Christopher Wallace
Mitglied
1.1 Vergeltung Teil :1
Rot. Es war der dritte Tag der Belagerung. Essen, eine Stadt im Westen Deutschlands, hatte einen neuen Herrscher. Nebel, soweit das Auge reichte und ein Ende war, fürs Erste nicht in Sicht. Trotzdem, durch den endlos wirkenden Nebel, war der rote Porsche, der vor dem Pelayo geparkt hatte, recht gut zu erkennen.
Joshua sagte: „Du wolltest es mir nicht glauben, aber jetzt kannst du es mit deinen eigenen Augen sehen. Er ist im Pelayo. Primo, bestimmt sitzt er dort und lacht über uns.“
„Bestimmt“, antwortete Primo. „Aber heute Nacht noch wird ihm das scheiß Lachen vergehen.“ Primo sah Joshua in die Augen. „Heute ist die Nacht, in der ein Oger im Nebel sterben wird!“ Primo und Joshua saßen in einem schwarzen Ford Focus und warteten darauf, dass Rahim Al Sharif alias der Oger, das Restaurant verließ.
Rahim musste sterben, weil Rahim Jamal ermordet hatte. Primo, Joshua und Jamal waren gemeinsam aufgewachsen, hatten dieselbe Schule besucht und fingen gemeinsam damit an, ihr Geld auf der Straße zu verdienen – bis Primo vor drei Jahren die Entscheidung traf, die Geschäfte hinter sich zu lassen. Sein Rückzug aus diesem brutalen Leben, hielt ihn aber nicht davon ab, Jamals Tod rächen zu wollen.
Verborgen im Schatten und geschützt durch den Nebel, parkte Primo seinen Wagen so, dass er direkten Blick auf den Hinterhof des Pelayos hatte. Beim Vorbeifahren waren ihm noch fünf weitere Autos aufgefallen, die neben dem roten Porsche standen.
Die beiden Jungs waren ohne definitiven Plan hergefahren. Jamals Ermordung lag nur einige Stunden zurück. Vorläufig wollten sie darauf warten, bis sie Rahim zu Gesicht bekämen und ihm dann so lange aufzulauern, bis sich die passende Gelegenheit ergeben hat, um dann zu zuschlagen. Dafür hatte Primo Joshua seinen Revolver gegeben. Primo selbst vertraute auf seinem Körper.
Die Hintertür des Pelayos öffnete sich und die beiden Jungs zuckten auf. Licht drang aus dem Pelayo, der Nebel lichtete sich ein wenig. Die Silhouette der herauskommenden Person ließ sich erkennen - es war eine Frau, die aus dem Restaurant kam. Die Tür hatte sie hinter sich nicht geschlossen und Primo und Joshua sahen ihr dabei zu wie sie eine Zigarette rauchte. Somit wussten die beiden Jungs Bescheid, dass, sollte der Oger aus dieser Tür treten, sie ihn auf Anhieb erkennen würden.
Primo wand seinen Blick vom Restaurant hin zu Joshua, Schweißperlen hatten sich auf dessen Stirn gebildet. Joshua wirkte auf Primo verdächtig zurückhaltend, seitdem sie vor dem Pelayo standen. Dabei war Joshua wie Feuer und Flamme gewesen, als er Primo aufsuchte, um ihm davon zu berichten, was Jamal widerfahren war. „Die Araber haben Jamal gepackt!“ waren Joshuas Worte und Primo wusste was damit gemeint war. Es wurde gemeinsam geschimpft, geflucht und auch kurz geweint, bis sie sich dann wieder fassten. Die Schwere ihrer Situation machte sich in ihren Herzen bemerkbar. Weder Primo noch Joshua sprachen es aus und doch wussten es beide, dass in diesem Geschäft, keine Tat unbestraft bleiben durfte. „Verliere niemals dein Gesicht!“ war eines der Gebote der Straße; hier und jetzt auf Rache zu verzichten, hieß selbst zur Zielscheibe zu werden. Der Wunsch nach Rache brodelte in ihnen wie die Lava in einem Vulkan, und wurde, von der von außen auferlegten Pflicht, seinen Mann zu stehen, nur weiter erhitzt.
„Kommst du klar?“, fragte Primo Joshua, obwohl er sehen konnte, dass dieser so aussah, als hätte er einen Geist gesehen.
„Was ist das für eine scheiß Frage? Natürlich“, antwortete Joshua. Seine Stimme war energisch und Primo verstand, dass sein Freund nur versuchte „seinen Mann zu stehen“. Die Furcht, die Primo in Joshuas Augen sah, konnte er trotzdem nicht ignorieren.
Die Hintertür öffnete sich das zweite Mal, seitdem sie da waren. Es kamen zwei Männer aus dem Restaurant. Keiner der beiden war der Oger. Es schien als würden sie sich streiten, dann trat eine Frau an die Tür, fuchtelte mit den Armen herum und ging wieder ins Lokal. Die beiden Männer folgten ihr und die Tür fiel hinter ihnen zu. Nebel.
Primo sah auf die Uhr, es war kurz nach drei. Die Nacht war still und die Straßen leer. Der Geschmack von Metall verbreitete sich langsam in seinem Mund. Joshua nahm eine Ampulle aus seiner Jackentasche heraus, die bis zum Rand hin mit einer weißen Substanz gefüllt war. Wenn es dir dabei hilft, bei der Sache zu bleiben, warum nicht, dachte sich Primo. Schließlich konnte er Joshuas sehr gut verstehen. Er selbst hatte sich schon viele Male geprügelt, er hatte Schläge einstecken müssen und viele ausgeteilt, aber ganz gleich wie brutal diese Kämpfe waren, eine Sache wurde immer strengstens befolgt: Der Kampf endet, wenn der Gegner nicht mehr aufstehen kann – ein weiteres Gebot der Straße. Heute Nacht aber ging es darum, dann weiterzumachen, wenn der Gegner am hilflosesten ist; heute Nacht ging es nicht darum dem Gegner Leid zu zufügen, sondern ihn von allen Formen des Leides zu erlösen. Wobei diese Tatsache nicht einmal das Wesentliche war, es steckte mehr dahinter. Die Zielperson, Rahim Al Sharif, war der dritte Unterboss des Al Sharif Clans. So gut wie jeder wusste, dass, wer sich mit einem der Familie anlegte, sich mit der ganzen Familie anlegte. Was sie mit einem taten, der sich an einen der Fußsoldaten vergriffen hatte, war schon unaussprechlich; um seinen besten Freund rächen zu können, musste Primo mit seinem eigenen Leben abschließen. Auf dem Weg zum Pelayo jedoch, kam Primo die Erkenntnis, dass er sich, seitdem er sich aus den Geschäften zurückgezogen hatte, sich nichts sehnlicher gewünscht hatte: Primo war bereit zu sterben! Konnte dasselbe auch von Joshua gesagt werden?
Viertel nach Vier. Es war jetzt fast eine Stunde her, seitdem Primo und Joshua vor dem Pelayo geparkt hatten. Fünf Autos hatten das Pelayo in der Zeit verlassen, nur noch der rote Porsche stand an seinem Platz. Rahim hatten die beiden Freunde noch nicht gesehen. Primos Sinne standen, wie schon zu Beginn, auf Bereitschaft und er nahm die Fülle an vorbeiziehenden Informationen akkurat auf. So konnte er die Veränderungen an Joshua gar nicht übersehen. Es schien als wäre Joshua in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Seine Haut war so weiß geworden, fast wie das Pulver, dass er gerade noch geschnieft hatte. Seine trockenen und rissigen Lippen, die dicke Ader an seiner Stirn, die einer Nabe glich, seine viel zu flache Atmung und dass er fürchterlich schwitze, was merkwürdig war, den Joshua beklagte sich schon die ganze Zeit darüber, dass ihm kalt sei – jedes Detail fiel Primo auf.
„Bist du dir sicher, dass du das heute durchziehen kannst?“
„Für wem hältst du mich?“, antwortete Joshua gereizt. „Du hältst mich für schwach? Mich? Ich werde auf keinen Fall den Schwanz einziehen … oder willst du, dass die anderen mich für schwach halten?“ Ehe Primo antworten konnte, sprach Joshua weiter: „Jamal war nicht nur dein Freund, Bruder. Ich bin es ihm genauso schuldig wie du.“ Primo lächelte verständnisvoll. Dann richtete er seinen Blick, weg von Joshua hin zum Pelayo. In dem Moment fand er es merkwürdig, in welcher Deutlichkeit der rote Porsche, trotz des dichten Nebels, zu erkennen war. Das Rot, welches ihn an Blut erinnerte und Blut wiederum an Flammen - unbändige, lodernde Flammen – brachte etwas ihn ihm zu kochen und er sagte, ohne selbst zu wissen weshalb: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eigenen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!“ Stille. Stille. Nebel.
„Was zur Hölle soll das jetzt bedeuten?“, fragte Joshua. Primo schwieg, er konnte nicht reden. Er hatte die Worte ausgesprochen und es wurde ihm augenblicklich warm ums Herz, und erkannte Mal wieder welche Macht Worte besitzen konnten. Joshua hatte ihm von Jamals Tod erzählt und die Pflicht, den Tod seines Freundes zu rächen, setzte sich wie eine Last auf seine Seele. Angst und Unsicherheit versteckten sich, im dunkelsten Winkel seines Bewusstseins und warteten nur darauf, dass er Nachlässigkeit zeigte. Doch kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, kam ihm alles leicht vor; ihm waren Flügel gewachsen.
Für einen Augenblick sah er sich selbst als Falken, der über Städte, Wälder, Täler und Berge flog und auf die Welt hinabsah, weil es keinen Grund mehr gab hinaufzusehen. Primo sah Joshua in die Augen. „Weißt du, Bruder“, fing er an und der Klang seiner Stimme war weich, voller Gutmütigkeit, er sprach nicht zu laut und auch nicht zu leise, in dem Moment hörte er sich nicht so an, wie ein Mann, der kurz davor war einen Mord zu begehen. „Weißt du Bruder, manchmal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich riesige Bäume, die unter dem Lichte einer neuen Sonne wachsen, und diese Bäume tragen Früchte, welche riesig und fett sind. Für den Menschen unbekannte, unerforschte - und obwohl diese reif und bereit sind gepflückt zu werden – unberührte Früchte. Nur wer vorrangeht, auch auf die Gefahr hin zu sterben, kann dem Unbekannten die Maske ausziehen. Wo ist dieser mutige Vorkoster?“
„Was ist mit dir?“, fragte Joshua überfordert.
„Ich stehe am höchsten Punkt der Erde und Blicke auf die Menschheit herab. Ich sehe ein zerstörte Stadt. Zerstückelte Leichen. Leichen von Kindern, Leichen von Frauen und auch Leichen von Soldaten. Leid, soweit das Auge reicht. Aber ich empfinde weder Trauer noch Mitleid. Mir wird warm ums Herz und das Gefühl in mir, lässt sich womöglich am besten mit dem Wort Ehrfurcht beschreiben. Wahrhaftig mein Bruder, solange du den Tod für das Ende hältst, solange wird dir der Baum, samt seiner Früchte, dir stets ein Feind sein. Aber neue Tage lassen uns neue Wahrheiten erkennen und nach diesem sollst du es verstehen: Der Tod ist nicht das Ende, der Tod ist erst der Anfang.“
1.2 Vergeltung Teil:2
Ehe Primo erklären konnte, was er mit dem gerade Gesagtem meinte, klopfte es an Joshuas Fenster. Die beiden Jungs erschraken. Joshua ließ sein Fenster runterfahren und eine hässliche Stimme drang ins Autos, auf welcher ein noch hässlicheres Gesicht folgte: „N´Abend.“ Weder Primo noch Joshua erwiderten die Begrüßung und der Mann, ein Obdachloser, durchwühlte mit seinem Blick das Auto, fast so, als hätte er darin etwas Persönliches verloren. Primo war nicht überrascht so einen Mann hier zu sehen. Es hatte sich herumgesprochen, dass, seitdem die Al Sharifs über den Essener Stadtteil Rüttenschiedt herrschten, sich die Gegend in einer Hochburg für Abhängige entwickelte. Diese pilgerten förmlich hierhin, auf der Suche nach dem heiligen, weißen, kolumbianischen Berg Zion.
„Scheiße, kann man dir weiterhelfen?“ Primos Stimme war scharf und bedrohlich.
„Ach Mister“, fing der Obdachlose an, der sich gekünstelt ausdrückte. „Ich bin gerade an dieses Automobil vorbeigelaufen und war mir sicher, dass …“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine Nase.
„Sowas haben wir hier nicht“, antwortete Joshua. Der Mann jedoch gab sich nicht so leicht geschlagen.
„Meine Herren, ich bin es doch. Sie kennen mich … haben Sie etwa vergessen? Warum schauen Sie mich so an, drohend, skeptisch, gar misstrauisch? Ich weiß es jetzt, Sie sind Suchende! Aber auch ich bin einer, meine Herren. Ich suche nach etwas Höherem, aber finden tue ich nichts. Ich denke, dass ich zu oft krieche, aber … aber sollten wir uns deshalb nicht in prekären Situationen gegenseitig Hilfe leisten? Denn …“ Der Obdachlose brach seinen Monolog abrupt ab. Er hatte Primo in die Augen gesehen. Ein Verhältnis, ähnlich wie das zwischen Raubtier und Beute, Falke und Kaninchen, hatte sich zwischen den beiden etabliert.
„Ich bedanke mich aufrichtig für Ihren Beistand, meine Herren. Möget Ihr die Wahrheiten finden, nach denen Ihr sucht und keinen Torheiten begehen.“ Genauso plötzlich wie er gekommen war, war er auch verschwunden.
„Was ein Gestank, alter“, sagte Primo genervt.
„Bei dem scheiß Gestank sollte er ein Schild tragen“, fügte Joshua hinzu.
Als sich beide Jungs zum Pelayo hindrehten, öffnete sich die Hintertür. Eine schon fast monströse Gestalt zeigte sich. Der Mann, der an der Tür stand, musste über zwei Meter groß sein. Aufgrund seiner breiten Schultern, konnte er nur seitlich durch die schmale Tür und wer ihn auf unter 130 kg schätze, hätte damit genauso wenig recht, wie mit der Aussage, dass Wasser bei Minustemperaturen stets gefriert. Bei dieser Wucht von Mann konnte man nicht anders, als an einen Oger zu denken. Primo sagte passend dazu: „Der Oger, der im Nebel wanderte.“
Unwissend, dass der Tod, verborgen im Nebel, auf ihn wartete, ging Rahim auf den roten Porsche zu. Ehe er den Wagen erreicht hatte, fiel die Tür hinter ihm zu. Nebel. War er im Auto? Stand er vor dem Auto? Wo und was tat er? Primo und Joshua konnten nichts erkennen, doch wussten sie eins: Rahim war allein. Kurz nachdem Rahim die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er auch wieder zurück ins Pelayo.
Primo und Joshua sahen sich für einen kurzen Moment an. Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, hatten es beide Begriffen: gleich muss es so weit sein! Primo hatte es sich optimalerweise so vorgestellt, dass sie dem Oger unauffällig mit dem Auto folgen würden und dann, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab, einen präzisen Angriff zu unternehmen. Aber der Hinterhof des Pelayos sah ihm nach dem richtigen Austragungsort für ihren Kampf aus. Es war halb fünf und alle anderen Autos waren weggefahren. Primo vermutete, dass nur noch wenige Gäste im Lokal sein konnten und die meisten Mitarbeiter schon zuhause wären. Darüber hinaus sprach gerade ein Argument für diesen Ort: Primo kannte sich hier aus. Er kannte Schleichwege die sie, falls sie nicht mit dem Auto fliehen konnten, hätten nehmen können.
Fünf Minuten waren vergangen, bis sich der Oger sich wieder zeigte. Primo hatte ihn beim Herausgehen ganz genau beobachtet und er glaubte etwas in seiner Hand gesehen zu haben. „Joshua“, sagte er, „ich glaube … nein, bin mir sicher. Er raucht sich Einen, da war ein Joint in seiner Hand.“ Dann sah er auf die Uhr, es war Vier Uhr 36. „Zehn … höchstens fünfzehn Minuten wird er drinnen nicht erwartet. Das ist unsere Gelegenheit!“
„Also hier?“, fragte Joshua.
„Hier und jetzt, Bruder.“ In weniger als einer Minute hatte Primo, in kurzen, aber präzisen Sätzen, umrissen wie sie Vorgehen würden. Die Zeit war auf ihrer Seite; Primo glaubte das Glück ebenfalls auf seiner Seite zu haben.
Von jetzt an ging alles sehr schnell. Adrenalin raste durch Primos Adern, die Zeit verlief langsam – wie oft hatte er diesen Rausch schon erlebt? Meditation war ein Werkzeug. „5… 4… 3… 2… 1…“, er zählte runter und stürmte bei null aus dem Wagen. Dicht gefolgt von Joshua, der den Startschuss um Sekunden verpasst hatte. Herzrasend pirschte Primo sich an seine Beute ran. Der kalte Schlagring fühlte sich in seiner Hand gut an. Primo hatte Joshua aufgetragen ihm, mit dem Revolver, den Rücken zu decken und hatte dann noch hinzugefügt, dass er sich um jeden kümmern sollte, der aus dem Pelayo käme. Es war wichtig gewesen sich gegen den Oger durchzusetzen und Jamals Tod zu rächen, aber noch wichtiger war es, unerkannt zu bleiben.
Durch den endloswirkenden Nebel hatte der Oger Primo nicht sehen können. Rahim stand am Auto und kiffte. Wie ein Falke, der aus 1000 Meter Höhe, im Sturzflug, seine Beute, dank seinen Krallen zu Tode verurteilt, stürzte sich Primo auf Rahim. Er legte zu einer Finte an, indem er mit der linken Faust ausholte. Rahim, von dem plötzlichen Angriff völlig überfordert, wich instinktiv, von sich aus, nach links aus. Reingefallen, dachte sich Primo. Primos Faust, samt Schlagring, küsste Rahims rechte Schläfe wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Gute Nacht. Ein lauter Aufprall war zu hören. Der Oger ging zwei Schritte zurück. Seinen Beinamen hatte er sich redlich verdient. Er Stand. Primo lächelte. Ein Kampf um Leben und Tod hatte begonnen.
Rahim fragte: „Wer bist du und was willst du?“
„Dein Tod“, beantwortete Primo die Fragen. Er grinste.
„Seit wann kann der scheiß Tod reden?“ Primo ignorierte die Frage. Er übte Druck auf seinen Gegner aus, indem er einen kurzen Schritt nach vorne ging, um so die Distanz zu verkürzen. Dann einen weiteren und noch einen. Dann, ohne dass Rahim es erwarten konnte, peitschte Primo sein Schienbein gegen den Oberschenkel seines Gegners. Dieser Tritt, böswillig wie er war, bezeichnet man als Leg-kick und wie effektiv dieser war, konnte Primo in Rahims Augen sehen. Angst. Aus Angst wurde schnell Verzweiflung, kaum hatte Primo Rahim ein zweites Mal, an derselben Stelle, getroffen. Primos Timing war herausragend, seine Bewegungen unorthodox. Primo täuschte einen dritten Tritt an und Rahim zuckte heftig.
Der Oger ging einen Schritt zurück. „Wir haben uns alle vor irgendjemanden zu verpflichten“, sagte Rahim. „Sag mir was du …“, er konnte seinen Satz nicht beenden, den Primo hatte seinen Schlagring auf ihn geworfen. Rahim hob die Hände schützend vors Gesicht. Ein fataler Fehler, dachte sich Primo; wer seinen Gegner nicht sieht, weiß nicht was ihm erwartet und wer nicht weiß was ihm erwartet, kann sich nicht schützen. Primo ging zwei große Schritte, während er mit der rechten Faust ausholte und da sein Gegner 20cm größer war als er, lag dessen Leber, in einer für ihn optimalen Position. Primo schlug so feste zu, er dachte er hätte sich die Hand dabei gebrochen. Rahim krümmte sich vor Schmerz, hielt sich in der Bauchgegend fest, stand aber noch. Primo nahm Rahims Kopf, legte ihn sich zurecht, drückte ihn nach unten und holte mit dem Knie aus - zwei Mal dieselbe Bewegung. Der Oger ging zwei Schritte zurück, er stand immer noch aufrecht, doch das Blut floss nur so aus seiner Nase, als hätte jemand den Wasserhahn in ihm aufgedreht.
Primo grinste. Er ließ Rahim kurz verschnaufen. So würde er Hoffnung tanken; umso schlimmer dann, sollte er realisieren, dass er nie eine Chance gehabt hatte. Der Oger holte zum Schlag aus. Primo hatte die Bewegung vorhergesehen und wich mit einem Schritt aus. Jetzt hatte er die optimale Distanz, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Während er mit dem linken Bein, einen halben Schritt zum Gegner zu lief, machte er eine 180 Grad Drehung, sodass er jetzt mit dem Rücken zu Rahim stand, sein rechtes Bein wiederum ließ er nur leicht über den Boden streifen, um nicht zu viel Schwung in den Tritt zu bekommen, dann, als er Parallel mit dem Rücken zu dem Oger stand, streckte er sein rechtes Bein aus. Er wusste, dass er die Technik perfekt ausgeführt hatte, den als er Rahim traf, hatte sein Bein einen leichten Winkel. Die Wucht des Trittes kam daher, dass man sein Bein, beim Aufprall, nochmal ausstrecken konnte. Jetzt lag Rahim mit dem Bauch auf dem Boden. Primo hörte ein Klirren, dass von etwas metallischem kam, das auf dem Boden gefallen war. Er ignorierte es und stürzte sich auf Rahim. Primo schlängelte seine Beine, von hinten, um Rahims Oberkörper und setze zu einer verbotenen Variante des Würgegriffs an: den Neckcrank.
Bei einem normalen Würgegriff würde Primo seinen rechten Arm um Rahims Hals schlängeln, sodass der Ellbogen unter dem Kinn sitzt. Dann würde er nach seinem linken Bizeps greifen und mit der linken Hand gegen Rahims Kopf drücken. Hatte er einmal diese Position gesichert, war nicht Mal mehr Kraft nötig, um zu würgen. Das Zurückziehen der Schultern und das Anspannen der Rückenmuskulatur, würde dazu führen, dass der Gegner gewürgt werde. Je nach Person, dauerte es dann zehn bis fünfzehn Sekunden bis zu Bewusstlosigkeit.
Primo jedoch setzte dieselbe Technik, nicht unter dem Kinn, sondern am Kiefer an. Dabei drehte er seinen eignen Oberkörper nach rechts, wodurch sich der Nacken des Gegners mitdrehen und überdehnen würde. Dies war eines des schmerzhaftesten und gefährlichsten Varianten des Würgegriffs. Als Primo seine Position gesichert hatte und mit all seiner Kraft, den Nacken seines Gegner überdehnte, hörte er nach einigen Sekunden, etwas das sich so anhörte, wie wenn man zwei Wallnüsse feste aneinanderdrückt. Rahims Kiefer war gebrochen. Gleich darauf verlor Rahims Körper an Spannung – die Urinstinkte setzten aus. Primo drückte in einer Richtung und quetschte dabei weiter Rahims Gesicht und das für etwa dreißig Sekunden. Dann löste er sich von Rahim, welcher jetzt auf dem Rücken lag. Wieder stützte er sich auf Rahim. Mit beiden Händen griff er nach dessen Kopf und ließ ihn mehrmals gegen den Betonboden aufschlagen. Es hörte sich wie das Ticken einer Uhr an: wieder und wieder und wieder und wieder und wieder.
Während Rahims Kopf zum wiederholten Male gegen den kalten harten Asphalt aufschlug, beobachtete Primo wie in Rahims Augen das sprichwörtliche Licht erlisch. Es war in exakt diesem Augenblick, in dem Moment, indem er sich zum fleischgewordenen Tod verwandelt hatte, als sich ihm eine Wahrheit offenbarte, nach der er die letzten drei Jahren suchte. Den wahren Grund, weshalb er sich damals aus den Straßengeschäften zurückgezogen hatte, hatte er nie jemanden verraten. Die Trennung von seiner damaligen Freundin, Dafne hieß sie, hatte ihm sehr zu schaffen gemacht. Damals kam es ihm vor, als hätte man ihm seiner Sonne beraubt und ihn allein in der Finsternis zurückgelassen. Zu der Zeit stellte er sich ausschließlich eine Frage, auf die er bis heute keine Antwort finden konnte. Primo fragte sich: Warum lebe ich, obwohl ich weiß, dass ich mit Gewissheit sterben werde? Wie sehr er es auch versuchte, er fand ihn einfach nicht, seinen persönlichen Grund am Leben zu bleiben. Er wusste es, früher oder später, sobald er Mut gefasst hätte, würde er Selbstmord begehen müssen, sollte er keine Antwort finden. Doch dachte er auch, dass es nicht eine Sache sei, die nur ihm selbst betraf, alle anderen Menschen sollten ihm gleichtun. „Nur wer einen Grund gefunden hat, weshalb er leben muss, soll auch das Recht dazu haben“, dies waren seine Worte. Primo sah die Menschen um sich herum und was er sah, waren Menschen, die lebten, weil sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten. Leben war, nach seiner Meinung, im 21. Jahrhundert nichts weiter als ein Reflex. Als hätte irgendeiner dem Menschen ein Ball zu geworfen und sie fingen ihn - was hätten sie sonst tun sollen? Als wären sie eine Minute unter Wasser geblieben, aufgetaucht um dann, bloß aus Reflex, heftig nach Luft zu schnappen. Fragt man einen Menschen, der zufällig an einem vorbeiläuft, „warum lebst du, obwohl du weißt das du stirbst?“, würde man, außer den üblichen blassen Lippenbekenntnissen nichts zu hören bekommen, davon war er zutiefst überzeugt. Ein Mensch müsse nach einer Antwort suchen, bereit sein bis ans äußerste zu gehen, um, um es in seinen Worten zu sagen, das heilige Ja zu finden, dass das Leben und den Tod auf ewig miteinander vereint.
Ähnlich wie bei einem Schiff, das kentert und langsam bis hin zum Grund des Boden sinkt, war die neue Erkenntnis dabei, sich auf den Grund seines Bewusstseins abzusetzen. Doch kurz bevor diese Erkenntnis den Grund erreichte, kurz bevor er das, wonach er drei Jahre lang gesucht hatte und jetzt endlich glaubte erkannt zu haben, in eine klare einheitliche Antwort formulieren konnte, hörte er einen Knall, wodurch er wieder alles vergaß.
Was war geschehen? Im Pelayo saß Rahims Frau. Neben sich ihre Tochter und ihr kleiner Bruder. Seine Frau schaute auf die Uhr. Überrascht davon, wie spät es war, sagte sie den Kindern, dass es Zeit sei nach Hause zu fahren. Die Uhr zeigte 4:36. Sie zogen ihre Jacken an und verabschiedeten sich. Ihr kleiner Bruder fragte sie: „Kommt Rahim mit?“ Und sie antwortete ihm, dass Rahim noch etwas zu erledigen habe. Zu dritt standen sie inmitten des Pelayo und Rahims Frau hatte gar vergessen, ob sie vor dem Pelayo oder auf dem Hinterhof geparkt hatte. Sie rieb mit der Hand die Stirn und sagte, zu sich selbst: „Du wirst alt Jasmin.“ Jasmin ging, mit jeweils einem Kind in einer Hand, auf die Hintertür zu. Wäre sie mal in die andere Richtung gelaufen; Jasmin öffnete die Tür und sah in den Lauf eines Revolvers. Ihr Auto stand vor dem Pelayo.
Für Rashid hatten die Dinge einen unwirklichen Lauf genommen. Erst hörte er den Knall, lange bevor er das Licht sah, dass aus dem Pelayo kam, dann wie drei Schatten auftauchten, wobei einer von denen gleich zusammensackte. Der Knall führte dazu, dass aus drei zwei wurden. In dem Chaos von Leben, Tod, Hass, Gewalt und Verzweiflung fühlte er sich so lebendig wie noch nie. Es war, als wenn all die Dinge, über die er sich jemals Gedanken gemacht hatte, jetzt zu dicken Früchten wurden, die bereit waren gepflückt zu werden. Diese repräsentierten nicht irgendeine Wahrheit, sondern seine eigene subjektive Wahrheit. Wie gerne hätte er diesen Moment festgehalten und verewigt, die fetten Früchte gepflückt und verzehrt. Das große Essen stand bereit. Harmonie. Einheit. Ewigkeit. Aber ein Knall führte dazu, dass alles Verstehen, sich in Luft auflöste. Primo hörte weitere Schüsse, doch keiner der weiteren Schatten verschwand. Daraufhin hörte er zwar, wie der Abzug gedrückt wurde, es folgte jedoch kein Knall. Die Waffe klemmte. Dann sah er zur Tür des Pelayos hin, dort standen zwei Kinder, ein kleines Mädchen und ein Junge, dann sah er zu Joshua, der die Waffe auf die beiden Kinder gerichtet hatte. Die schwarze Maske verbarg Joshuas Gesicht, wodurch die roten Augen umso mehr herausstachen. Primo fasste sein Gesicht an, er hatte es nicht bemerkt, dass er vergessen hatte, sich seine Maske aufzusetzen. Er konnte darüber jetzt nicht nachdenken. Er zwang sich dazu aufzustehen, ging auf Joshua zu und schlug ihm, ehe er einen weiteren Schuss abfeuerte, den Revolver aus der Hand. Er sah in das Pelayo. Die Frau auf dem Boden sah Tod aus, sonst hatte sie niemand gesehen. Dann, er wollte gerade loslaufen, trat er auf eine Waffe. Es war nicht der Revolver. „Scheiße“, stieß er aus und ehe er mit Joshua den Tatort verließ, hob er seinen Schlagring auf.
Er wusste nicht wie viel Zeit seit dem ersten Schuss vergangen war. Aber er rechnete damit, dass die Polizei seitdem schon gerufen wurde. Sie mussten weg und das möglichst schnell. Primo zerrte an Joshuas Oberteil, „wir müssen hier weg!“, sagte er mit ungewohnt hoher Stimme. Joshua aber wollte den Revolver aufheben und Primo sagte: „Lass den, damit wird niemand etwas anfangen können.“ Er selbst hatte ihn Joshua vorsichtig übergeben und darauf geachtet keinen Fingerabdruck zu hinterlassen und Joshua trug Handschuhe. Joshua fragte nach Rahim.
„Entweder der ist Tod oder er wird nie wieder richtig funktionieren. Der Tod wäre die bessere Option.“ Sie stürzten sich ins Auto. Aus der Ferne heulten die ersten Martinshörner.
„Scheiße, wir wissen nicht wo … Und die verdammte Knarre“, fing Joshua panisch an. Primo unterbrach ihn: „Blieb cool!“ Er fuhr das Auto an, würgte den Motor jedoch selbst drei Mal ab, ehe beim vierten Versuch die Reifen quietschten und sie das Verbrechen hinter sich ließen.
Der Wagen sauste davon und sie bogen links in eine Einbahnstraße ein. Primo sah in den Rückspeigel, der Nebel färbte sich Blau und Rot. Er bog in eine weitere Einbahnstraße ein, gleich in eine Sackgasse. Links von ihnen Häuser, rechts von ihnen ein Wald. Joshua kreischte: „Wir sind verloren, Primo! Hier geht es nicht weiter.“ Primo grinste. Er parkte das schwarze Auto, dann zeigte er auf den Wald, „von hier aus sind es dreißig Minuten bis zu mir.“ Joshua nickte. Das Heulen der Martinshörner wurde lauter. Es war zehn vor fünf.
1.3 Vergeltung Teil:3
„Verbrenn am besten alles“, sagte Primo zu Joshua. „Auch die Skimaske“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Die beiden Jungs standen vor Primos Haustür. Sie hatten sich durch den feuchten, modrigen Schlamm gekämpft und erfolgreich den Ort des Verbrechen hinter sich gelassen.
„Was ist mit deinem Auto, Bruder“, fragte Joshua.
„Auch das werde ich entsorgen lassen, nichts darf auf uns hindeuten. Die verdammten Bullen sind hier nicht das Problem.“
„Du hast vergessen deine Maske aufzusetzen“, sagte Joshua.
„Ich weiß … zum Glück hat uns niemand gesehen.“
„Hätte Böse ins Auge gehen können.“
„Scheiß drauf, gibt keinen Grund sich über verschüttete Milch aufzuregen.“ Schweigen. Es war als wollten beide über alles reden nur nicht das Offensichtliche: Wir haben Blut an den Händen!
Nach einer kurzen Pause war es Joshua, der das Wort ergriff. „Ich werde ganz bestimmt nicht schlafen können, Bruder. Ich bin noch voll drauf.“
Primo sah auf seine Uhr. Es war genau halb sechs. „In etwa fünf Stunden muss ich bei der Arbeit sein. Ich sollte bisschen schlafen, sonst …“
„Nein, alles gut“, unterbrach Joshua Primo und die beiden Freunde verabschiedeten sich. Ehe Joshua ging, gab ihm Primo noch einige Worte mit auf dem Weg: „Es war das Richtige, und das sag ich jetzt nicht für uns oder so. Er hat womöglich nur das getan, was er tun musste und wir haben auch nur unsere Aufgabe erledigt.“
„Wenn einer von uns geht, muss einer von denen gehen. So läuft das … das ist nun Mal die Welt, oder?“
„Womöglich. In spätestens einer Woche ist alles wieder beim Alten.“ Joshua nickte und ging. Primo sah dabei zu wie sein Freund, Stück für Stück, vom Nebel verschlungen wurde, bis nichts mehr von ihm übrigblieb. Für einen kurzen Augenblick hielt Primo sich für den einzigen Menschen auf der Welt. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkam ihn, dass aber nicht lange anhielt. Dann sah er auf zum Himmel, stellenweise drang das Licht des Mondes, durch die Nebelwand. Er sprach zu sich selbst und stellte sich folgende Frage: Soll die Nacht meines größten Verlustes auch die Nacht meiner größten Errungenschaft sein? Dann ging er in seiner Wohnung.
Zuhause, er hatte geduscht und etwas gegessen, setzte er sich auf den Boden und versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die ihm während des Kampfes gegen Rahim, eingefallen waren. Es gelang ihm nicht. Den Spuren seines Denkens konnte er nicht folgen und er fragte sich immer wieder was der Auslöser dafür war, dass ihm eine so schwere Antwort, so plötzlich eingefallen war. Er nahm sein schwarzes Notizbuch und blätterte es sorgfältig durch. Er hatte ernsthaft vor gehabt schlafen zu gehen, doch er stand so kurz davor das Rätsel, dass er seit drei Jahren mit sich rumschleppte zu lösen, aber jedes Mal, wenn er glaubte danach greifen zu können, entwich ihm die Antwort doch. Er konnte es nicht begreifen. Primo blättere durch das Notizbuch, bis er die letzte Seite erreichte, diese war auch die einzige Seite, die noch unbeschrieben war. Er grinste. Es passte, denn diese Nacht kam ihm wie ein Umbruch in seinem Leben vor. Der Beginn einer neuen Epoche. Er nahm seinen Füller zur Hand und fing an zu schrieben.
Laut Albert Camus ist nur eine philosophische Frage von Bedeutung: warum hast du noch keinen Selbstmord begangen? Die letzten drei Jahre meines Lebens habe ich mich dieser Frage verschrieben. Heute Nacht kam ich der Antwort so nah wie Ikarus der Sonne. Doch dem Falken in mir sind die Flügel verbrannt worden, so ist er jetzt zu Boden gestürzt. Muss ich jetzt das Dasein einer Schlage fristen? Das zweite Kommen steht unmittelbar bevor und dem Falken werden wieder Flügel wachsen. Bis dahin sollen mich folgende Worte führen:
Schweigsam steigt der elfte Monat empor.
Der gefürchtete Mann in schwarz,
lässt nicht mehr lange auf sich warten.
Eure ewige Vereinigung,
mein Freund,
sie steht kurz bevor.
Lang bist du gewandert,
zwischen Licht und Schatten,
auf der Suche nach dem letzten Hafen.
Leid am sonnigsten Tag,
Hoffnung in der kältesten Nacht.
Doch bald soll es so weit sein.
Er will dich in seinen Armen
und die Welt wird sich deiner Erinnern:
als gefeierte Schlange oder einsamen Falken.
Übermüdet machte sich Primo auf dem Weg zur Arbeit. Trotz der Kälte hatte er sich entschlossen zu laufen und nicht den Bus zu nehmen. Er wollte somit den Kopf frei kriegen. Primo stoppte an einem Kiosk und kaufte sich eine Flasche Wasser. Dort fiel ihm eine Zeitung auf, der Aufmacher: „EUROPA VOR DEM ENDE! WER RETTET DIE EUROPÄISCHE UNION?“ Darunter die Bilder verschiedener Politiker. Er erinnerte sich daran, dass bald Wahlen anstanden. Er kaufte die Zeitung und blätterte darin durch, ohne zu wissen warum und nach was er suchte. Als er nichts Auffälliges darin fand, warf er die Zeitung weg.
Während all der Zeit, hatte er nicht bemerkt, dass er verfolgt wurde. Der Verfolger war dabei nicht einmal geschickt und hatte es dem Nebel zu verdanken, dass er von Primo nicht entdeckt wurde. Als Primo vor seinem Arbeitsplatz stand, sah er noch einmal auf sein Handy. Er hatte eine Nachricht erhalten, es war seine Mutter. „Mein Schatz“, schrieb sie, „viel Spaß und viel Erfolg bei der Arbeit. Streng dich an und vergiss nicht, dich hin und wieder zu öffnen. Du weißt am besten, wie du sein kannst.
PS: Ich weiß, dass du Mal wieder vergessen hast dir die Haare zu schneiden. Bitte nachholen! Ich liebe dich.“ Er schmunzelte und schaltete das Handy aus.
Um halb elf betrat Primo sein neuen Arbeitsplatz. Er war müde, machte aber einen recht frischen Eindruck. Er sah in die Augen einer blonden, blauäugigen Dame und lächelte. Sie lächelte zurück und grüßte ihn mit den Worten: „Willkommen im Pelayo.“
Rot. Es war der dritte Tag der Belagerung. Essen, eine Stadt im Westen Deutschlands, hatte einen neuen Herrscher. Nebel, soweit das Auge reichte und ein Ende war, fürs Erste nicht in Sicht. Trotzdem, durch den endlos wirkenden Nebel, war der rote Porsche, der vor dem Pelayo geparkt hatte, recht gut zu erkennen.
Joshua sagte: „Du wolltest es mir nicht glauben, aber jetzt kannst du es mit deinen eigenen Augen sehen. Er ist im Pelayo. Primo, bestimmt sitzt er dort und lacht über uns.“
„Bestimmt“, antwortete Primo. „Aber heute Nacht noch wird ihm das scheiß Lachen vergehen.“ Primo sah Joshua in die Augen. „Heute ist die Nacht, in der ein Oger im Nebel sterben wird!“ Primo und Joshua saßen in einem schwarzen Ford Focus und warteten darauf, dass Rahim Al Sharif alias der Oger, das Restaurant verließ.
Rahim musste sterben, weil Rahim Jamal ermordet hatte. Primo, Joshua und Jamal waren gemeinsam aufgewachsen, hatten dieselbe Schule besucht und fingen gemeinsam damit an, ihr Geld auf der Straße zu verdienen – bis Primo vor drei Jahren die Entscheidung traf, die Geschäfte hinter sich zu lassen. Sein Rückzug aus diesem brutalen Leben, hielt ihn aber nicht davon ab, Jamals Tod rächen zu wollen.
Verborgen im Schatten und geschützt durch den Nebel, parkte Primo seinen Wagen so, dass er direkten Blick auf den Hinterhof des Pelayos hatte. Beim Vorbeifahren waren ihm noch fünf weitere Autos aufgefallen, die neben dem roten Porsche standen.
Die beiden Jungs waren ohne definitiven Plan hergefahren. Jamals Ermordung lag nur einige Stunden zurück. Vorläufig wollten sie darauf warten, bis sie Rahim zu Gesicht bekämen und ihm dann so lange aufzulauern, bis sich die passende Gelegenheit ergeben hat, um dann zu zuschlagen. Dafür hatte Primo Joshua seinen Revolver gegeben. Primo selbst vertraute auf seinem Körper.
Die Hintertür des Pelayos öffnete sich und die beiden Jungs zuckten auf. Licht drang aus dem Pelayo, der Nebel lichtete sich ein wenig. Die Silhouette der herauskommenden Person ließ sich erkennen - es war eine Frau, die aus dem Restaurant kam. Die Tür hatte sie hinter sich nicht geschlossen und Primo und Joshua sahen ihr dabei zu wie sie eine Zigarette rauchte. Somit wussten die beiden Jungs Bescheid, dass, sollte der Oger aus dieser Tür treten, sie ihn auf Anhieb erkennen würden.
Primo wand seinen Blick vom Restaurant hin zu Joshua, Schweißperlen hatten sich auf dessen Stirn gebildet. Joshua wirkte auf Primo verdächtig zurückhaltend, seitdem sie vor dem Pelayo standen. Dabei war Joshua wie Feuer und Flamme gewesen, als er Primo aufsuchte, um ihm davon zu berichten, was Jamal widerfahren war. „Die Araber haben Jamal gepackt!“ waren Joshuas Worte und Primo wusste was damit gemeint war. Es wurde gemeinsam geschimpft, geflucht und auch kurz geweint, bis sie sich dann wieder fassten. Die Schwere ihrer Situation machte sich in ihren Herzen bemerkbar. Weder Primo noch Joshua sprachen es aus und doch wussten es beide, dass in diesem Geschäft, keine Tat unbestraft bleiben durfte. „Verliere niemals dein Gesicht!“ war eines der Gebote der Straße; hier und jetzt auf Rache zu verzichten, hieß selbst zur Zielscheibe zu werden. Der Wunsch nach Rache brodelte in ihnen wie die Lava in einem Vulkan, und wurde, von der von außen auferlegten Pflicht, seinen Mann zu stehen, nur weiter erhitzt.
„Kommst du klar?“, fragte Primo Joshua, obwohl er sehen konnte, dass dieser so aussah, als hätte er einen Geist gesehen.
„Was ist das für eine scheiß Frage? Natürlich“, antwortete Joshua. Seine Stimme war energisch und Primo verstand, dass sein Freund nur versuchte „seinen Mann zu stehen“. Die Furcht, die Primo in Joshuas Augen sah, konnte er trotzdem nicht ignorieren.
Die Hintertür öffnete sich das zweite Mal, seitdem sie da waren. Es kamen zwei Männer aus dem Restaurant. Keiner der beiden war der Oger. Es schien als würden sie sich streiten, dann trat eine Frau an die Tür, fuchtelte mit den Armen herum und ging wieder ins Lokal. Die beiden Männer folgten ihr und die Tür fiel hinter ihnen zu. Nebel.
Primo sah auf die Uhr, es war kurz nach drei. Die Nacht war still und die Straßen leer. Der Geschmack von Metall verbreitete sich langsam in seinem Mund. Joshua nahm eine Ampulle aus seiner Jackentasche heraus, die bis zum Rand hin mit einer weißen Substanz gefüllt war. Wenn es dir dabei hilft, bei der Sache zu bleiben, warum nicht, dachte sich Primo. Schließlich konnte er Joshuas sehr gut verstehen. Er selbst hatte sich schon viele Male geprügelt, er hatte Schläge einstecken müssen und viele ausgeteilt, aber ganz gleich wie brutal diese Kämpfe waren, eine Sache wurde immer strengstens befolgt: Der Kampf endet, wenn der Gegner nicht mehr aufstehen kann – ein weiteres Gebot der Straße. Heute Nacht aber ging es darum, dann weiterzumachen, wenn der Gegner am hilflosesten ist; heute Nacht ging es nicht darum dem Gegner Leid zu zufügen, sondern ihn von allen Formen des Leides zu erlösen. Wobei diese Tatsache nicht einmal das Wesentliche war, es steckte mehr dahinter. Die Zielperson, Rahim Al Sharif, war der dritte Unterboss des Al Sharif Clans. So gut wie jeder wusste, dass, wer sich mit einem der Familie anlegte, sich mit der ganzen Familie anlegte. Was sie mit einem taten, der sich an einen der Fußsoldaten vergriffen hatte, war schon unaussprechlich; um seinen besten Freund rächen zu können, musste Primo mit seinem eigenen Leben abschließen. Auf dem Weg zum Pelayo jedoch, kam Primo die Erkenntnis, dass er sich, seitdem er sich aus den Geschäften zurückgezogen hatte, sich nichts sehnlicher gewünscht hatte: Primo war bereit zu sterben! Konnte dasselbe auch von Joshua gesagt werden?
Viertel nach Vier. Es war jetzt fast eine Stunde her, seitdem Primo und Joshua vor dem Pelayo geparkt hatten. Fünf Autos hatten das Pelayo in der Zeit verlassen, nur noch der rote Porsche stand an seinem Platz. Rahim hatten die beiden Freunde noch nicht gesehen. Primos Sinne standen, wie schon zu Beginn, auf Bereitschaft und er nahm die Fülle an vorbeiziehenden Informationen akkurat auf. So konnte er die Veränderungen an Joshua gar nicht übersehen. Es schien als wäre Joshua in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Seine Haut war so weiß geworden, fast wie das Pulver, dass er gerade noch geschnieft hatte. Seine trockenen und rissigen Lippen, die dicke Ader an seiner Stirn, die einer Nabe glich, seine viel zu flache Atmung und dass er fürchterlich schwitze, was merkwürdig war, den Joshua beklagte sich schon die ganze Zeit darüber, dass ihm kalt sei – jedes Detail fiel Primo auf.
„Bist du dir sicher, dass du das heute durchziehen kannst?“
„Für wem hältst du mich?“, antwortete Joshua gereizt. „Du hältst mich für schwach? Mich? Ich werde auf keinen Fall den Schwanz einziehen … oder willst du, dass die anderen mich für schwach halten?“ Ehe Primo antworten konnte, sprach Joshua weiter: „Jamal war nicht nur dein Freund, Bruder. Ich bin es ihm genauso schuldig wie du.“ Primo lächelte verständnisvoll. Dann richtete er seinen Blick, weg von Joshua hin zum Pelayo. In dem Moment fand er es merkwürdig, in welcher Deutlichkeit der rote Porsche, trotz des dichten Nebels, zu erkennen war. Das Rot, welches ihn an Blut erinnerte und Blut wiederum an Flammen - unbändige, lodernde Flammen – brachte etwas ihn ihm zu kochen und er sagte, ohne selbst zu wissen weshalb: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eigenen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!“ Stille. Stille. Nebel.
„Was zur Hölle soll das jetzt bedeuten?“, fragte Joshua. Primo schwieg, er konnte nicht reden. Er hatte die Worte ausgesprochen und es wurde ihm augenblicklich warm ums Herz, und erkannte Mal wieder welche Macht Worte besitzen konnten. Joshua hatte ihm von Jamals Tod erzählt und die Pflicht, den Tod seines Freundes zu rächen, setzte sich wie eine Last auf seine Seele. Angst und Unsicherheit versteckten sich, im dunkelsten Winkel seines Bewusstseins und warteten nur darauf, dass er Nachlässigkeit zeigte. Doch kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, kam ihm alles leicht vor; ihm waren Flügel gewachsen.
Für einen Augenblick sah er sich selbst als Falken, der über Städte, Wälder, Täler und Berge flog und auf die Welt hinabsah, weil es keinen Grund mehr gab hinaufzusehen. Primo sah Joshua in die Augen. „Weißt du, Bruder“, fing er an und der Klang seiner Stimme war weich, voller Gutmütigkeit, er sprach nicht zu laut und auch nicht zu leise, in dem Moment hörte er sich nicht so an, wie ein Mann, der kurz davor war einen Mord zu begehen. „Weißt du Bruder, manchmal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich riesige Bäume, die unter dem Lichte einer neuen Sonne wachsen, und diese Bäume tragen Früchte, welche riesig und fett sind. Für den Menschen unbekannte, unerforschte - und obwohl diese reif und bereit sind gepflückt zu werden – unberührte Früchte. Nur wer vorrangeht, auch auf die Gefahr hin zu sterben, kann dem Unbekannten die Maske ausziehen. Wo ist dieser mutige Vorkoster?“
„Was ist mit dir?“, fragte Joshua überfordert.
„Ich stehe am höchsten Punkt der Erde und Blicke auf die Menschheit herab. Ich sehe ein zerstörte Stadt. Zerstückelte Leichen. Leichen von Kindern, Leichen von Frauen und auch Leichen von Soldaten. Leid, soweit das Auge reicht. Aber ich empfinde weder Trauer noch Mitleid. Mir wird warm ums Herz und das Gefühl in mir, lässt sich womöglich am besten mit dem Wort Ehrfurcht beschreiben. Wahrhaftig mein Bruder, solange du den Tod für das Ende hältst, solange wird dir der Baum, samt seiner Früchte, dir stets ein Feind sein. Aber neue Tage lassen uns neue Wahrheiten erkennen und nach diesem sollst du es verstehen: Der Tod ist nicht das Ende, der Tod ist erst der Anfang.“
1.2 Vergeltung Teil:2
Ehe Primo erklären konnte, was er mit dem gerade Gesagtem meinte, klopfte es an Joshuas Fenster. Die beiden Jungs erschraken. Joshua ließ sein Fenster runterfahren und eine hässliche Stimme drang ins Autos, auf welcher ein noch hässlicheres Gesicht folgte: „N´Abend.“ Weder Primo noch Joshua erwiderten die Begrüßung und der Mann, ein Obdachloser, durchwühlte mit seinem Blick das Auto, fast so, als hätte er darin etwas Persönliches verloren. Primo war nicht überrascht so einen Mann hier zu sehen. Es hatte sich herumgesprochen, dass, seitdem die Al Sharifs über den Essener Stadtteil Rüttenschiedt herrschten, sich die Gegend in einer Hochburg für Abhängige entwickelte. Diese pilgerten förmlich hierhin, auf der Suche nach dem heiligen, weißen, kolumbianischen Berg Zion.
„Scheiße, kann man dir weiterhelfen?“ Primos Stimme war scharf und bedrohlich.
„Ach Mister“, fing der Obdachlose an, der sich gekünstelt ausdrückte. „Ich bin gerade an dieses Automobil vorbeigelaufen und war mir sicher, dass …“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine Nase.
„Sowas haben wir hier nicht“, antwortete Joshua. Der Mann jedoch gab sich nicht so leicht geschlagen.
„Meine Herren, ich bin es doch. Sie kennen mich … haben Sie etwa vergessen? Warum schauen Sie mich so an, drohend, skeptisch, gar misstrauisch? Ich weiß es jetzt, Sie sind Suchende! Aber auch ich bin einer, meine Herren. Ich suche nach etwas Höherem, aber finden tue ich nichts. Ich denke, dass ich zu oft krieche, aber … aber sollten wir uns deshalb nicht in prekären Situationen gegenseitig Hilfe leisten? Denn …“ Der Obdachlose brach seinen Monolog abrupt ab. Er hatte Primo in die Augen gesehen. Ein Verhältnis, ähnlich wie das zwischen Raubtier und Beute, Falke und Kaninchen, hatte sich zwischen den beiden etabliert.
„Ich bedanke mich aufrichtig für Ihren Beistand, meine Herren. Möget Ihr die Wahrheiten finden, nach denen Ihr sucht und keinen Torheiten begehen.“ Genauso plötzlich wie er gekommen war, war er auch verschwunden.
„Was ein Gestank, alter“, sagte Primo genervt.
„Bei dem scheiß Gestank sollte er ein Schild tragen“, fügte Joshua hinzu.
Als sich beide Jungs zum Pelayo hindrehten, öffnete sich die Hintertür. Eine schon fast monströse Gestalt zeigte sich. Der Mann, der an der Tür stand, musste über zwei Meter groß sein. Aufgrund seiner breiten Schultern, konnte er nur seitlich durch die schmale Tür und wer ihn auf unter 130 kg schätze, hätte damit genauso wenig recht, wie mit der Aussage, dass Wasser bei Minustemperaturen stets gefriert. Bei dieser Wucht von Mann konnte man nicht anders, als an einen Oger zu denken. Primo sagte passend dazu: „Der Oger, der im Nebel wanderte.“
Unwissend, dass der Tod, verborgen im Nebel, auf ihn wartete, ging Rahim auf den roten Porsche zu. Ehe er den Wagen erreicht hatte, fiel die Tür hinter ihm zu. Nebel. War er im Auto? Stand er vor dem Auto? Wo und was tat er? Primo und Joshua konnten nichts erkennen, doch wussten sie eins: Rahim war allein. Kurz nachdem Rahim die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er auch wieder zurück ins Pelayo.
Primo und Joshua sahen sich für einen kurzen Moment an. Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, hatten es beide Begriffen: gleich muss es so weit sein! Primo hatte es sich optimalerweise so vorgestellt, dass sie dem Oger unauffällig mit dem Auto folgen würden und dann, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab, einen präzisen Angriff zu unternehmen. Aber der Hinterhof des Pelayos sah ihm nach dem richtigen Austragungsort für ihren Kampf aus. Es war halb fünf und alle anderen Autos waren weggefahren. Primo vermutete, dass nur noch wenige Gäste im Lokal sein konnten und die meisten Mitarbeiter schon zuhause wären. Darüber hinaus sprach gerade ein Argument für diesen Ort: Primo kannte sich hier aus. Er kannte Schleichwege die sie, falls sie nicht mit dem Auto fliehen konnten, hätten nehmen können.
Fünf Minuten waren vergangen, bis sich der Oger sich wieder zeigte. Primo hatte ihn beim Herausgehen ganz genau beobachtet und er glaubte etwas in seiner Hand gesehen zu haben. „Joshua“, sagte er, „ich glaube … nein, bin mir sicher. Er raucht sich Einen, da war ein Joint in seiner Hand.“ Dann sah er auf die Uhr, es war Vier Uhr 36. „Zehn … höchstens fünfzehn Minuten wird er drinnen nicht erwartet. Das ist unsere Gelegenheit!“
„Also hier?“, fragte Joshua.
„Hier und jetzt, Bruder.“ In weniger als einer Minute hatte Primo, in kurzen, aber präzisen Sätzen, umrissen wie sie Vorgehen würden. Die Zeit war auf ihrer Seite; Primo glaubte das Glück ebenfalls auf seiner Seite zu haben.
Von jetzt an ging alles sehr schnell. Adrenalin raste durch Primos Adern, die Zeit verlief langsam – wie oft hatte er diesen Rausch schon erlebt? Meditation war ein Werkzeug. „5… 4… 3… 2… 1…“, er zählte runter und stürmte bei null aus dem Wagen. Dicht gefolgt von Joshua, der den Startschuss um Sekunden verpasst hatte. Herzrasend pirschte Primo sich an seine Beute ran. Der kalte Schlagring fühlte sich in seiner Hand gut an. Primo hatte Joshua aufgetragen ihm, mit dem Revolver, den Rücken zu decken und hatte dann noch hinzugefügt, dass er sich um jeden kümmern sollte, der aus dem Pelayo käme. Es war wichtig gewesen sich gegen den Oger durchzusetzen und Jamals Tod zu rächen, aber noch wichtiger war es, unerkannt zu bleiben.
Durch den endloswirkenden Nebel hatte der Oger Primo nicht sehen können. Rahim stand am Auto und kiffte. Wie ein Falke, der aus 1000 Meter Höhe, im Sturzflug, seine Beute, dank seinen Krallen zu Tode verurteilt, stürzte sich Primo auf Rahim. Er legte zu einer Finte an, indem er mit der linken Faust ausholte. Rahim, von dem plötzlichen Angriff völlig überfordert, wich instinktiv, von sich aus, nach links aus. Reingefallen, dachte sich Primo. Primos Faust, samt Schlagring, küsste Rahims rechte Schläfe wie eine Mutter ihr Neugeborenes. Gute Nacht. Ein lauter Aufprall war zu hören. Der Oger ging zwei Schritte zurück. Seinen Beinamen hatte er sich redlich verdient. Er Stand. Primo lächelte. Ein Kampf um Leben und Tod hatte begonnen.
Rahim fragte: „Wer bist du und was willst du?“
„Dein Tod“, beantwortete Primo die Fragen. Er grinste.
„Seit wann kann der scheiß Tod reden?“ Primo ignorierte die Frage. Er übte Druck auf seinen Gegner aus, indem er einen kurzen Schritt nach vorne ging, um so die Distanz zu verkürzen. Dann einen weiteren und noch einen. Dann, ohne dass Rahim es erwarten konnte, peitschte Primo sein Schienbein gegen den Oberschenkel seines Gegners. Dieser Tritt, böswillig wie er war, bezeichnet man als Leg-kick und wie effektiv dieser war, konnte Primo in Rahims Augen sehen. Angst. Aus Angst wurde schnell Verzweiflung, kaum hatte Primo Rahim ein zweites Mal, an derselben Stelle, getroffen. Primos Timing war herausragend, seine Bewegungen unorthodox. Primo täuschte einen dritten Tritt an und Rahim zuckte heftig.
Der Oger ging einen Schritt zurück. „Wir haben uns alle vor irgendjemanden zu verpflichten“, sagte Rahim. „Sag mir was du …“, er konnte seinen Satz nicht beenden, den Primo hatte seinen Schlagring auf ihn geworfen. Rahim hob die Hände schützend vors Gesicht. Ein fataler Fehler, dachte sich Primo; wer seinen Gegner nicht sieht, weiß nicht was ihm erwartet und wer nicht weiß was ihm erwartet, kann sich nicht schützen. Primo ging zwei große Schritte, während er mit der rechten Faust ausholte und da sein Gegner 20cm größer war als er, lag dessen Leber, in einer für ihn optimalen Position. Primo schlug so feste zu, er dachte er hätte sich die Hand dabei gebrochen. Rahim krümmte sich vor Schmerz, hielt sich in der Bauchgegend fest, stand aber noch. Primo nahm Rahims Kopf, legte ihn sich zurecht, drückte ihn nach unten und holte mit dem Knie aus - zwei Mal dieselbe Bewegung. Der Oger ging zwei Schritte zurück, er stand immer noch aufrecht, doch das Blut floss nur so aus seiner Nase, als hätte jemand den Wasserhahn in ihm aufgedreht.
Primo grinste. Er ließ Rahim kurz verschnaufen. So würde er Hoffnung tanken; umso schlimmer dann, sollte er realisieren, dass er nie eine Chance gehabt hatte. Der Oger holte zum Schlag aus. Primo hatte die Bewegung vorhergesehen und wich mit einem Schritt aus. Jetzt hatte er die optimale Distanz, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Während er mit dem linken Bein, einen halben Schritt zum Gegner zu lief, machte er eine 180 Grad Drehung, sodass er jetzt mit dem Rücken zu Rahim stand, sein rechtes Bein wiederum ließ er nur leicht über den Boden streifen, um nicht zu viel Schwung in den Tritt zu bekommen, dann, als er Parallel mit dem Rücken zu dem Oger stand, streckte er sein rechtes Bein aus. Er wusste, dass er die Technik perfekt ausgeführt hatte, den als er Rahim traf, hatte sein Bein einen leichten Winkel. Die Wucht des Trittes kam daher, dass man sein Bein, beim Aufprall, nochmal ausstrecken konnte. Jetzt lag Rahim mit dem Bauch auf dem Boden. Primo hörte ein Klirren, dass von etwas metallischem kam, das auf dem Boden gefallen war. Er ignorierte es und stürzte sich auf Rahim. Primo schlängelte seine Beine, von hinten, um Rahims Oberkörper und setze zu einer verbotenen Variante des Würgegriffs an: den Neckcrank.
Bei einem normalen Würgegriff würde Primo seinen rechten Arm um Rahims Hals schlängeln, sodass der Ellbogen unter dem Kinn sitzt. Dann würde er nach seinem linken Bizeps greifen und mit der linken Hand gegen Rahims Kopf drücken. Hatte er einmal diese Position gesichert, war nicht Mal mehr Kraft nötig, um zu würgen. Das Zurückziehen der Schultern und das Anspannen der Rückenmuskulatur, würde dazu führen, dass der Gegner gewürgt werde. Je nach Person, dauerte es dann zehn bis fünfzehn Sekunden bis zu Bewusstlosigkeit.
Primo jedoch setzte dieselbe Technik, nicht unter dem Kinn, sondern am Kiefer an. Dabei drehte er seinen eignen Oberkörper nach rechts, wodurch sich der Nacken des Gegners mitdrehen und überdehnen würde. Dies war eines des schmerzhaftesten und gefährlichsten Varianten des Würgegriffs. Als Primo seine Position gesichert hatte und mit all seiner Kraft, den Nacken seines Gegner überdehnte, hörte er nach einigen Sekunden, etwas das sich so anhörte, wie wenn man zwei Wallnüsse feste aneinanderdrückt. Rahims Kiefer war gebrochen. Gleich darauf verlor Rahims Körper an Spannung – die Urinstinkte setzten aus. Primo drückte in einer Richtung und quetschte dabei weiter Rahims Gesicht und das für etwa dreißig Sekunden. Dann löste er sich von Rahim, welcher jetzt auf dem Rücken lag. Wieder stützte er sich auf Rahim. Mit beiden Händen griff er nach dessen Kopf und ließ ihn mehrmals gegen den Betonboden aufschlagen. Es hörte sich wie das Ticken einer Uhr an: wieder und wieder und wieder und wieder und wieder.
Während Rahims Kopf zum wiederholten Male gegen den kalten harten Asphalt aufschlug, beobachtete Primo wie in Rahims Augen das sprichwörtliche Licht erlisch. Es war in exakt diesem Augenblick, in dem Moment, indem er sich zum fleischgewordenen Tod verwandelt hatte, als sich ihm eine Wahrheit offenbarte, nach der er die letzten drei Jahren suchte. Den wahren Grund, weshalb er sich damals aus den Straßengeschäften zurückgezogen hatte, hatte er nie jemanden verraten. Die Trennung von seiner damaligen Freundin, Dafne hieß sie, hatte ihm sehr zu schaffen gemacht. Damals kam es ihm vor, als hätte man ihm seiner Sonne beraubt und ihn allein in der Finsternis zurückgelassen. Zu der Zeit stellte er sich ausschließlich eine Frage, auf die er bis heute keine Antwort finden konnte. Primo fragte sich: Warum lebe ich, obwohl ich weiß, dass ich mit Gewissheit sterben werde? Wie sehr er es auch versuchte, er fand ihn einfach nicht, seinen persönlichen Grund am Leben zu bleiben. Er wusste es, früher oder später, sobald er Mut gefasst hätte, würde er Selbstmord begehen müssen, sollte er keine Antwort finden. Doch dachte er auch, dass es nicht eine Sache sei, die nur ihm selbst betraf, alle anderen Menschen sollten ihm gleichtun. „Nur wer einen Grund gefunden hat, weshalb er leben muss, soll auch das Recht dazu haben“, dies waren seine Worte. Primo sah die Menschen um sich herum und was er sah, waren Menschen, die lebten, weil sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten. Leben war, nach seiner Meinung, im 21. Jahrhundert nichts weiter als ein Reflex. Als hätte irgendeiner dem Menschen ein Ball zu geworfen und sie fingen ihn - was hätten sie sonst tun sollen? Als wären sie eine Minute unter Wasser geblieben, aufgetaucht um dann, bloß aus Reflex, heftig nach Luft zu schnappen. Fragt man einen Menschen, der zufällig an einem vorbeiläuft, „warum lebst du, obwohl du weißt das du stirbst?“, würde man, außer den üblichen blassen Lippenbekenntnissen nichts zu hören bekommen, davon war er zutiefst überzeugt. Ein Mensch müsse nach einer Antwort suchen, bereit sein bis ans äußerste zu gehen, um, um es in seinen Worten zu sagen, das heilige Ja zu finden, dass das Leben und den Tod auf ewig miteinander vereint.
Ähnlich wie bei einem Schiff, das kentert und langsam bis hin zum Grund des Boden sinkt, war die neue Erkenntnis dabei, sich auf den Grund seines Bewusstseins abzusetzen. Doch kurz bevor diese Erkenntnis den Grund erreichte, kurz bevor er das, wonach er drei Jahre lang gesucht hatte und jetzt endlich glaubte erkannt zu haben, in eine klare einheitliche Antwort formulieren konnte, hörte er einen Knall, wodurch er wieder alles vergaß.
Was war geschehen? Im Pelayo saß Rahims Frau. Neben sich ihre Tochter und ihr kleiner Bruder. Seine Frau schaute auf die Uhr. Überrascht davon, wie spät es war, sagte sie den Kindern, dass es Zeit sei nach Hause zu fahren. Die Uhr zeigte 4:36. Sie zogen ihre Jacken an und verabschiedeten sich. Ihr kleiner Bruder fragte sie: „Kommt Rahim mit?“ Und sie antwortete ihm, dass Rahim noch etwas zu erledigen habe. Zu dritt standen sie inmitten des Pelayo und Rahims Frau hatte gar vergessen, ob sie vor dem Pelayo oder auf dem Hinterhof geparkt hatte. Sie rieb mit der Hand die Stirn und sagte, zu sich selbst: „Du wirst alt Jasmin.“ Jasmin ging, mit jeweils einem Kind in einer Hand, auf die Hintertür zu. Wäre sie mal in die andere Richtung gelaufen; Jasmin öffnete die Tür und sah in den Lauf eines Revolvers. Ihr Auto stand vor dem Pelayo.
Für Rashid hatten die Dinge einen unwirklichen Lauf genommen. Erst hörte er den Knall, lange bevor er das Licht sah, dass aus dem Pelayo kam, dann wie drei Schatten auftauchten, wobei einer von denen gleich zusammensackte. Der Knall führte dazu, dass aus drei zwei wurden. In dem Chaos von Leben, Tod, Hass, Gewalt und Verzweiflung fühlte er sich so lebendig wie noch nie. Es war, als wenn all die Dinge, über die er sich jemals Gedanken gemacht hatte, jetzt zu dicken Früchten wurden, die bereit waren gepflückt zu werden. Diese repräsentierten nicht irgendeine Wahrheit, sondern seine eigene subjektive Wahrheit. Wie gerne hätte er diesen Moment festgehalten und verewigt, die fetten Früchte gepflückt und verzehrt. Das große Essen stand bereit. Harmonie. Einheit. Ewigkeit. Aber ein Knall führte dazu, dass alles Verstehen, sich in Luft auflöste. Primo hörte weitere Schüsse, doch keiner der weiteren Schatten verschwand. Daraufhin hörte er zwar, wie der Abzug gedrückt wurde, es folgte jedoch kein Knall. Die Waffe klemmte. Dann sah er zur Tür des Pelayos hin, dort standen zwei Kinder, ein kleines Mädchen und ein Junge, dann sah er zu Joshua, der die Waffe auf die beiden Kinder gerichtet hatte. Die schwarze Maske verbarg Joshuas Gesicht, wodurch die roten Augen umso mehr herausstachen. Primo fasste sein Gesicht an, er hatte es nicht bemerkt, dass er vergessen hatte, sich seine Maske aufzusetzen. Er konnte darüber jetzt nicht nachdenken. Er zwang sich dazu aufzustehen, ging auf Joshua zu und schlug ihm, ehe er einen weiteren Schuss abfeuerte, den Revolver aus der Hand. Er sah in das Pelayo. Die Frau auf dem Boden sah Tod aus, sonst hatte sie niemand gesehen. Dann, er wollte gerade loslaufen, trat er auf eine Waffe. Es war nicht der Revolver. „Scheiße“, stieß er aus und ehe er mit Joshua den Tatort verließ, hob er seinen Schlagring auf.
Er wusste nicht wie viel Zeit seit dem ersten Schuss vergangen war. Aber er rechnete damit, dass die Polizei seitdem schon gerufen wurde. Sie mussten weg und das möglichst schnell. Primo zerrte an Joshuas Oberteil, „wir müssen hier weg!“, sagte er mit ungewohnt hoher Stimme. Joshua aber wollte den Revolver aufheben und Primo sagte: „Lass den, damit wird niemand etwas anfangen können.“ Er selbst hatte ihn Joshua vorsichtig übergeben und darauf geachtet keinen Fingerabdruck zu hinterlassen und Joshua trug Handschuhe. Joshua fragte nach Rahim.
„Entweder der ist Tod oder er wird nie wieder richtig funktionieren. Der Tod wäre die bessere Option.“ Sie stürzten sich ins Auto. Aus der Ferne heulten die ersten Martinshörner.
„Scheiße, wir wissen nicht wo … Und die verdammte Knarre“, fing Joshua panisch an. Primo unterbrach ihn: „Blieb cool!“ Er fuhr das Auto an, würgte den Motor jedoch selbst drei Mal ab, ehe beim vierten Versuch die Reifen quietschten und sie das Verbrechen hinter sich ließen.
Der Wagen sauste davon und sie bogen links in eine Einbahnstraße ein. Primo sah in den Rückspeigel, der Nebel färbte sich Blau und Rot. Er bog in eine weitere Einbahnstraße ein, gleich in eine Sackgasse. Links von ihnen Häuser, rechts von ihnen ein Wald. Joshua kreischte: „Wir sind verloren, Primo! Hier geht es nicht weiter.“ Primo grinste. Er parkte das schwarze Auto, dann zeigte er auf den Wald, „von hier aus sind es dreißig Minuten bis zu mir.“ Joshua nickte. Das Heulen der Martinshörner wurde lauter. Es war zehn vor fünf.
1.3 Vergeltung Teil:3
„Verbrenn am besten alles“, sagte Primo zu Joshua. „Auch die Skimaske“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. Die beiden Jungs standen vor Primos Haustür. Sie hatten sich durch den feuchten, modrigen Schlamm gekämpft und erfolgreich den Ort des Verbrechen hinter sich gelassen.
„Was ist mit deinem Auto, Bruder“, fragte Joshua.
„Auch das werde ich entsorgen lassen, nichts darf auf uns hindeuten. Die verdammten Bullen sind hier nicht das Problem.“
„Du hast vergessen deine Maske aufzusetzen“, sagte Joshua.
„Ich weiß … zum Glück hat uns niemand gesehen.“
„Hätte Böse ins Auge gehen können.“
„Scheiß drauf, gibt keinen Grund sich über verschüttete Milch aufzuregen.“ Schweigen. Es war als wollten beide über alles reden nur nicht das Offensichtliche: Wir haben Blut an den Händen!
Nach einer kurzen Pause war es Joshua, der das Wort ergriff. „Ich werde ganz bestimmt nicht schlafen können, Bruder. Ich bin noch voll drauf.“
Primo sah auf seine Uhr. Es war genau halb sechs. „In etwa fünf Stunden muss ich bei der Arbeit sein. Ich sollte bisschen schlafen, sonst …“
„Nein, alles gut“, unterbrach Joshua Primo und die beiden Freunde verabschiedeten sich. Ehe Joshua ging, gab ihm Primo noch einige Worte mit auf dem Weg: „Es war das Richtige, und das sag ich jetzt nicht für uns oder so. Er hat womöglich nur das getan, was er tun musste und wir haben auch nur unsere Aufgabe erledigt.“
„Wenn einer von uns geht, muss einer von denen gehen. So läuft das … das ist nun Mal die Welt, oder?“
„Womöglich. In spätestens einer Woche ist alles wieder beim Alten.“ Joshua nickte und ging. Primo sah dabei zu wie sein Freund, Stück für Stück, vom Nebel verschlungen wurde, bis nichts mehr von ihm übrigblieb. Für einen kurzen Augenblick hielt Primo sich für den einzigen Menschen auf der Welt. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkam ihn, dass aber nicht lange anhielt. Dann sah er auf zum Himmel, stellenweise drang das Licht des Mondes, durch die Nebelwand. Er sprach zu sich selbst und stellte sich folgende Frage: Soll die Nacht meines größten Verlustes auch die Nacht meiner größten Errungenschaft sein? Dann ging er in seiner Wohnung.
Zuhause, er hatte geduscht und etwas gegessen, setzte er sich auf den Boden und versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die ihm während des Kampfes gegen Rahim, eingefallen waren. Es gelang ihm nicht. Den Spuren seines Denkens konnte er nicht folgen und er fragte sich immer wieder was der Auslöser dafür war, dass ihm eine so schwere Antwort, so plötzlich eingefallen war. Er nahm sein schwarzes Notizbuch und blätterte es sorgfältig durch. Er hatte ernsthaft vor gehabt schlafen zu gehen, doch er stand so kurz davor das Rätsel, dass er seit drei Jahren mit sich rumschleppte zu lösen, aber jedes Mal, wenn er glaubte danach greifen zu können, entwich ihm die Antwort doch. Er konnte es nicht begreifen. Primo blättere durch das Notizbuch, bis er die letzte Seite erreichte, diese war auch die einzige Seite, die noch unbeschrieben war. Er grinste. Es passte, denn diese Nacht kam ihm wie ein Umbruch in seinem Leben vor. Der Beginn einer neuen Epoche. Er nahm seinen Füller zur Hand und fing an zu schrieben.
Laut Albert Camus ist nur eine philosophische Frage von Bedeutung: warum hast du noch keinen Selbstmord begangen? Die letzten drei Jahre meines Lebens habe ich mich dieser Frage verschrieben. Heute Nacht kam ich der Antwort so nah wie Ikarus der Sonne. Doch dem Falken in mir sind die Flügel verbrannt worden, so ist er jetzt zu Boden gestürzt. Muss ich jetzt das Dasein einer Schlage fristen? Das zweite Kommen steht unmittelbar bevor und dem Falken werden wieder Flügel wachsen. Bis dahin sollen mich folgende Worte führen:
Schweigsam steigt der elfte Monat empor.
Der gefürchtete Mann in schwarz,
lässt nicht mehr lange auf sich warten.
Eure ewige Vereinigung,
mein Freund,
sie steht kurz bevor.
Lang bist du gewandert,
zwischen Licht und Schatten,
auf der Suche nach dem letzten Hafen.
Leid am sonnigsten Tag,
Hoffnung in der kältesten Nacht.
Doch bald soll es so weit sein.
Er will dich in seinen Armen
und die Welt wird sich deiner Erinnern:
als gefeierte Schlange oder einsamen Falken.
Übermüdet machte sich Primo auf dem Weg zur Arbeit. Trotz der Kälte hatte er sich entschlossen zu laufen und nicht den Bus zu nehmen. Er wollte somit den Kopf frei kriegen. Primo stoppte an einem Kiosk und kaufte sich eine Flasche Wasser. Dort fiel ihm eine Zeitung auf, der Aufmacher: „EUROPA VOR DEM ENDE! WER RETTET DIE EUROPÄISCHE UNION?“ Darunter die Bilder verschiedener Politiker. Er erinnerte sich daran, dass bald Wahlen anstanden. Er kaufte die Zeitung und blätterte darin durch, ohne zu wissen warum und nach was er suchte. Als er nichts Auffälliges darin fand, warf er die Zeitung weg.
Während all der Zeit, hatte er nicht bemerkt, dass er verfolgt wurde. Der Verfolger war dabei nicht einmal geschickt und hatte es dem Nebel zu verdanken, dass er von Primo nicht entdeckt wurde. Als Primo vor seinem Arbeitsplatz stand, sah er noch einmal auf sein Handy. Er hatte eine Nachricht erhalten, es war seine Mutter. „Mein Schatz“, schrieb sie, „viel Spaß und viel Erfolg bei der Arbeit. Streng dich an und vergiss nicht, dich hin und wieder zu öffnen. Du weißt am besten, wie du sein kannst.
PS: Ich weiß, dass du Mal wieder vergessen hast dir die Haare zu schneiden. Bitte nachholen! Ich liebe dich.“ Er schmunzelte und schaltete das Handy aus.
Um halb elf betrat Primo sein neuen Arbeitsplatz. Er war müde, machte aber einen recht frischen Eindruck. Er sah in die Augen einer blonden, blauäugigen Dame und lächelte. Sie lächelte zurück und grüßte ihn mit den Worten: „Willkommen im Pelayo.“