verstecken. Wir lächelten uns verhalten zu benahmen uns höflich und vermieden es ansonsten, uns zu nahe zu kommen. Patrick fuhr seine Köstlichkeiten auf und wir schlemmten wie die morgenländischen Fürsten. Taten uns an Reis mit Lamm, Reis mit Rind, Reis mit Schwein und Obst und Reis mit viel Scharf nebst erklecklichen Mengen Vinho Verde gütlich. Bis wir pappsatt waren. Zugegeben, indisches Essen mit portugiesischem Landwein ist nicht gerade eine klassische Verbindung. Aber der Vorteil bei Vinho Verde ist, daß man ihn gutgekühlt in rauhen Mengen genießen kann, ohne ins Koma zu fallen. Wir verbrachten also angenehme Stunden, die durch den Wein und das gute gemeinsame Essen eine Vertrautheit und Lockerheit aufkommen ließ, die mir ein wenig die Nervosität nahm. Saßen in der warmen Küche, während draußen ganze Kohorten von Freizeit-Pyrotechnikern und ander Knallköpfe einen Heidenlärm veranstalteten, bei dem vermutlich der Staatshaushalt eines mittleren afrikanischen Landes in Krach aufging. Hatten Kinder um uns herum. Idylle im Gefühl. Tina schien mich nicht wahrzunehmen, lachte und scherzte mit Jan, hockte mit ihm auf der Küchenbank und kommentierte hochfliegenden pyrotechnischen Bemühungen der im Hinterhof versammelten, war sehr vertraut mit ihm. Ich hatte dabei ein Gefühl wie Nägel im Herz, hatte den Gedanken an das Skrupelband noch nicht vergessen. Und das Gefühl, daß irgendwer mir irgendwas sagen wollte. Nur was? Vielleicht sowas wie: "Achtung, du bist dabei dich zu verlieben. Vorsicht! Du hast sonst keine Kontrolle über deine Gefühle. Paß auf! Das kann wehtun!" Mir gingen die Lampen an. Mit anderen Worten, mich hatte die eisige Hand der Eifersucht am Kragen. Völlig unbegründet, wie sich bald heraustellte. Wir zelebrierten unsere kleinen Höflichkeits-Rituale, wie wir es am Abend vorher verabredet hatten. Wir waren wegen des rüpelhaften Benehmens von Markus - der mit den Fingern eine Mandarine von ihrem Teller grapschte - auf Benimm zu sprechen gekommen. Sie war empört. So kamen wir auf den Knigge. Bestätigten uns gegenseitig die Ungeheuerlichkeit dieses Verhaltens. Ich bemühte mich um sie, gab ihr Feuer, holte das nächste Bier, war aufmerksam. Und so verabredeten wir, daß dies so bleiben solle, wann immer wir uns sähen. Und so kam es auch. Wir exerzierten unsere Knigge-Spiele durch, zur allgemeinen Belustigung. Ich sprang auf, wenn sie Anstalten machten, sich eine Zigarette anzuzünden, trat an ihre Seite und gab ihr Feuer; sie bedankte sich artig, ich machte meinen Diener und setzte mich wieder. Die Gespräche plätscherten dahin. Zwischen den Sätzen flog gelegentlich ein kurzes Lächeln zu mir herüber, oder ein tiefer dunkelbrauner Blick gab mir Anlaß dem Herrn zu danken. Dann, um Mitternacht, oder kurz danach, nickten wir uns ein "Prost-Neujahr" zu und stellten fest, daß es sich nicht lohne großes Aufhebens davon zu machen, zumal wir nicht einmal Bleigießen könnten. So ging es eine Weile hin und her, als es, so gegen zwei, an der Tür klingelte. Danny, die eigentlich Daniela heißt, aber nichts gegen die Verniedlichung ihres Namens hat. Ich vermute sogar, daß es auf ihrem Mist gewachsen ist. Das scheint bei Frauen immanent zu sein, dieser Hang zur Verkleinerung, wie, um sich verletzlicher, hilfebedürftiger zu geben als frau wirklich ist. Um dann jederzeit was von Bevormundung wettern zu können, macht mann den Fehler, dieser Bagatellisierung Glauben zu schenken. Danny war Tinas gute Freundin und Jans neue Flamme. Sie berichtete - mit, vom vielen Schreien bröckeliger Stimme - von ihren Party-Erlebnissen. Sie hatte auf einer dieser Mega-Feten getanzt, die alljährlich zu Silvester - von einer der Legion zählenden, privaten Lokalradios - veranstaltet werden. Jan hatte Sternchen im Blick. Wir lachten noch gemeinsam eine Stunde das neue Jahr aus, bis die beiden sich verabschiedeten. Für sie war der Abend noch lange nicht zuende. Das war deutlich. Patrick meldete eine Stunde später, er habe jetzt eine Verabredung mit Morpheus und müsse nun in die Falle. Wir könnten aber gerne noch sitzenbleiben. Diese Anregung griffen wir auf. In den folgenden Stunden redeten Tina und ich die Welt von links nach rechts; das Universum von oben nach unten. Berichteten uns von unseren gerade beendeten Beziehungen. Wie um uns zu sagen: "Ich bin frei. Wir können tun was wir wollen". Redeten viel Quatsch tasteten uns aneinander und hatten das Glück, Zeit zu haben. Ein ganzes, ein neues Jahr lag vor uns. Einige Flaschen Wein wurden ihrer Bestimmung zugeführt. Wir lachten viel, blickten uns lange an und lächelten uns zueinander. Ihr Duft wehte zu mir herüber und sie ließ mich an ihrem Hals riechen. Gestattete Nähe. Ließ mich auf Haaresbreite an sich heran. Das allein schon reicht, um daraus den denkwürdigsten Silvester-Abend zu machen. Als Patrick um zehn aus den Federn kam, saßen wir immer noch in der Küche. Euphorisch - prickelnde, endorphingeschwängerte Gedanken im Kopf - hatten wir uns in Trance geredet. Er war nicht schlecht erstaunt, uns knallwach vorzufinden. Er hingegen sah aus als sei sein Kissen explodiert. Mit vom Schlaf verquollenen Augen und einer Stimme, von der man glauben konnte er sei im Stimmbruch, hockte er auf dem Stuhl. Die beiden Kleinen waren inzwischen auch schon wachgeworden und rumorten im Kinderzimmer, spielten irgendetwas das ganz entschieden mit viel Lärm und großem Hallo zu tun hatte. Vielleicht Parlament oder Massenkarambollage auf der A7. Kamen in die Küche gespritzt und schafften es, Patrick Panik ins Gesicht zu zaubern. Er beantwortete diesen Angriff auf seine mentale und akustische Unversehrtheit mit einer dieser Entweder-Oder-Aussagen. Die beiden entschieden sich für das Oder und trollten sich nach nebenan, um dort mit doppelter Lautstärke etwas zu spielen, das von unserem Standort aus nach Raketenstart oder Love-Parade klang. Aber sie hatten offenbar Spaß. Patrick kam langsam zu sich. Er sah zwar immer noch aus wie ein ungemachtes Bett aber seine Sätze wurden zunehmend länger. Tina und ich waren dazu übergegangen uns "Schatz" zu nennen um seine Reaktion zu testen. Wir hinterließen nichts als ein großes Fragezeichen. Keine Reaktion. Jedenfalls keine sichtbare. Nach dem zweiten Becher Kaffee schien ihm aber dann doch zu dämmern, daß irgendetwas geschehen war. Das wir ein Verständnis entwickelt hatten. Einen dünnen Faden spannen, der uns in Verbindung hielt. Er kommentierte das nächste "Schatz" mit einem seiner typischen verschmitzten Lacher. Ein kurzes breites "Haha", wobei er eine 180-Grad-Drehung beider Handgelenke vollführte, als fürchte er das Lachen könne seine Gitarristen-Hände einfrieren. Vielleicht überspielte er damit auch bloß seine Verlegenheit. Versuchte sozusagen dadurch, daß er sein Arbeitsgerät ins Spiel brachte, sein Lachen als Ausbruch seriöser Belustigung zu tarnen. Die Erlaubnis zum Lachen, denn schließlich tat er ja auch etwas sinnvolles, wenn er seine Handgelenke lockerte. Um zwölf war dann endgültig zappenduster. Wir wurden müde. Pia, Tinas sechsjährige Tochter, drängte zum Aufbruch. Also verabschiedete ich mich. Mit ihrer Telefonnummer in der Tasche und einem langen Abschiedsblick in der Seele, machte ich mich auf den langen Marsch. Ich überlegte, ob ich diesen Tag in meinen Lebenslauf übernehmen solle, den ich anläßlich diverser Bewerbungen immer wieder neu frisierte. Den Heimweg war federnd, ich ging wie auf Watte. Vielleicht schwebte ich, was mich auch nicht gewundert hätte. Um halb eins fiel ich ins Bett und schlief. Bestimmt zwei Wochen, jedenfalls kam es mir so vor. In meinem Alter ist das nicht mehr so einfach... eine Nacht durchzumachen, das geht noch, aber mich dann auch noch zu verlieben das ist war zuviel.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
Oben Unten