Tagebucheintrag – 07. Juli
Ich glaube nicht, dass ich je wieder normal schreiben kann. Oder denken. Oder fühlen. Aber ich muss das hier festhalten. Vielleicht, damit ich es überhaupt selbst glauben kann.
Gestern nach dem Unterricht ging es wieder los...
Lola. Dieses verdammte Mädchen. Jonas hatte ihr vor Monaten seine Gefühle gestanden und sie hat ihn eiskalt abblitzen lassen. Damals hat sie angefangen, herumzuerzählen, er würde sie stalken. Dass er ihr dauernd auflauert, sie beobachtet. Ich wusste sofort, dass das nicht stimmt. Sie muss eifersüchtig auf seine Noten gewesen sein. Aber alle haben es ihr geglaubt.
Ein paar Wochen lang hatte er richtig Angst zur Schule zu kommen.
Ich erinnere mich genau, wie er mir geschrieben hat, dass ihm schon schlecht wird, wenn er nur ans Klassenzimmer denkt. Wie er morgens vorm Schultor stehen geblieben ist, als würde da ein unsichtbarer Abgrund sein. Und ich hab’s gesehen. Ich hab gesehen, wie sie ihn angeschaut haben – diese Blicke, dieses Getuschel.
Wie sie im Flur an ihm vorbeigelaufen sind und „Psycho“ gemurmelt haben. Wie sie in der Pause extra so laut über ihn geredet haben, dass er es hören musste.
Einmal hat ihm jemand ein Zettelchen auf den Platz gelegt: „Du bist krank, such dir Hilfe.“ Und das war noch harmlos.
In Sport haben sie ihn extra nicht in die Gruppe genommen. In der Umkleide hat ihm jemand sein Shirt in die Dusche geworfen.
Und trotzdem ist er jeden Tag gekommen. Er hat nie wirklich was gesagt. Immer nur: „Ist schon okay.“ Aber es war nie okay. Nie.
Irgendwann hat sich das Ganze dann gelegt, bis sie dann gestern nach dem Unterricht schon wieder so eine Lüge erzählt hat.
Jonas war fertig. Er wollte sie sofort zur Rede stellen. Ich… Ich hab ihm gesagt, er soll’s lassen. „Lauf ihr nicht hinterher“, hab ich gesagt. Ich wollte ihn schützen. Ehrlich. Ich wollte nicht, dass er sich noch weiter reinsteigert.
Aber diese Worte – meine Worte – haben die anderen gehört. Diese Typen, die ihn früher schon fertiggemacht haben. Die haben das aufgenommen, weitergesponnen. Heute Morgen war das Gerücht plötzlich wieder überall.
Heute haben wir uns wie immer vor der Schule getroffen. Wir sind langsam zum Unterricht bei Herrn Z. gegangen. Ich hab gespürt, dass was nicht stimmt. Aber ich hab nichts gesagt. Er war da, aber irgendwie auch nicht. Als würde er neben mir sitzen, aber schon in einer anderen Welt.
Jonas wurde rausgerufen, um seine Note zu besprechen.
Als er zurückkam… ich werd diesen Blick nie vergessen. Komplett leer. Kein Ausdruck mehr in seinem Gesicht. Seine Augen starr, als würde er durch alles durchsehen. Ich wollte fragen, wie’s lief, aber meine Stimme hat versagt.
Dann kam die erste Pause und ich sprach ihn auf die Notenbesprechung an. Eine 2-, keine 1, deshalb also alles. Seine Eltern machen es ihm schwer, wir redeten dann nicht weiter. Er war still. Ich war still. Alles war so falsch. Ich hätte was sagen sollen. Aber ich hab nur dagesessen, überfordert und planlos wie ich ihm helfen konnte.
Nach der Pause hatte ich Unterricht bei Herrn Schmidt. Jonas war da nicht dabei, diesen Kurs haben wir nicht gemeinsam.
Und dann ging das Getuschel los. Das Gerücht von gestern hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und wurde sogar noch erweitert:
„Jonas hat angeblich Lola aus der Parallelklasse im Schwimmbad fotografiert– heimlich.“
Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat. Aber ich weiß, dass es wie Öl ins Feuer war.
Und ich weiß, dass es ohne mein „Lauf ihr nicht hinterher“ vielleicht nie so weit gekommen wäre.
Ich hab’s losgetreten.
Die zweite Pause kam endlich und ich habe mir Sorgen gemacht, dass er schon von der erweiterten Variante des Gerüchts Wind bekommen hatte.
Ich hab ihm geschrieben: „Bin draußen auf der Bank, warte auf dich.“
Ich dachte, wir reden gleich. Ich dachte, wir kriegen das irgendwie hin.
Er war nicht auf dem Weg zu mir. Er stand auf dem Schuldach.
Ich hab nicht mal geschaut. Ich hab einfach auf mein Handy gestarrt.
Dann… der Aufprall.
Ein einziger, dumpfer Schlag. So endgültig. So… falsch. Ich bin losgerannt. Und da war er. Oder was von ihm übrig war.
Überall Blut. So viel Blut.
Ich hab geschrien. Ich weiß nicht, ob ich jemals damit aufhören werde.
Er war mein bester Freund.
Es tut mir so unendlich leid, Jonas. Ich hätte da sein sollen. Ich hätte dich halten müssen, als alle anderen dich haben fallen lassen.
Befragung K. Lachsmann
Daten: Di.- 13. Juli - Beginn: 16:52 Uhr
Befragender Polizist: N. Gründling
Befragter: K. Lachsmann
Befragter ist Lehrer des Opfers
Bericht:
Gründling: Guten Tag Herr Lachsmann, ich bitte Sie, würden Sie uns die Ereignisse vom vergangenen Donnerstag möglichst genau und detailliert wiedergeben?
Lachsmann: Das erklärt sich von selbst, ja. Also, wie Sie ja wissen, bin ich Lehrer, Mathematik und Biologie, um genau zu sein, ich habe Mathematik mit [J.Fischer]. Am Donnerstag letzte Woche war das auch nicht ganz anders, die erste und zweite Stunde hatte ich Biologie, also von 8:05 bis 10:20, jedoch hatte ich in den Stunden kein Unterricht mit [J.Fischer].
Gründling: Sie hatten aber an diesem Tag Unterricht mit dem Opfer?
Lachsmann: Ja, wir hatten in der dritten und vierten Stunde Unterricht. Pausen gehen bei uns 20 Minuten, innerhalb der Pause hatte ich mit [Herr Z.] gesprochen, der hatte die erste Stunde mit [J.Fischer]. Sie müssen gleich dabei wissen; das Schuljahr neigt sich dem Ende und Noten müssen vergeben werden. [J.Fischer] ist ein sehr engagierter Schüler gewesen, war immer aufmerksam und für gewöhnlich auch einer der Besten seines Jahrganges, er konnte immer stolz auf seine Noten sein.
Gründling: Herr Lachsmann. Sie schweifen ab, ich kann verstehen, dass so ein Fall insbesondere für einen Pädagogen einen schweren Rückschlag gleicht. Jedoch bitte ich sie, konzentrieren sie sich auf den Bericht.
Lachsmann: Sie können es sich nicht vorstellen, wie schlimm es ist, sich an diesen Tag zu erinnern! In der dritten und vierten Stunde also, Mathematik, [J.Fischer] hat sich ziemlich bescheiden verhalten, er fiel nicht auf und hat sich nicht gemeldet. Alleinig bei der Anwesenheitsüberprüfung hat er was von sich gegeben. Der Anfang des Unterrichts war aber wie sonst auch, zuerst haben wir Hausaufgaben verglichen und [J.Fischer] hat sich nicht gemeldet. Jedenfalls, innerhalb des Unterrichts musste ich eben diesen verlassen, um in meiner eigenen Klasse was zu erledigen, das ist per se nicht unüblich; dieser Kurs kannte das also schon.
Gründling: Waren Sie lange abwesend?
Lachsmann: Nein, keine 10 Minuten, ungefähr 8. Jedoch war der Kurs von weitem mit unermüdlichem Gelächter bestimmt, welches sofort verstummte, als ich den Raum wieder betrat. [J.Fischer] sah da niedergeschlagen aus, als ich diesen Kurs auf das Gelächter ansprach, haben die Schüler nichts gesagt, nur er, er sah noch mehr fertig aus. Er hatte Augenringe, die tief lagen, sowie auch eine angerötete Sklera, also das Weiße vom Auge. Daraufhin bat ich ihn, mit mir rauszukommen, aber er hatte keine Ambition dazu und meinte, er hätte nur wenig geschlafen. Der Schüler, also der Schüler [M.Reiher], der hat daraufhin ein Kommentar abgelassen wie: “Ja Jonas? Weshalb das denn nur?”
Gründling: [J.Fischer] wurde also gehänselt? Oder war das unüblich?
Lachsmann: Ich muss Ihnen sagen, dass ich nichts mitbekommen habe, persönlich würde ich sagen, dass das eher unüblich ist, insbesondere von diesem Schüler. Und auch davor hat sich das nicht angemeldet. Um ehrlich zu sein, ich bin auch nicht lange an dieser Schule.
Gründling: Wie ging der Unterricht denn zu Ende? Oder war noch mehr auffälliges passiert?
Lachsmann: Der Unterricht war sichtlich unruhiger als sonst. Jedoch war nichts mehr auffällig im Bezug zu [J.Fischer] passiert.
Gründling: Sie hatten aber auch die Aufsicht in der Pause, in welcher das Opfer fiel?
Lachsmann: Genau, für Gewöhnlich lasse ich Donnerstags die Schulstunde etwa 5 Minuten eher enden, um die Pausenaufsicht vollziehen zu können, nachdem ich also meine Sachen gepackt hatte und die Schüler aus dem Raum rausgingen, schloß ich den Raum ab, [J.Fischer] schien ruhiger zu sein und weniger aufgewühlt, daher habe ich keine Nachfragen gestellt, bezüglich dem, was im Unterricht geschah. Daher machte ich mich in Richtung unseres Schulhofes, [J.Fischer] nicht. Er ging in die andere Richtung... da wo es auf das Dach hinausgeht. Das Dach ist unbefugtes Gebiet für Schüler, jedoch stellte sich heraus, dass Schüler einen Umweg um die Sicherheitsanlage fanden.
Gründling: Sie fanden es nicht suspekt, dass ein Schüler in diese Richtung geht?
Lachsmann: Die einzigen sauberen Toiletten befinden sich im gleichen Abteil der Schule, diese sind relativ weit entfernt von den häufig genutzten in unserer Haupthalle.
Daher fand ich es nicht so abwegig, dass sich ein Schüler dahin bewegt, vor allem wenn man seine Ruhe haben wollte.
Daher ging ich auf unseren Pausenhof, die Schüler begannen langsam nach draußen zu kommen, und dann begann es zur Pause zu klingeln, das war um 12:20 Uhr. Ein paar Schüler, die ich in der ersten Stunde gehabt hatte, begannen mich etwas über die Photosynthese zu fragen, zum.... zum Demonstrieren, begann ich also... also ich habe meine Hände in die Luft gehalten um... um auf die Sonne zu zeigen. Und er stand da, und mir blieb der Atem stecken… Vor der Sonne stand also [J.Fischer], am Rand des Daches, mit dem Rücken zu uns, einfach so. Jedenfalls begann ich zu rennen und da.... da fiel er.
Gründling: Haben Sie noch jemand anderen auf dem Dach gesehen?
Lachsmann: Ich... Ich weiß es nicht, ich konnte nur ihn ansehen. Er… Ich… Dieser Fall… Das Geräusch zum Schluss geht mir nicht mehr aus dem Kopf, die Blutlache, die sich bildete, es gab einen... erkennbaren Aufschrei und ein Mädchen kam angerannt. Ich habe sofort alle anwesenden Schüler reingeschickt und sofort den Krankenwagen und unseren Schulleiter angerufen, jedoch fühlte ich mich machtlos, meine Knie ließen nach. Die nächsten Minuten waren dann die Qual, bis der Notfallseelsorger dann schließlich kam. Das ist alles, was ich noch weiß.
Gründling: Herr Lachsmann, Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Aussagen, wir haben jetzt einen brauchbare Wiedergabe der Geschehnisse, sollten wir noch etwas spezifisches erfragen wollen, werden wir uns in Kontakt setzen.
Lachsmann: Machen Sie das, bitte.
Lachsmann geht aus dem Befragungsraum
Am Tag der Beerdigung
Nie wieder wird er in diesem Bett schlafen, mit der Nachtlampe auf dem Nachttisch an, weil er sich im Dunkeln fürchtet. Nie wieder werde ich ihm einen Gute-Nacht-Kuss geben oder ihn wecken und trösten, wenn er mal wieder einen Albtraum hat. Nie wieder werden ihn die Familienfotos anlächeln, die ich ihm extra ausgedruckt hatte, damit er sie sich an die Seite seines Regals kleben konnte.
“Wir müssen los.” Ich erwache wie aus einer Trance, als die Stimme meines Mannes durch unsere Wohnung schallt. Schwerfällig rappel ich mich vom Boden im Zimmer meines Sohnes auf. Nie wieder wird er hier sein, in diesem Zimmer, welches wir zusammen eingerichtet hatten.
Ich kenne jeden Winkel in diesem Zimmer, jeden Gegenstand, die kleine Schachtel ganz hinten in seinem Kleiderschrank, die er als heimliches Versteck nutzte, das Tagebuch unter seiner Matratze. Oft genug war ich, während Jonas in der Schule war, hier drinnen gewesen, um mich zu vergewissern, dass er keine Drogen nahm oder sonst etwas Dummes anstellte. Er war doch noch so jung gewesen, so unerfahren.
“Elin, wo bleibst du?” Erneut ruft mein Mann nach mir. Kurz schließe ich die Augen und atme einmal tief durch. Der Geruch in seinem Zimmer lässt vor meinem inneren Auge ein Bild von ihm entstehen. Für einen Augenblick halte ich es fest, betrachte ihn, sein Lächeln, seine schlanke, zerbrechlich wirkende Gestalt.
Dann zwinge ich mich, meine Augen wieder zu öffnen und aus dem Raum zu gehen. Vorsichtig schließe ich die Tür hinter mir.
Als ich in die Küche komme, steht mein Mann dort, in Jeans und einem alten, verwaschenen Band T-shirt. “So kannst du doch nicht zu der Beerdigung unseres Sohnes.” Er zuckt mit den Schultern. “Ist doch egal”, meint er, sein Gesicht völlig ausdruckslos.
"Wie kann dir das egal sein?”, schießt es mir durch den Kopf und ich spüre Hass in mir aufsteigen, zusammen mit dem Wunsch, auf ihn loszugehen, aber nein. Er ist stärker als ich, das weiß ich.
Also gehe ich einfach schweigend an ihm vorbei, nehme mir meine Tasche von der Anrichte im Flur und öffne die Haustür.
Es ist still, als wir im Auto sitzen. Naja, nicht ganz, mein Mann hat das Radio angemacht und trommelt zu irgendeinem Song den Beat auf das Lenkrad. Aber wir sprechen nicht miteinander.
Wieder muss ich an unseren Sohn denken. In diesem Auto habe ich ihn jeden Tag zur Schule gefahren. Zwischen uns war es nie so still gewesen. Ich hatte ihn gefragt, ob er alle Hausaufgaben hatte, ob er sich schon auf den Unterricht freute und munterte ihn vor Arbeiten, Tests und Präsentationen immer auf. Er war so ein guter Schüler, der Beste aus der Klasse. Auf dem Rückweg fragte ich ihn dann, wie der Tag gelaufen sei, ob er neue Hausaufgaben aufbekommen hatte und so weiter. Wie man das als gute Mutter eben macht.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn zu Hause unterrichtet. Das wäre besser für ihn gewesen. Er hatte in der Schule ständig Probleme. Die Lehrer behandelten ihn ungerecht, weshalb ich regelmäßig dort anrufen musste. Und die Schüler mobbten ihn. Lange Zeit war er verliebt gewesen, in ein Mädchen aus seiner Klasse. In seinem Tagebuch hatte er kaum noch etwas anderes geschrieben. Vor einem halben Jahr etwa, hatte er sich schließlich getraut und ihr seine Liebe gestanden und sie hat ihn abgelehnt, die Schlampe.
Dann verbreitete sie das Gerücht, er würde sie stalken. Jonas hatte Wochenlang Angst, in die Schule zu gehen. Die ersten paar Tage habe ich ihn zu Hause behalten können, dann hat die Schule Theater gemacht. Das war wirklich eine Unverschämtheit gewesen. Sie hatten sich nicht einmal um die Übeltäterin gekümmert. Das hatte ich selber in die Hand nehmen müssen. Die Telefonnummer ihrer Eltern herauszufinden, war nicht schwer gewesen. Aber es hatte dennoch lange gebraucht, bis Jonas wieder gerne zur Schule ging und das hat mir innerlich jeden Morgen Schmerzen bereitet.
Und dann… Hätte sich auch mein Mann mehr für das Homeschooling eingesetzt, wäre unser Junge jetzt nicht - wäre er jetzt noch hier, bei uns, bei mir, da wo er sein sollte. Die Schule war der einzige Ort gewesen, an dem ich nicht bei ihm sein konnte, ihn nicht beschützen konnte.
Meine Augen brennen und mein Blick verschwimmt.
Irgendwie kommen wir irgendwann bei dem Friedhof an und die Trauerfeier beginnt.
Wir sitzen in der Kapelle und ich starre auf den aufgebahrten Sarg. Er ist bedeckt mit Blumen.
Der Pastor vorne erzählt irgendwas von einem jungen Leben, das von uns gegangen ist. Von uns gegangen, so eine Scheiße. Das hört sich so freiwillig an. Er ist nicht von uns gegangen, er wurde uns genommen. Wer hatte das Recht dazu, mir meinen Sohn zu nehmen? Wut kocht in mir hoch, übertönt die falschen Worte des Pastors, die falsche Trauer der Leute hinter mir, malt wie mit roter Farbe über mein Sichtfeld, über die falschen Sprüche an den falschen Blumenkränzen. Falsch, falsch, falsch, alles ist so falsch. Diese ganze beschissene Situation ist einfach nur falsch. Wie konnte es dazu kommen? Ich habe doch mein Bestes getan, war immer für ihn da, habe mich um ihn gekümmert, ihn geschützt vor anderen, vor sich selbst, vor der Welt. Er war mein Ein und Alles.
Plötzlich will ich aufspringen, will den Sarg aufreißen, will ihn ansehen, ihn schütteln, ihm sagen, er solle das jetzt sein lassen, ihn in Sicherheit bringen, fort von all dem hier, irgendwo hinbringen, wo ihm niemand mehr schadet, wo wir beide leben können einfach so, will-
Etwas ändert sich an der Atmosphäre um mich herum. Dort sind keine Geräusche mehr, die übertönt werden könnten, alles ist still. Das Gekreische in meinem Inneren verstummt und die Anspannung verlässt meinen Körper. Ich sacke kurz in mich zusammen. Es hat nicht gereicht, ich war nicht vorsichtig genug gewesen.
Nach noch ein paar weiteren Minuten beginnt der Trauerzug. Ein paar in schwarz gekleidete Männer nehmen den Sarg und langsam gehen wir zu dem ausgehobenen Grab. Er wird heruntergelassen und ich bin nach dem Pastor die erste, die etwas Erde auf den Sarg werfen darf. Alles sträubt sich in mir. Es soll ein letzter Abschied sein, aber ich will ihn nicht gehen lassen.
Schnell versuche ich es hinter mich zu bringen, ohne diesem endgültigen Gefühl viel Platz zu lassen. Mein Mann ist nach mir dran. Er folgt der Prozedur, ohne wirklich hinzusehen. Dann folgen auch die anderen. Ich nehme eine Beileidsbekundung nach der andern entgegen, schaue die Menschen nicht an. Mein Blick wandert immer wieder zum offenen Grab.
“Mein Beileid" , diese Stimme. Ruckartig werde ich mich nun doch zu der Person vor mir. Auf einmal wird mir alles klar. Sie war es. Diese falsche Schlange. Warum ist sie hier? Sie hat kein Recht, hier zu erscheinen, auszusehen, als ginge es ihr nicht gut, als würde sie trauern.
Jonas hatte sich in der Schule mit ihr angefreundet. Ich konnte sie vom ersten Tag an nicht leiden. Sie hat ihn viel zu sehr beansprucht. Er wurde immer stiller, hat mir nicht mehr so viel erzählt. Ich habe versucht, den Kontakt zwischen ihnen zu begrenzen, aber sie hat Jonas geschickt manipuliert. Wäre sie nicht gewesen, wäre mein Sohn noch am Leben, ich könnte mir nicht sicherer sein. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?
Ich will mich auf sie stürzen, die falschen Tränen auf ihrem Gesicht in echte verwandeln, sie am Hals packen, ihr das gleiche antun, was sie meinem Sohn angetan hat.
"Danke." Die ausdruckslose Stimme meines Mannes ertönt neben mir. Gerade noch so schaffe ich es mich zurückzuhalten. Fest beiße ich meinen Kiefer zusammen, warte darauf, dass sie verschwindet.
Geduld, Rache muss man genießen können.
7. Juli
Während ich mich nach hinten fallen lasse, verzerrt sich die Zeit. Ich sehe den Himmel über mir und die Schule die immer weiter in die Höhe wächst, während ich mich, fast wie in Zeitlupe, von ihrer Dachkante entferne. Zum Glück läuft mein Leben nicht nochmal vor meinem inneren Auge ab. Davor hatte ich am meisten Angst gehabt.
Endlich frei.
Ich schließe meine Augen und lächle.
Ich glaube nicht, dass ich je wieder normal schreiben kann. Oder denken. Oder fühlen. Aber ich muss das hier festhalten. Vielleicht, damit ich es überhaupt selbst glauben kann.
Gestern nach dem Unterricht ging es wieder los...
Lola. Dieses verdammte Mädchen. Jonas hatte ihr vor Monaten seine Gefühle gestanden und sie hat ihn eiskalt abblitzen lassen. Damals hat sie angefangen, herumzuerzählen, er würde sie stalken. Dass er ihr dauernd auflauert, sie beobachtet. Ich wusste sofort, dass das nicht stimmt. Sie muss eifersüchtig auf seine Noten gewesen sein. Aber alle haben es ihr geglaubt.
Ein paar Wochen lang hatte er richtig Angst zur Schule zu kommen.
Ich erinnere mich genau, wie er mir geschrieben hat, dass ihm schon schlecht wird, wenn er nur ans Klassenzimmer denkt. Wie er morgens vorm Schultor stehen geblieben ist, als würde da ein unsichtbarer Abgrund sein. Und ich hab’s gesehen. Ich hab gesehen, wie sie ihn angeschaut haben – diese Blicke, dieses Getuschel.
Wie sie im Flur an ihm vorbeigelaufen sind und „Psycho“ gemurmelt haben. Wie sie in der Pause extra so laut über ihn geredet haben, dass er es hören musste.
Einmal hat ihm jemand ein Zettelchen auf den Platz gelegt: „Du bist krank, such dir Hilfe.“ Und das war noch harmlos.
In Sport haben sie ihn extra nicht in die Gruppe genommen. In der Umkleide hat ihm jemand sein Shirt in die Dusche geworfen.
Und trotzdem ist er jeden Tag gekommen. Er hat nie wirklich was gesagt. Immer nur: „Ist schon okay.“ Aber es war nie okay. Nie.
Irgendwann hat sich das Ganze dann gelegt, bis sie dann gestern nach dem Unterricht schon wieder so eine Lüge erzählt hat.
Jonas war fertig. Er wollte sie sofort zur Rede stellen. Ich… Ich hab ihm gesagt, er soll’s lassen. „Lauf ihr nicht hinterher“, hab ich gesagt. Ich wollte ihn schützen. Ehrlich. Ich wollte nicht, dass er sich noch weiter reinsteigert.
Aber diese Worte – meine Worte – haben die anderen gehört. Diese Typen, die ihn früher schon fertiggemacht haben. Die haben das aufgenommen, weitergesponnen. Heute Morgen war das Gerücht plötzlich wieder überall.
Heute haben wir uns wie immer vor der Schule getroffen. Wir sind langsam zum Unterricht bei Herrn Z. gegangen. Ich hab gespürt, dass was nicht stimmt. Aber ich hab nichts gesagt. Er war da, aber irgendwie auch nicht. Als würde er neben mir sitzen, aber schon in einer anderen Welt.
Jonas wurde rausgerufen, um seine Note zu besprechen.
Als er zurückkam… ich werd diesen Blick nie vergessen. Komplett leer. Kein Ausdruck mehr in seinem Gesicht. Seine Augen starr, als würde er durch alles durchsehen. Ich wollte fragen, wie’s lief, aber meine Stimme hat versagt.
Dann kam die erste Pause und ich sprach ihn auf die Notenbesprechung an. Eine 2-, keine 1, deshalb also alles. Seine Eltern machen es ihm schwer, wir redeten dann nicht weiter. Er war still. Ich war still. Alles war so falsch. Ich hätte was sagen sollen. Aber ich hab nur dagesessen, überfordert und planlos wie ich ihm helfen konnte.
Nach der Pause hatte ich Unterricht bei Herrn Schmidt. Jonas war da nicht dabei, diesen Kurs haben wir nicht gemeinsam.
Und dann ging das Getuschel los. Das Gerücht von gestern hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und wurde sogar noch erweitert:
„Jonas hat angeblich Lola aus der Parallelklasse im Schwimmbad fotografiert– heimlich.“
Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat. Aber ich weiß, dass es wie Öl ins Feuer war.
Und ich weiß, dass es ohne mein „Lauf ihr nicht hinterher“ vielleicht nie so weit gekommen wäre.
Ich hab’s losgetreten.
Die zweite Pause kam endlich und ich habe mir Sorgen gemacht, dass er schon von der erweiterten Variante des Gerüchts Wind bekommen hatte.
Ich hab ihm geschrieben: „Bin draußen auf der Bank, warte auf dich.“
Ich dachte, wir reden gleich. Ich dachte, wir kriegen das irgendwie hin.
Er war nicht auf dem Weg zu mir. Er stand auf dem Schuldach.
Ich hab nicht mal geschaut. Ich hab einfach auf mein Handy gestarrt.
Dann… der Aufprall.
Ein einziger, dumpfer Schlag. So endgültig. So… falsch. Ich bin losgerannt. Und da war er. Oder was von ihm übrig war.
Überall Blut. So viel Blut.
Ich hab geschrien. Ich weiß nicht, ob ich jemals damit aufhören werde.
Er war mein bester Freund.
Es tut mir so unendlich leid, Jonas. Ich hätte da sein sollen. Ich hätte dich halten müssen, als alle anderen dich haben fallen lassen.
Befragung K. Lachsmann
Daten: Di.- 13. Juli - Beginn: 16:52 Uhr
Befragender Polizist: N. Gründling
Befragter: K. Lachsmann
Befragter ist Lehrer des Opfers
Bericht:
Gründling: Guten Tag Herr Lachsmann, ich bitte Sie, würden Sie uns die Ereignisse vom vergangenen Donnerstag möglichst genau und detailliert wiedergeben?
Lachsmann: Das erklärt sich von selbst, ja. Also, wie Sie ja wissen, bin ich Lehrer, Mathematik und Biologie, um genau zu sein, ich habe Mathematik mit [J.Fischer]. Am Donnerstag letzte Woche war das auch nicht ganz anders, die erste und zweite Stunde hatte ich Biologie, also von 8:05 bis 10:20, jedoch hatte ich in den Stunden kein Unterricht mit [J.Fischer].
Gründling: Sie hatten aber an diesem Tag Unterricht mit dem Opfer?
Lachsmann: Ja, wir hatten in der dritten und vierten Stunde Unterricht. Pausen gehen bei uns 20 Minuten, innerhalb der Pause hatte ich mit [Herr Z.] gesprochen, der hatte die erste Stunde mit [J.Fischer]. Sie müssen gleich dabei wissen; das Schuljahr neigt sich dem Ende und Noten müssen vergeben werden. [J.Fischer] ist ein sehr engagierter Schüler gewesen, war immer aufmerksam und für gewöhnlich auch einer der Besten seines Jahrganges, er konnte immer stolz auf seine Noten sein.
Gründling: Herr Lachsmann. Sie schweifen ab, ich kann verstehen, dass so ein Fall insbesondere für einen Pädagogen einen schweren Rückschlag gleicht. Jedoch bitte ich sie, konzentrieren sie sich auf den Bericht.
Lachsmann: Sie können es sich nicht vorstellen, wie schlimm es ist, sich an diesen Tag zu erinnern! In der dritten und vierten Stunde also, Mathematik, [J.Fischer] hat sich ziemlich bescheiden verhalten, er fiel nicht auf und hat sich nicht gemeldet. Alleinig bei der Anwesenheitsüberprüfung hat er was von sich gegeben. Der Anfang des Unterrichts war aber wie sonst auch, zuerst haben wir Hausaufgaben verglichen und [J.Fischer] hat sich nicht gemeldet. Jedenfalls, innerhalb des Unterrichts musste ich eben diesen verlassen, um in meiner eigenen Klasse was zu erledigen, das ist per se nicht unüblich; dieser Kurs kannte das also schon.
Gründling: Waren Sie lange abwesend?
Lachsmann: Nein, keine 10 Minuten, ungefähr 8. Jedoch war der Kurs von weitem mit unermüdlichem Gelächter bestimmt, welches sofort verstummte, als ich den Raum wieder betrat. [J.Fischer] sah da niedergeschlagen aus, als ich diesen Kurs auf das Gelächter ansprach, haben die Schüler nichts gesagt, nur er, er sah noch mehr fertig aus. Er hatte Augenringe, die tief lagen, sowie auch eine angerötete Sklera, also das Weiße vom Auge. Daraufhin bat ich ihn, mit mir rauszukommen, aber er hatte keine Ambition dazu und meinte, er hätte nur wenig geschlafen. Der Schüler, also der Schüler [M.Reiher], der hat daraufhin ein Kommentar abgelassen wie: “Ja Jonas? Weshalb das denn nur?”
Gründling: [J.Fischer] wurde also gehänselt? Oder war das unüblich?
Lachsmann: Ich muss Ihnen sagen, dass ich nichts mitbekommen habe, persönlich würde ich sagen, dass das eher unüblich ist, insbesondere von diesem Schüler. Und auch davor hat sich das nicht angemeldet. Um ehrlich zu sein, ich bin auch nicht lange an dieser Schule.
Gründling: Wie ging der Unterricht denn zu Ende? Oder war noch mehr auffälliges passiert?
Lachsmann: Der Unterricht war sichtlich unruhiger als sonst. Jedoch war nichts mehr auffällig im Bezug zu [J.Fischer] passiert.
Gründling: Sie hatten aber auch die Aufsicht in der Pause, in welcher das Opfer fiel?
Lachsmann: Genau, für Gewöhnlich lasse ich Donnerstags die Schulstunde etwa 5 Minuten eher enden, um die Pausenaufsicht vollziehen zu können, nachdem ich also meine Sachen gepackt hatte und die Schüler aus dem Raum rausgingen, schloß ich den Raum ab, [J.Fischer] schien ruhiger zu sein und weniger aufgewühlt, daher habe ich keine Nachfragen gestellt, bezüglich dem, was im Unterricht geschah. Daher machte ich mich in Richtung unseres Schulhofes, [J.Fischer] nicht. Er ging in die andere Richtung... da wo es auf das Dach hinausgeht. Das Dach ist unbefugtes Gebiet für Schüler, jedoch stellte sich heraus, dass Schüler einen Umweg um die Sicherheitsanlage fanden.
Gründling: Sie fanden es nicht suspekt, dass ein Schüler in diese Richtung geht?
Lachsmann: Die einzigen sauberen Toiletten befinden sich im gleichen Abteil der Schule, diese sind relativ weit entfernt von den häufig genutzten in unserer Haupthalle.
Daher fand ich es nicht so abwegig, dass sich ein Schüler dahin bewegt, vor allem wenn man seine Ruhe haben wollte.
Daher ging ich auf unseren Pausenhof, die Schüler begannen langsam nach draußen zu kommen, und dann begann es zur Pause zu klingeln, das war um 12:20 Uhr. Ein paar Schüler, die ich in der ersten Stunde gehabt hatte, begannen mich etwas über die Photosynthese zu fragen, zum.... zum Demonstrieren, begann ich also... also ich habe meine Hände in die Luft gehalten um... um auf die Sonne zu zeigen. Und er stand da, und mir blieb der Atem stecken… Vor der Sonne stand also [J.Fischer], am Rand des Daches, mit dem Rücken zu uns, einfach so. Jedenfalls begann ich zu rennen und da.... da fiel er.
Gründling: Haben Sie noch jemand anderen auf dem Dach gesehen?
Lachsmann: Ich... Ich weiß es nicht, ich konnte nur ihn ansehen. Er… Ich… Dieser Fall… Das Geräusch zum Schluss geht mir nicht mehr aus dem Kopf, die Blutlache, die sich bildete, es gab einen... erkennbaren Aufschrei und ein Mädchen kam angerannt. Ich habe sofort alle anwesenden Schüler reingeschickt und sofort den Krankenwagen und unseren Schulleiter angerufen, jedoch fühlte ich mich machtlos, meine Knie ließen nach. Die nächsten Minuten waren dann die Qual, bis der Notfallseelsorger dann schließlich kam. Das ist alles, was ich noch weiß.
Gründling: Herr Lachsmann, Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Aussagen, wir haben jetzt einen brauchbare Wiedergabe der Geschehnisse, sollten wir noch etwas spezifisches erfragen wollen, werden wir uns in Kontakt setzen.
Lachsmann: Machen Sie das, bitte.
Lachsmann geht aus dem Befragungsraum
Am Tag der Beerdigung
Nie wieder wird er in diesem Bett schlafen, mit der Nachtlampe auf dem Nachttisch an, weil er sich im Dunkeln fürchtet. Nie wieder werde ich ihm einen Gute-Nacht-Kuss geben oder ihn wecken und trösten, wenn er mal wieder einen Albtraum hat. Nie wieder werden ihn die Familienfotos anlächeln, die ich ihm extra ausgedruckt hatte, damit er sie sich an die Seite seines Regals kleben konnte.
“Wir müssen los.” Ich erwache wie aus einer Trance, als die Stimme meines Mannes durch unsere Wohnung schallt. Schwerfällig rappel ich mich vom Boden im Zimmer meines Sohnes auf. Nie wieder wird er hier sein, in diesem Zimmer, welches wir zusammen eingerichtet hatten.
Ich kenne jeden Winkel in diesem Zimmer, jeden Gegenstand, die kleine Schachtel ganz hinten in seinem Kleiderschrank, die er als heimliches Versteck nutzte, das Tagebuch unter seiner Matratze. Oft genug war ich, während Jonas in der Schule war, hier drinnen gewesen, um mich zu vergewissern, dass er keine Drogen nahm oder sonst etwas Dummes anstellte. Er war doch noch so jung gewesen, so unerfahren.
“Elin, wo bleibst du?” Erneut ruft mein Mann nach mir. Kurz schließe ich die Augen und atme einmal tief durch. Der Geruch in seinem Zimmer lässt vor meinem inneren Auge ein Bild von ihm entstehen. Für einen Augenblick halte ich es fest, betrachte ihn, sein Lächeln, seine schlanke, zerbrechlich wirkende Gestalt.
Dann zwinge ich mich, meine Augen wieder zu öffnen und aus dem Raum zu gehen. Vorsichtig schließe ich die Tür hinter mir.
Als ich in die Küche komme, steht mein Mann dort, in Jeans und einem alten, verwaschenen Band T-shirt. “So kannst du doch nicht zu der Beerdigung unseres Sohnes.” Er zuckt mit den Schultern. “Ist doch egal”, meint er, sein Gesicht völlig ausdruckslos.
"Wie kann dir das egal sein?”, schießt es mir durch den Kopf und ich spüre Hass in mir aufsteigen, zusammen mit dem Wunsch, auf ihn loszugehen, aber nein. Er ist stärker als ich, das weiß ich.
Also gehe ich einfach schweigend an ihm vorbei, nehme mir meine Tasche von der Anrichte im Flur und öffne die Haustür.
Es ist still, als wir im Auto sitzen. Naja, nicht ganz, mein Mann hat das Radio angemacht und trommelt zu irgendeinem Song den Beat auf das Lenkrad. Aber wir sprechen nicht miteinander.
Wieder muss ich an unseren Sohn denken. In diesem Auto habe ich ihn jeden Tag zur Schule gefahren. Zwischen uns war es nie so still gewesen. Ich hatte ihn gefragt, ob er alle Hausaufgaben hatte, ob er sich schon auf den Unterricht freute und munterte ihn vor Arbeiten, Tests und Präsentationen immer auf. Er war so ein guter Schüler, der Beste aus der Klasse. Auf dem Rückweg fragte ich ihn dann, wie der Tag gelaufen sei, ob er neue Hausaufgaben aufbekommen hatte und so weiter. Wie man das als gute Mutter eben macht.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn zu Hause unterrichtet. Das wäre besser für ihn gewesen. Er hatte in der Schule ständig Probleme. Die Lehrer behandelten ihn ungerecht, weshalb ich regelmäßig dort anrufen musste. Und die Schüler mobbten ihn. Lange Zeit war er verliebt gewesen, in ein Mädchen aus seiner Klasse. In seinem Tagebuch hatte er kaum noch etwas anderes geschrieben. Vor einem halben Jahr etwa, hatte er sich schließlich getraut und ihr seine Liebe gestanden und sie hat ihn abgelehnt, die Schlampe.
Dann verbreitete sie das Gerücht, er würde sie stalken. Jonas hatte Wochenlang Angst, in die Schule zu gehen. Die ersten paar Tage habe ich ihn zu Hause behalten können, dann hat die Schule Theater gemacht. Das war wirklich eine Unverschämtheit gewesen. Sie hatten sich nicht einmal um die Übeltäterin gekümmert. Das hatte ich selber in die Hand nehmen müssen. Die Telefonnummer ihrer Eltern herauszufinden, war nicht schwer gewesen. Aber es hatte dennoch lange gebraucht, bis Jonas wieder gerne zur Schule ging und das hat mir innerlich jeden Morgen Schmerzen bereitet.
Und dann… Hätte sich auch mein Mann mehr für das Homeschooling eingesetzt, wäre unser Junge jetzt nicht - wäre er jetzt noch hier, bei uns, bei mir, da wo er sein sollte. Die Schule war der einzige Ort gewesen, an dem ich nicht bei ihm sein konnte, ihn nicht beschützen konnte.
Meine Augen brennen und mein Blick verschwimmt.
Irgendwie kommen wir irgendwann bei dem Friedhof an und die Trauerfeier beginnt.
Wir sitzen in der Kapelle und ich starre auf den aufgebahrten Sarg. Er ist bedeckt mit Blumen.
Der Pastor vorne erzählt irgendwas von einem jungen Leben, das von uns gegangen ist. Von uns gegangen, so eine Scheiße. Das hört sich so freiwillig an. Er ist nicht von uns gegangen, er wurde uns genommen. Wer hatte das Recht dazu, mir meinen Sohn zu nehmen? Wut kocht in mir hoch, übertönt die falschen Worte des Pastors, die falsche Trauer der Leute hinter mir, malt wie mit roter Farbe über mein Sichtfeld, über die falschen Sprüche an den falschen Blumenkränzen. Falsch, falsch, falsch, alles ist so falsch. Diese ganze beschissene Situation ist einfach nur falsch. Wie konnte es dazu kommen? Ich habe doch mein Bestes getan, war immer für ihn da, habe mich um ihn gekümmert, ihn geschützt vor anderen, vor sich selbst, vor der Welt. Er war mein Ein und Alles.
Plötzlich will ich aufspringen, will den Sarg aufreißen, will ihn ansehen, ihn schütteln, ihm sagen, er solle das jetzt sein lassen, ihn in Sicherheit bringen, fort von all dem hier, irgendwo hinbringen, wo ihm niemand mehr schadet, wo wir beide leben können einfach so, will-
Etwas ändert sich an der Atmosphäre um mich herum. Dort sind keine Geräusche mehr, die übertönt werden könnten, alles ist still. Das Gekreische in meinem Inneren verstummt und die Anspannung verlässt meinen Körper. Ich sacke kurz in mich zusammen. Es hat nicht gereicht, ich war nicht vorsichtig genug gewesen.
Nach noch ein paar weiteren Minuten beginnt der Trauerzug. Ein paar in schwarz gekleidete Männer nehmen den Sarg und langsam gehen wir zu dem ausgehobenen Grab. Er wird heruntergelassen und ich bin nach dem Pastor die erste, die etwas Erde auf den Sarg werfen darf. Alles sträubt sich in mir. Es soll ein letzter Abschied sein, aber ich will ihn nicht gehen lassen.
Schnell versuche ich es hinter mich zu bringen, ohne diesem endgültigen Gefühl viel Platz zu lassen. Mein Mann ist nach mir dran. Er folgt der Prozedur, ohne wirklich hinzusehen. Dann folgen auch die anderen. Ich nehme eine Beileidsbekundung nach der andern entgegen, schaue die Menschen nicht an. Mein Blick wandert immer wieder zum offenen Grab.
“Mein Beileid" , diese Stimme. Ruckartig werde ich mich nun doch zu der Person vor mir. Auf einmal wird mir alles klar. Sie war es. Diese falsche Schlange. Warum ist sie hier? Sie hat kein Recht, hier zu erscheinen, auszusehen, als ginge es ihr nicht gut, als würde sie trauern.
Jonas hatte sich in der Schule mit ihr angefreundet. Ich konnte sie vom ersten Tag an nicht leiden. Sie hat ihn viel zu sehr beansprucht. Er wurde immer stiller, hat mir nicht mehr so viel erzählt. Ich habe versucht, den Kontakt zwischen ihnen zu begrenzen, aber sie hat Jonas geschickt manipuliert. Wäre sie nicht gewesen, wäre mein Sohn noch am Leben, ich könnte mir nicht sicherer sein. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?
Ich will mich auf sie stürzen, die falschen Tränen auf ihrem Gesicht in echte verwandeln, sie am Hals packen, ihr das gleiche antun, was sie meinem Sohn angetan hat.
"Danke." Die ausdruckslose Stimme meines Mannes ertönt neben mir. Gerade noch so schaffe ich es mich zurückzuhalten. Fest beiße ich meinen Kiefer zusammen, warte darauf, dass sie verschwindet.
Geduld, Rache muss man genießen können.
7. Juli
Während ich mich nach hinten fallen lasse, verzerrt sich die Zeit. Ich sehe den Himmel über mir und die Schule die immer weiter in die Höhe wächst, während ich mich, fast wie in Zeitlupe, von ihrer Dachkante entferne. Zum Glück läuft mein Leben nicht nochmal vor meinem inneren Auge ab. Davor hatte ich am meisten Angst gehabt.
Endlich frei.
Ich schließe meine Augen und lächle.
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