18.12.2009
Es war kalt.
Eiskalt.
Es war die Art von Kälte, die nicht einfach die Abwesenheit von Wärme war, sondern eine eigene, ganz deutlich spürbare Präsenz hatte. Es gab nicht lediglich zu wenig Wärme, es gab gar keine, und jemand hatte etwas Gewaltiges auf die andere Seite der Waagschale geworfen.
Ich hatte das Gefühl, von dieser Macht begleitet zu werden, es erschien mir unmöglich dass irgendeine Hitze der Welt den Kampf gegen diesen Schatten aufnehmen könnte, und würde ich mich in ein Bad kochendes Wasser setzen würde ich vermutlich einfach schmelzen, mich auflösen wie Eis, zu dem ich geworden war.
Die Nase schien mir vom Einatmen zugefroren zu sein, doch wenn ich durch den Mund zu tief Luft holte stach die Kälte in der Stirn. Der Atem war nicht nur sichtbar, es fühlte sich an, als müsse ich die Luft essen, wie eine glühend heiße Mahlzeit. Die Kälte brannte im Mund, in der Lunge. Es war als kröche sie mir durch jede Pore. Jeder Atemzug, jede Bewegung ließ kalte Schauer über meine Haut wandern. Eigentlich war es windstill, aber ab und zu griff ein Hauch unter die Kapuze und zerrte die mühsam angewärmte Luft darunter hervor.
Wie ein Netzwerk aus gefrierenden Adern spürte ich die Bahnen, welche die Tränen auf meinem Gesicht hinterlassen hatten.
Ich presste meine Hand flach gegen die Kleidung, um den Anhänger auf meiner Brust zu spüren. Eine Ahnung von Wärme und Hoffnung strich durch mich, als ich spürte wie mein Herz ihm entgegen schlug und die kleine Phiole sich sanft auf meine Haut drückte. Ich wusste ohnehin, dass sie da war, aber es tat gut sie zu spüren...
Taubheit ergriff meine Hand wie ein ungeduldiges Kind und zerrte an ihr. Ich fluchte über den törichten Einfall, die Finger aus dem Schutz der Manteltasche zu entlassen und der Umgebung auszusetzen. Als ich jedoch just in diesem Moment auf einer Eisschicht ausglitt war ich froh, mich an einem Mauervorsprung abstützen zu können, um nicht umzufallen. Ich taumelte weiter vorwärts, einige Tropfen angenehm warmes Blut liefen mir über die Handfläche, wo der scharfkantig vereiste Stein unzählige kleine Schnitte hinterlassen hatte. Das schmerzhafte Pochen in der Hand nahm langsam ab, während sie zu taub wurde, um die Verletzungen zu spüren. Nur die eisige Luft drückte einem Schraubstock gleich das letzte Leben aus meinen Fingern. Erschöpft holte ich tief Luft, was mir sofort mit einem neuen scharfen Stich in Stirn und Lunge gestraft wurde.
Der Friedhof Dornbach bezahlte seine wundervoll idyllische Lage am Hang im Winter mit Unbegehbarkeit. Die zum Teil aufgeplatzten Stufen und steilen Wegstücke waren trotz großzügigen Streuens äußerst tückisch, und das Schild mit der Aufschrift "Betreten auf eigene Gefahr" war vermutlich bezeichnend für diesen Ort. Die Damen unten in der Friedhofsgärtnerei hatten mich mitleidig betrachtet, als sie mir den Weg erklärten. Der Grabstein war noch nicht beschriftet, weshalb ich mir den Lageplan und die Nummer nicht nur sorgsam eingeprägt hatte, sondern auch eine Notiz mit mir führte. Leichtsinnigerweise in der Innentasche des Mantels. Ich hoffte inständig, das Grab zu finden ohne den Mantel öffnen zu müssen.
Gerade als ich mich in den Gedanken vertieft hatte, dass meine Chancen recht gut standen zu fallen und bewusstlos liegen zu bleiben, und dass ich die Ironie eines Todes auf dem Friedhof nicht würde zu schätzen wissen, entdecke ich die rettende Markierung der richtigen Parzelle. Schon beim Betreten des Quergangs erkannte ich das Grab. Es war das einzige ohne Beschriftung, und die unter Schnee und Frost zu erahnenden Kränze kündeten von der kurzen Zeit, die seit der Beerdigung vergangen war. Schnell brachte ich die letzten Schritte hinter mich und wischte mit der ohnehin gefühllosen Hand den Schnee vom Grabstein. Dann sank ich auf die Knie.
Ich hatte erwartet, dass der Moment sich wie eine Faust um mein Herz schließen würde, aber dem war nicht so. Ich fühlte stattdessen, wie sich ein Hauch von Wärme in mir ausbreitete. Ich atmete erleichtert durch und nahm die eisigen Nadeln in meiner Brust kaum noch wahr. Ich ließ mich so sehr in dieses Gefühl fallen, von der Hoffnung und Wärme und Erleichterung tragen, dass ich einen ganzen Moment lang entspannt mit geschlossenen Augen da saß.
Ganz fern hörte ich das geschäftige Summen der Großstadt, Wien war nicht in Winterschlaf verfallen. Das zögerliche Motorengeräusch eines fahrbaren Rasenmähers drang an mein Ohr, ich blickte nach rechts und sah einen Mann Streusalz auf den Weg werfen, während er das Gefährt die wenigen ebenen Strecken entlang lenkte. Er nickte mir kurz zu und sein Gesicht spiegelte grimmige Entschlossenheit wieder. Er war in eine dicke Jacke, Mütze und Schal gehüllt, und mit behandschuhten Händen führte er das Streugut wie eine Waffe gegen den anmaßend eisigen Eindringling.
Gibt es eine Friedhofsruhe? Ich schloss die Augen erneut und meinte, eine Mischung aus Andacht, Respekt, Trauer und Frieden zu spüren und zu hören... oder gerade nicht zu hören. Es war ein wenig als verschluckte die Umgebung unpassende Eindrücke so schnell, dass die sanfte Ahnung des Ortes klar vor einem schwebte. Würde man diesen Ort erkennen, wüsste man nicht wo man ist? Wäre er blind von einem Waldstück zu unterscheiden?
Mein Blick wanderte gen Himmel. Kleine Schneeflocken verfingen sich in meinen Augenbrauen und ließen mich blinzeln. Der Himmel leuchtete blau und kräftig, der Schnee fiel friedlich und langsam, die Helligkeit zwang meine Augen nieder. Das schien überhaupt nicht zu passen, noch vor einigen Minuten schien mir Dunkelheit das einzig Angemessene. Es war als würde mit dem Schnee eine Botschaft herab rieseln, ein wohlwollender Gedanke. Ein Lied fand den Weg in mein Bewusstsein und klammerte sich dort fest, immer wieder den Refrain in meine Gedanken zwingend, bis ich nicht anders konnte als nachzugeben und meiner eigenen Erinnerung an Gesang zu lauschen.
Du hast sie mir nicht weggenommen
Sie ist von selbst zu dir gekommen
Ich freu mich wenn sie lacht
Und wenn jemand sie glücklich macht
Und plötzlich verstand ich.
Sie war nicht verschwunden, sondern befreit, und ich würde sie nicht unter Trauer begraben, sondern in Erinnerungen weiterleben lassen. Das war ich ihr schuldig. Das war die Welt ihr schuldig. Die Welt, in der sie nicht mehr leben wollte.
Ich weinte, ich blutete, aber aus mir floss auch die aufgestaute Trauer, das Gefühl des Verlustes, die Bestürzung, das Unverständnis, der Gedanke, sie wäre einfach weg, die Angst an all dem Ungesagten zu ersticken, der Unwillen es wahr zu haben, die Selbstvorwürfe, die zerstörten Träume von der Zukunft...
Und dann fing ich an zu reden. Erst kam es mir ein wenig seltsam vor, aber dann wurde aus dem Denken unsicheres Murmeln und schließlich aus dem Gemurmel eine klare feste Stimme. Ich redete einfach los, erzählte ihr, wie es mir ging, sagte ihr, was ich dachte, fühlte, plauderte, riss Fragen an und versprach ihr weitere Besuche für die Zukunft. Ich kniete da, im eisigsten Winter, vor einem Grab ohne Namen in einem anderen Land und unterhielt mich mit einer Toten, völlig entrückt von der Welt.
Ich hauchte ihr zum Abschied einen Kuss zu.
Als ich den Eispfad herunter stolperte, war ich so erleichtert, dass ich kaum einen Gedanken an Kälte und Frost verschwendete. Die Finger pochten verzweifelt und die Zehen stachen in den Schuhen, als wollten sie mich daran erinnern, wer hier herrschte. Doch auch als ich ausrutschte und einige Meter hangabwärts schlitterte, lachte ich nur. Ich fing mich und eilte weiter. Mein Körper reagierte empört, ich zitterte furchtbar, aber mein Gehirn verweigerte schlichtweg die Kenntnisnahme. Erst als ich im Bus stand und die Euphorie langsam abklang, realisierte ich mein Schlottern, die Taubheit, die Verletzungen, die Zeichnungen des Eises... Und lächelte wie nach einer Schlacht, die man verlustreich, aber als Sieger überstanden hatte.
Ich presste erneut den Anhänger an meine Brust.
Leise murmelte ich "Danke, dass du noch immer für mich da bist... ich liebe dich."
Es war kalt.
Eiskalt.
Es war die Art von Kälte, die nicht einfach die Abwesenheit von Wärme war, sondern eine eigene, ganz deutlich spürbare Präsenz hatte. Es gab nicht lediglich zu wenig Wärme, es gab gar keine, und jemand hatte etwas Gewaltiges auf die andere Seite der Waagschale geworfen.
Ich hatte das Gefühl, von dieser Macht begleitet zu werden, es erschien mir unmöglich dass irgendeine Hitze der Welt den Kampf gegen diesen Schatten aufnehmen könnte, und würde ich mich in ein Bad kochendes Wasser setzen würde ich vermutlich einfach schmelzen, mich auflösen wie Eis, zu dem ich geworden war.
Die Nase schien mir vom Einatmen zugefroren zu sein, doch wenn ich durch den Mund zu tief Luft holte stach die Kälte in der Stirn. Der Atem war nicht nur sichtbar, es fühlte sich an, als müsse ich die Luft essen, wie eine glühend heiße Mahlzeit. Die Kälte brannte im Mund, in der Lunge. Es war als kröche sie mir durch jede Pore. Jeder Atemzug, jede Bewegung ließ kalte Schauer über meine Haut wandern. Eigentlich war es windstill, aber ab und zu griff ein Hauch unter die Kapuze und zerrte die mühsam angewärmte Luft darunter hervor.
Wie ein Netzwerk aus gefrierenden Adern spürte ich die Bahnen, welche die Tränen auf meinem Gesicht hinterlassen hatten.
Ich presste meine Hand flach gegen die Kleidung, um den Anhänger auf meiner Brust zu spüren. Eine Ahnung von Wärme und Hoffnung strich durch mich, als ich spürte wie mein Herz ihm entgegen schlug und die kleine Phiole sich sanft auf meine Haut drückte. Ich wusste ohnehin, dass sie da war, aber es tat gut sie zu spüren...
Taubheit ergriff meine Hand wie ein ungeduldiges Kind und zerrte an ihr. Ich fluchte über den törichten Einfall, die Finger aus dem Schutz der Manteltasche zu entlassen und der Umgebung auszusetzen. Als ich jedoch just in diesem Moment auf einer Eisschicht ausglitt war ich froh, mich an einem Mauervorsprung abstützen zu können, um nicht umzufallen. Ich taumelte weiter vorwärts, einige Tropfen angenehm warmes Blut liefen mir über die Handfläche, wo der scharfkantig vereiste Stein unzählige kleine Schnitte hinterlassen hatte. Das schmerzhafte Pochen in der Hand nahm langsam ab, während sie zu taub wurde, um die Verletzungen zu spüren. Nur die eisige Luft drückte einem Schraubstock gleich das letzte Leben aus meinen Fingern. Erschöpft holte ich tief Luft, was mir sofort mit einem neuen scharfen Stich in Stirn und Lunge gestraft wurde.
Der Friedhof Dornbach bezahlte seine wundervoll idyllische Lage am Hang im Winter mit Unbegehbarkeit. Die zum Teil aufgeplatzten Stufen und steilen Wegstücke waren trotz großzügigen Streuens äußerst tückisch, und das Schild mit der Aufschrift "Betreten auf eigene Gefahr" war vermutlich bezeichnend für diesen Ort. Die Damen unten in der Friedhofsgärtnerei hatten mich mitleidig betrachtet, als sie mir den Weg erklärten. Der Grabstein war noch nicht beschriftet, weshalb ich mir den Lageplan und die Nummer nicht nur sorgsam eingeprägt hatte, sondern auch eine Notiz mit mir führte. Leichtsinnigerweise in der Innentasche des Mantels. Ich hoffte inständig, das Grab zu finden ohne den Mantel öffnen zu müssen.
Gerade als ich mich in den Gedanken vertieft hatte, dass meine Chancen recht gut standen zu fallen und bewusstlos liegen zu bleiben, und dass ich die Ironie eines Todes auf dem Friedhof nicht würde zu schätzen wissen, entdecke ich die rettende Markierung der richtigen Parzelle. Schon beim Betreten des Quergangs erkannte ich das Grab. Es war das einzige ohne Beschriftung, und die unter Schnee und Frost zu erahnenden Kränze kündeten von der kurzen Zeit, die seit der Beerdigung vergangen war. Schnell brachte ich die letzten Schritte hinter mich und wischte mit der ohnehin gefühllosen Hand den Schnee vom Grabstein. Dann sank ich auf die Knie.
Ich hatte erwartet, dass der Moment sich wie eine Faust um mein Herz schließen würde, aber dem war nicht so. Ich fühlte stattdessen, wie sich ein Hauch von Wärme in mir ausbreitete. Ich atmete erleichtert durch und nahm die eisigen Nadeln in meiner Brust kaum noch wahr. Ich ließ mich so sehr in dieses Gefühl fallen, von der Hoffnung und Wärme und Erleichterung tragen, dass ich einen ganzen Moment lang entspannt mit geschlossenen Augen da saß.
Ganz fern hörte ich das geschäftige Summen der Großstadt, Wien war nicht in Winterschlaf verfallen. Das zögerliche Motorengeräusch eines fahrbaren Rasenmähers drang an mein Ohr, ich blickte nach rechts und sah einen Mann Streusalz auf den Weg werfen, während er das Gefährt die wenigen ebenen Strecken entlang lenkte. Er nickte mir kurz zu und sein Gesicht spiegelte grimmige Entschlossenheit wieder. Er war in eine dicke Jacke, Mütze und Schal gehüllt, und mit behandschuhten Händen führte er das Streugut wie eine Waffe gegen den anmaßend eisigen Eindringling.
Gibt es eine Friedhofsruhe? Ich schloss die Augen erneut und meinte, eine Mischung aus Andacht, Respekt, Trauer und Frieden zu spüren und zu hören... oder gerade nicht zu hören. Es war ein wenig als verschluckte die Umgebung unpassende Eindrücke so schnell, dass die sanfte Ahnung des Ortes klar vor einem schwebte. Würde man diesen Ort erkennen, wüsste man nicht wo man ist? Wäre er blind von einem Waldstück zu unterscheiden?
Mein Blick wanderte gen Himmel. Kleine Schneeflocken verfingen sich in meinen Augenbrauen und ließen mich blinzeln. Der Himmel leuchtete blau und kräftig, der Schnee fiel friedlich und langsam, die Helligkeit zwang meine Augen nieder. Das schien überhaupt nicht zu passen, noch vor einigen Minuten schien mir Dunkelheit das einzig Angemessene. Es war als würde mit dem Schnee eine Botschaft herab rieseln, ein wohlwollender Gedanke. Ein Lied fand den Weg in mein Bewusstsein und klammerte sich dort fest, immer wieder den Refrain in meine Gedanken zwingend, bis ich nicht anders konnte als nachzugeben und meiner eigenen Erinnerung an Gesang zu lauschen.
Du hast sie mir nicht weggenommen
Sie ist von selbst zu dir gekommen
Ich freu mich wenn sie lacht
Und wenn jemand sie glücklich macht
Und plötzlich verstand ich.
Sie war nicht verschwunden, sondern befreit, und ich würde sie nicht unter Trauer begraben, sondern in Erinnerungen weiterleben lassen. Das war ich ihr schuldig. Das war die Welt ihr schuldig. Die Welt, in der sie nicht mehr leben wollte.
Ich weinte, ich blutete, aber aus mir floss auch die aufgestaute Trauer, das Gefühl des Verlustes, die Bestürzung, das Unverständnis, der Gedanke, sie wäre einfach weg, die Angst an all dem Ungesagten zu ersticken, der Unwillen es wahr zu haben, die Selbstvorwürfe, die zerstörten Träume von der Zukunft...
Und dann fing ich an zu reden. Erst kam es mir ein wenig seltsam vor, aber dann wurde aus dem Denken unsicheres Murmeln und schließlich aus dem Gemurmel eine klare feste Stimme. Ich redete einfach los, erzählte ihr, wie es mir ging, sagte ihr, was ich dachte, fühlte, plauderte, riss Fragen an und versprach ihr weitere Besuche für die Zukunft. Ich kniete da, im eisigsten Winter, vor einem Grab ohne Namen in einem anderen Land und unterhielt mich mit einer Toten, völlig entrückt von der Welt.
Ich hauchte ihr zum Abschied einen Kuss zu.
Als ich den Eispfad herunter stolperte, war ich so erleichtert, dass ich kaum einen Gedanken an Kälte und Frost verschwendete. Die Finger pochten verzweifelt und die Zehen stachen in den Schuhen, als wollten sie mich daran erinnern, wer hier herrschte. Doch auch als ich ausrutschte und einige Meter hangabwärts schlitterte, lachte ich nur. Ich fing mich und eilte weiter. Mein Körper reagierte empört, ich zitterte furchtbar, aber mein Gehirn verweigerte schlichtweg die Kenntnisnahme. Erst als ich im Bus stand und die Euphorie langsam abklang, realisierte ich mein Schlottern, die Taubheit, die Verletzungen, die Zeichnungen des Eises... Und lächelte wie nach einer Schlacht, die man verlustreich, aber als Sieger überstanden hatte.
Ich presste erneut den Anhänger an meine Brust.
Leise murmelte ich "Danke, dass du noch immer für mich da bist... ich liebe dich."