Pimmel

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lietzensee

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Pimmel

Nico kaute an seinem Stift. Der schmeckte nach weicher Plaste. Widerwillig schaute er auf das Papier, dann lange auf die Schüler, die in den Reihen vor ihm saßen,. Schließlich setzte er an und schrieb den vorgegebene Titel des Aufsatzes: Mein Vater.

Es war eine Demütigung, die Speck direkt gegen ihn gerichtet hatte. Er versuchte einen Einstiegssatz, schaute auf das Ergebnis seiner unruhigen Hand und strich ihn wieder durch. Lehrer Speck war ein ruhiger Mensch. Böse reagierte er eigentlich nur auf Schimpfworte. Nico hatte sich auch immer für seine Noten angestrengt. Aber trotzdem wollte Speck ihm jetzt eins auswischen. Die ganze Klasse hatte das selbe Aufsatzthema bekommen. Das machte es zu einer besonderen Gemeinheit. Die anderen konnten alle über irgendwelche Automechaniker oder Fleischer schreiben oder über Männer, die nicht mal ihre Mütter kannten. Nico kaute an seinem Stift. Irgendwie musste er sich aus dieser Sache raus winden.

Der Pandurski war gar nicht sein Vater, das hatte seine Mutter ihm geschworen als er sechs Jahre alt gewesen war. Da hatten sie zusammen im Park gesessen und ein Picknick aus Schokoriegel verspeist. Aber mit dreizehn hatte er nach einem Glas Wodka in die Küche gekotzt. Mit einem Lappen in der Hand hatte sie getobt. „Genau so dumm wie dein Vater!“

Über diesen Pandurski hatte er nie Fragen gestellt. Die Leute hatten von ganz allein angefangen, in seinem Beisein über den Mann zu reden. Er drückte den Stift aufs Papier und schrieb, dass sein Vater in einer Gärtnerei gearbeitet und Musik gemacht hatte. Schlüsselblumen und Notenschlüssel, schrieb er dazu und strich es gleich wieder durch. Speck sollte nicht denken, dass Nico ihn beeindrucken wollte. Aber diesen Raum durfte er nicht verlassen, bis das Blatt gefüllt war.

Auf der Suche nach Süßigkeiten hatte er mal Fotos gefunden. Sie zeigten einen Kerl in DDR-Jeans und merkwürdig abstehenden Haaren, das Gesicht noch fast kindlich. Es wirkte nicht besonders intelligent und Nico hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit sich selbst feststellen können. Auf einem Bild hielt er eine Gitarre in der Hand, auf einem Anderen einen Schlagstock. Auf einem dritten Bild balancierte er ein aufrecht stehendes Mädchen auf seinen Schultern. Sie lachte, hatte tief ins Gesicht gekämmte Haare und eine markante Nase- seine Mutter. Ein einzelnes Wort hatte auf der Rückseite jeden Bildes gestanden. Pimmel. Was für ein bescheuerter Spitzname. Auf das Papier schrieb Nico, dass sein Vater in seiner Jugend albern gewesen war.

Er wusste nicht, was Speck von ihm erwartete. Aber er wusste, warum er das tat. Jemand hatte einen Haufen Hundekacke gegriffen und ihn sorgfältig in den Türgriff von Specks Auto geschmiert. Nico war das nicht gewesen, aber er hatte zugesehen und den Lehrer grinsend gegrüßt, als dieser ihm auf dem Weg zum Parkplatz entgegen kam. Hinter seinem Rücken hörte er dann obszöne Flüche. Es war eins der eindrücklichsten Erlebnisse seiner bisherigen Schulzeit. Aber wie sehr Speck das gedemütigt hatte, begriff er erst, als er das Aufsatzthema las.

Nico schob den Stift zwischen seinen Schneidezähnen hindurch. Eigentlich wusste er fast nichts über diesen Mann. Er wusste, was Leute ihm erzählt hatten. Aber er wusste auch, wie viel Mist die Leute erzählten. Ein Ereignis gab es, von dem er so viel gehört hatte, dass es auf irgend eine Art stattgefunden haben musste. Glashaus Rock, Pandurski war Gärtner gewesen und sein einziges richtiges Konzert als Musiker hatte er wohl illegal im Gewächshaus seines Betriebes gegeben. Das war Legende in dem Städtchen, Glasscheiben, die vom Klang seiner verstimmten Gitarre vibrierten, Halbstarke, Kotze, Scherben und ein Polizeieinsatz. Angeblich war Pandurski dafür in den Knast gegangen. Angeblich war er aber auch am folgenden Abend schon wieder am Marktkiosk gesehen worden, beim öffentlichen Geschlechtsverkehr mit der Verkäuferin.

Jemand hat mir gesagt, dass Pandurski der beste Dichter der Stadt war, schrieb Nico. Das stimmte. Vor einer Trinkhalle hatte ihn jemand mal regelrecht angeschrien: „Die Texte vom Pimmel waren so geil! Der Einzige der wusste, wie krass das Leben ist.“ Und immer wieder: „Mach dich doch selbst kaputt...“ Speck nannte die Jugendkultur aus dieser Zeit Müll, darum hatte Nico sich mal eine Kassette angehört. Lautes Jaulen und jemand krächzte wie durch ein nasses Handtuch. Nico war froh, dass es jetzt MTV gab und die Videos von Dr. Alban.

Letzten Endes hatte er Pandurski oder Pimmel oder den Mann der angeblich seine Mutter geschwängert hatte nie gekannt. Sollte er ein ganzes Blatt mit Gerüchten füllen? Sein Vater hatte in Berlin heimlich eine Platte aufgenommen und dann den Produzenten verprügelt. Sein Vater hatte Synthesizer selber gebaut und sein Talent für Elektronik hätte ihn reich machen können. Sein Vater nahm Heroin. Aus schwarzen und weißen Stiefmütterchen hatte er in den Stadtrabatten einen Totenkopf gepflanzt. Für zwanzig Mark Ost verpfiff er seine Freunde an die Stasi. Sein Vater war der erste Punkrocker Thüringens.

Neidisch sah Nico, wie vor ihm Johannes mit sauberer Handschrift sein Blatt füllte. Sein Vater war bei der freiwilligen Feuerwehr. Was konnte Nico Positives schreiben? Auf dem Nachttisch seiner Mutter stand ein Strauß sorgfältig getrockneter Osterglocken. Das war ein schönes Geschenk gewesen, sagte sie oft. Aber den Herrn Pandurski habe sie nur flüchtig gekannt. Darauf legte sie Wert. Denn der saß in der geschlossenen Psychiatrie. Er hatte vor Jahren seinen Bruder mit einer Axt erschlagen- kein Besuch zugelassen. Nico kaute an seinem Stift. Konnte er das zu Papier bringen? Er wollte sich vor Speck nicht demütigen. Aber er wollte auch nichts Unwahres schreiben. Dafür war er nicht der Typ. Der Stift knirschte zwischen seinen Zähnen.

„Bitte iss nicht deinen Stift, den brauchst du doch zum Schreiben.“ Speck grinste ihn an und die ganze Klasse lachte. Nico wurde rot. Gerne hätte er jetzt das Blatt zerrissen. Er holte tief Luft. Dann aber setzte er den Stift wieder an. Er schrieb vier Zeilen, besonders groß und ein wenig schräg, damit sie den Rest des Blattes füllten. Erstaunt betrachtete er dann seinen Aufsatz. Das Leben eines Fremden konnte er nicht erklären. Aber ihm war ein Fetzen dieser gekrächzten Texte wieder eingefallen:


Ich mach mein Leben lang nur Scheiße

Hab keine Ahnung, warum ich’s tu tu tu

Aber du bei deiner eigenen Scheiße

Weißt du denn wenigstens wozu zu zu?


Dann läutete die Glocke und Speck sammelte die Arbeiten ein. Als letzte Korrektur strich Nico noch schnell den Titel durch, nicht Mein Vater. Statt dessen schrieb er Pimmel.
 

Sinelenis

Mitglied
Hallo,

ich find die Gedanken und die Thematik mit dem der junge Nico gerade versucht seinen Aufsatz zu schreiben sehr authentisch geschrieben.
So haben wir uns wahrscheinlich allemal gefühlt. Bei manchen war es wahr, dass der Lehrer dir wirklich eine reindrücken wollte, bei manchen gewiss unser eigener Kopf, der einfach sein Teeny denken vor schob.

Der Titel ist sehr gut gewählt.
Mir gefällt es.

Sinelenis
 



 
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