Hey charlotte!
Ja - da berührst Du einen echt spannenden Punkt!
Machte man eine Umfrage am Stammtisch (also im Netz), so würde die Mehrheitsmeinung vermutlich so ähnlich lauten wie: "Der Menschen an sich ist (ziemlich) schlecht." oder vielleicht auch "Der Mensch ist eine 'Fehlkonstruktion': Zu dumm für seine Schlauheit." Die Formulierungen mögen variieren, aber die wenigsten werden ein im Grundsatz optimistisches Menschenbild vertreten, wonach sich "der Mensch" sich im Großen und Ganzen doch eigentlich ganz anständig verhielte. Wer so etwas behauptete, dem flögen aber die Gegenbeweise in Form einer kurzen Liste aktueller Kriegsgräuel oder dem Verweis auf die Umweltzerstörung nur so um die Ohren. Na gut. Gekauft. Also dann ist der Mensch eben ein ganz schönes Desaster.
Wenn man jetzt aber fragte, ob man sich selbst sowie die nächsten Anverwandten und Freunde auch für derartige Evolutionsnieten hielte, käme mehrheitlich ein deutlich aufgehellteres Bild zustande - ggf. mit kleinen Einschränkungen ("wobei... na gut... der Onkel Herbert ist schon etwas gruselig... aber der hatte auch eine schwere Jugend und eigentlich ist ja vor allem seine Frau, die blöde Brunhilde das Problem"), aber im Großen und Ganzen doch einigermaßen akzeptabel. Wenn aber doch im Umkreis der Menschheitsmehrzahl alle Zeitgenoss*innen so einigermaßen ok sind, warum sieht es dann in der Gesamtsumme aller Menschen so anders aus?
Deine Diagnose, einer mangelnden Furcht "des" Menschen vor "den" Menschen, könnte ein Hinweis darauf sein, dass wir die problematischen Folgen der minderschweren Alltagsfehlerhaftigkeit gegenüber den offenkundigen Konsequenzen individueller Maximalbösartigkeit unterschätzen.
Vielleicht reicht es aus, wenn (ansonsten normalfürsorgliche) Eltern ihr Kleinkind barsch anblaffen, das ihnen gerade voller Vorfreude und Künstlerstolz das tolle Kritzelbild auf der Raufasertapete im Hausflur vorgeführt hat oder wenn wir uns gegenüber dem Personal an der Supermarktkasse jedes "Danke", "Bitte" und freundliche Lächeln sparen, weil wir gerade finstergesichtig mit unseren Gedanken bei der Steuererklärung sind.
Vielleicht entsteht aus solchen kleinen Rippeleffekten mit ein paar Jahren Verzögerung am anderen Ende der Welt ein schwer gestörter und gemeingefährlicher Machtmensch, der von allen geliebt werden möchte und sie zugleich, zutiefst gekränkt, als völlig verachtenswerte Kreaturen betrachtet.
Sind wir (die Normalen) etwa selber schuld?
LG!
S.