Paris, ein Spaziergang, 19. Oktober 2019

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rockphan

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Samstagmorgen gegen 10 Uhr. Billiges Hotel. Winziges Zimmer, ein wenig schmuddelig, 50/60er Jahre Stil. Ideal als Kulisse für Krimis aus dieser Zeit. Der anonyme Killer reinigt seine Waffe vor dem Attentat, unbemerkt. Die Toilette auf dem Treppenabsatz. Das Badezimmer habe ich nicht mal gefunden.

Ich habe auch mein Arbeitsgerät. Heimlich lade ich mein iPhone, versteckt lese ich meine E-Mails. Mein schwarzer Rucksack ist aus kugelsicherem Material. Man kann nie wissen. Allerdings bin ich weniger anonym als der Attentäter. Das beginnt schon mit der Buchung über das Internet und der Navigation durch Google. Sie, genau sie, wissen immer, wo ich gerade bin. Das Leben unter dem Radar ist schwieriger geworden. Ich gewöhne mich langsam daran.

Ich gestehe, meine Aufgabe heute Morgen ist nicht besonders konspirativ. Alles, was ich tun muss, ist von der Rue de la Lune zum Busbahnhof Bercy zu gehen. 4,5 km in 3 Stunden. Ganz einfach. In den Straßen von Paris, zu Fuß. Gehen, um wahrzunehmen. Gehen ist die einzig adäquate Möglichkeit, einen Ort zu entdecken. Jede andere Fortbewegung ist zu schnell, um wirklich zu sehen, zu hören, zu fühlen. Ich schlendere mehr als ich gehe. Ich habe nicht diesen schnellen, entschiedenen und zielgerichteten Schritt drauf wie sonst. Ich bin neugierig, aufmerksam, nehme wahr.

Es ist ein wenig grau heute Morgen, weder warm noch kühl. Eine süße Melancholie geht von dieser Stadt aus. Die Dialektik von Paris. Lebendig und fröhlich, melancholisch und mürrisch. Ich gehe den Boulevard de Bonne Nouvelle hinunter, beobachte die Menschen, nehme Worte auf, verstehe Sätze. Jogger, Touristen, Eilende, Weilende, Familien. Einige auf e-Scootern, die seit kurzem die Bürgersteige unserer Großstädte unsicher machen. Alle Sprachen des Planeten. Ich schaue in fremde Gesichter. Lächelt er? Ist sie traurig? Was bewegt er hinter seiner Stirn? Welcher Film läuft in ihr ab, der unseren Augen verborgen ist?

Vor einem italienischen Restaurant, das gerade aufmacht, sprechen mich zwei Damen an.
" Would you mind taking a photograph with our smartphone please? " Engländerinnen, jenseits der vierzig. Sie bauen sich Arm in Arm vor einem Tisch auf, auf dem, liebevoll drapiert, die Delikatessen des Tages präsentiert werden. Sie nehmen rote Baskenmützen aus der Tasche, touristische Attribute. Cheese! Querformat für Facebook, Hochformat für Insta. Mein Verhalten ist perfekter Ausdruck der modernen Zeit. Und das ist auch gut so.

10:30 Uhr, noch ca. vier Kilometer.
Ich suche eine Bäckerei. Ich vermisse mein Frühstück. Ich gehe zu Fuß. Ich beobachte. Ich höre zu. Von Zeit zu Zeit ein Bild für die Insta-Geschichte.
It’s a long way to the top if you wanna rocknrolll. Heute: Es braucht viele Fotos, um Influencer zu werden.

Boulevard Saint Denis. Porte Saint Martin. Ich sehe den Gare de l‘Est. Ich gehe darauf zu. Ich mag Bahnhöfe, besonders die Bahnhöfe von Paris.
Ich stelle fest, dass mein Verlangen nach Zigaretten deutlich gedämpft ist. Ist es der außerirdische Preis für Tabak in Frankreich, der mein Bedürfnis derart runterfährt? Gare de l‘Est. Foto. Jardin du Villemin. Ich liebe die Gärten von Paris. Diese kleinen grünen Inseln inmitten eines Meeres aus Stein und Beton. Ich genieße meine Einsamkeit. Kein Wort, keine Antwort. Ich bin auf mich allein gestellt. Tatsächlich fühle ich mich nicht einsam, ich genüge mir vollauf. Als ich am Quai de Jemmapes ankomme, erinnere ich mich, dass ich schon immer die Kanäle von Paris sehen wollte. In den letzten Jahren, als ich in Paris war, war es eher auf der linken Seite der Seine. Die Gegend, durch die ich gerade gehe, ist für mich Neuland. Dieser Kanal ist von malerischer Schönheit mit seinen kleinen Schleusen, die ein Foto wert sind. Ich gehe über Brücken, Quai de Valmy, Quai de Jemmapes und zurück. Ich biege nach rechts ab zum Place de la République, Zeugnis verblassten Ruhms dieses Landes. Boulevard du Temple, und schließlich sehe ich auf der linken Seite: Eine Bäckerei. Paris am Morgen Du bist gerettet. Quiche und doppelter Espresso. Ich lächle. Die Anderen weniger. Ich stelle fest, dass die meisten Menschen einen mehr oder weniger ernsten oder gar trüben Gesichtsausdruck vor sich hertragen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn wir alle ein bisschen lächelten, ein wenig nur. Wären wir besserer Laune, glücklicher? Oder ist dieser leicht verdrießliche, energische, entschiedene Ausdruck im Gegenteil ein Spiegelbild unserer Bemühungen, dem Leid zu begegnen, von dem wir glauben, dass es unser Alltag sei? Aber Leben, ja Du, liegt nicht in all deinen Aspekten eine Schönheit verborgen? Gibt es nicht auch im Schmerz Schönheit?

Und ich, liebe Lesende, was geht in mir vor während dieses Spaziergangs?

Just in diesem Moment, kurz hinter der Bastille, komme ich zum Jardin des Ports de l'Arsenal. Neue Eindrücke, neue Bilder, die sich in meine Seele graben.
Ich sehe Paris, die schönste Stadt der Welt (?), als ältere Dame. Einst von erhabener Schönheit, immer stilvoll, gut gekleidet, gepflegt. Das Gesicht mit zahllosen Fältchen. Jede einzelne eine Erinnerung, ein Moment in einem außergewöhnlichen Leben. Sie war der Stern im Zentrum der Blitzlichter. Und jetzt. Hier und da blättert etwas Nagellack. Ein paar Altersflecken. Sie erzählt aus ihrem Leben, entführt in ihre Welt. Etwas sentimental, manchmal enthusiastisch und, als erste Anzeichen einer Altersdemenz, hier ein unpassendes Wort, da eine Erinnerung ohne Kontext.

Ich lausche der Geschichte, die mir diese Stadt durch ihre Architektur, ihre Straßen, ihre Bewohner und ihren Atem erzählt. Eine Geschichte, die nur diejenigen hören können, die wirklich still sind.

Ich komme an die Seine, rechtes Ufer. Ich erinnere mich an meine morgendlichen Läufe vor einigen Jahren. Sight-Jogging, Start Port Royal. Ich lief am linken Ufer entlang, genau gegenüber von meinem jetzigen Standort. Ich hielt von Zeit zu Zeit an, machte ein Foto, genau wie jetzt. Damals habe ich mich gefragt, wie die rechte Seite, wo ich gerade langlaufe, wohl aussähe.

Außerdem erinnere ich mich vage an die Straßen, die ich gerade durchstreife. 2008 lief ich den Paris-Marathon, 2009 den halben. Das war eine andere Welt, das Universum der LäuferInnen. Getragen vom Klang tausender Schritte auf dem Asphalt „tap, tap, tappe-di-tap“, geschoben von dem kollektiven – „Ich schaffe es!“, dem einzigen Gefühl, das bei einem Lauf wirklich zählt. Unnötig zu sagen, dass die Erinnerung an Straßen, Sehenswürdigkeiten und Plätze dagegen verblasst.

Weiter, immer weiter die Seine entlang Richtung Pont de Bercy. Ein leichter Regen kommt auf, um mir Gesellschaft zu leisten. Er stört mich nicht. Ich warte nicht mehr darauf, dass immer schönes Wetter ist. Ich habe meine Perspektive geändert. Ich nehme wahr, ich urteile nicht. Ich bin es, der überall ein wenig Schönheit entdeckt, wohin ich auch gehe. Es ist meine Entscheidung. Und das ist auch gut so.

Ach so, um auf meine Frage zurückzukommen. Was geht mir während dieses Spaziergangs durch den Kopf? Die Zeilen, die ich schreibe. Wörter fließen, bilden Sätze, inszenieren einen Moment. Umsichtig lege ich sie in die verschiedenen Schubladen meines Gedächtnisses wie Dateien auf einer Festplatte. Ich weiß immer ganz genau wissen, wo ich meine Erinnerungen finde.

Noch 600 m: Schilder weisen den Weg zum Flixbus. Cinémathèque. Noch einen Espresso. Busbahnhof.
Paris wir sehen uns.
Im Bus. Ich schreibe.
 



 
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