Piraten im Orion-Sektor

E. H. Berger

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Der jähe Rücksturz aus dem Hyperraum erwischte die Piratenbande an Bord der RED ROOSTER kalt. Als die Anzeige auf dem Schirm sich nach einigen Sekunden wilden Flackerns wieder stabilisiert hatte, prangte in ihrer Mitte ein gigantischer Gasplanet. Er schien von Sekunde zu Sekunde zu wachsen, als das Piratenschiff geradewegs auf ihn zustürzte.

„Verdammt“, fluchte „Mad Dog“ Murdock, der für sich den Rang des Kommandanten an Bord der RED ROOSTER beanspruchte. „Kurs null-null-dreißig und Vollschub“, befahl er dem Piloten; das Manöver sollte das Schiff aus dem Schwerefeld des Planeten herausschleudern.

„Kein Schub“, antwortete Pilot Greene von seiner Konsole her, einen Anflug von Panik in der Stimme.
„Was soll das heißen, kein Schub? In ein paar Minuten krachen wir in dieses Riesenbaby – gib Stoff, Mann!“.

„FADUC inop.“, meldete sich Lafritte zu Wort, der die Funktionen des Bordingenieurs und Navigators wahrnahm.
Wenn die Triebwerkssteuerung, die Full Authority Digital Thrust Control, kurz FADUC, ausfiel, ging mit dem Triebwerk gar nichts mehr. Da das FADUC jedoch doppelt eingebaut war, hätten die Funktionen des ausgefallenen Geräts normalerweise automatisch vom Zweiten übernommen werden müssen.

„FADUC zwo standby.“, kam Lafritte einer entsprechenden Frage seines Kommandanten zuvor. Die automatische Umschaltung hatte nicht funktioniert, aber wenigstens war das Backup-Gerät nicht ganz ausgefallen. „Schalte manuell um“, fügte er hinzu. Noch bewahrte er die Ruhe.

Inzwischen war der Gasriese auf dem Frontschirm deutlich gewachsen. Sein Schwerefeld zog die antriebslose RED ROOSTER unerbittlich weiter ins Verderben.

Lafritte klappte die Schutzkapsel, die den manuellen FADUC-Umschalter vor unbeabsichtigter Betätigung schützte, auf und legte den Schalter um.
Er sah hoffnungsvoll auf den CES, den Compact Engine Screen, der alle vom FADUC kontrollierten Triebwerksdaten anzeigte – oder anzeigen sollte. Stattdessen erschien in der unteren linken Ecke des Bildschirmfensters in kleinen Lettern die Meldung „booting – please wait...“
Mittlerweile füllte der Planet fast den gesamten Bildschirm aus. Murdock kämpfte gegen seine aufsteigende Panik an. Jedoch, so abgebrüht er auch war, konnte er doch nicht verhindern, daß sein Puls zu rasen begann.

O’Mole-Sio, Commander in den vereinigten Raumflotten des Orion-Sektors, klatschte seine beiden oberen Tentakel zusammen. Seine Rüsselspitze zitterte, bei Angehörigen seiner Spezies immer ein Zeichen starker Erregung.
„Was ist passiert?“, trompetete er an die Adresse seines Piloten, O’Re-Pa
„Hyperanomalie“, antwortete dieser knapp; er war noch nie ein Freund langer Trompetensolos gewesen.
Der Kreuzer, der eben noch im Hyperraum der heißen Spur der RED ROOSTER des notorischen Raumpiraten „Mad Dog“ Murdock und seiner Bande von Halsabschneidern gefolgt war, fand sich nun ebenso plötzlich wie unerwartet im Normaluniversum wieder.
O’Ma-Ba, der Navigations- und Ortungsoffizier, spielte die Anzeige des Ortungssystems auf den Hauptschirm ein. Das Schiff war am Rand eines Sonnensystems mit elf Planeten zurückgestürzt. Nach und nach liefen die Daten des überlichtschnellen Massescanners ein und wurden angezeigt. Am auffälligsten war der neunte Planet, eine Gaskugel von etwa derselben Masse und Größe wie der solare Jupiter.
Eine neue Ortungsanzeige blinkte auf. Überrascht reckte O’Ma-Ba seinen Rüssel. „Ortung“, trompetete er.
Auf dem Schirm war nun das Symbol eines Raumschiffs aufgetaucht, das anscheinend verzweifelt versuchte, sich vom neunten Planeten zu lösen. Seine Triebwerke schienen auf Vollschub zu laufen. Ihre im Bordrechner des Militärkreuzers abgespeicherte Signatur ließ keinen Zweifel daran, worum es sich handelte.
„Es ist die RED ROOSTER.“, meldete er.
„Abfangkurs“, befahl O’Mole-Sio. „Wir haben sie. Antimateriegeschütze klarmachen. Schuß vor den Bug. Jetzt ziehen wir ihnen die Rüssel lang!“

Die Piraten an Bord der RED ROOSTER hatten mit dem Leben abgeschlossen.
Das FADUC war zwar endlich hochgefahren und Lafritte war es gelungen, das Normalraumtriebwerk zu starten. Die Kontrollleuchte des Hypertriebwerks blinkte noch immer rot. Greene hantierte wie wild mit seinem Steuerstick und den Schubreglern und versuchte verzweifelt, das Schiff auf einer tangentialen Bahn mit maximaler Beschleunigung aus der immer enger werdenden Umlaufbahn zu bringen. Aber inzwischen hatte der Planet das Schiff schon so nahe an sich herangezogen, daß ein Verlassen des enormen Gravitationsfeldes unmöglich war – theoretisch jedenfalls.
Die Kontrollanzeige des Hypertriebwerks sprang von rot auf grün. Murdock sah es noch vor Greene. „Hypersprungpunkt berechnen und auf Eintrittsgeschwindigkeit beschleunigen.“, wies er seine Crew an.
„Ortung“, meldete sich Lafritte und spielte die Daten auf den Schirm..
Aus der zwei-Uhr-Position beschleunigte ein Raumfahrzeug auf die RED ROOSTER zu.
„Es sind die verdammten Rüssel!“, rief Lafritte, als der Orter die Triebwerkssignatur ausgewertet hatte.
Der Schirm leuchtete grellweiß auf, als wenige Kilometer vor der RED ROOSTER eine Antimateriegranate explodierte.
Ohne den Befehl seines Kommandanten abzuwarten, riß Greene das Schiff herum. Unwillkürlich wollte er den Schub noch weiter erhöhen, doch der Hebel stand schon am Anschlag.

„Wir haben Sie!“, trompetete O’Mole-Sio aufgeregt. Das Ausweichmanöver würde den Piraten nichts nützen – sie konnten nicht mehr entkommen. Er wollte O’Re-Stei, dem Bordschützen, befehlen, den Flüchtenden noch einen Schuß vor den Bug zu setzen. Doch O’Ma-Bas überraschter Ausruf lies ihn innehalten: „Sie stürzen wieder auf den Planeten zu!“.
In der Tat fiel die RED ROOSTER in einer rapide enger werdenden Spiralbahn wieder auf den Gasriesen zu.

„Eintrittsgeschwindigkeit erreicht, Sprungvektor undefiniert“ meldete Greene. Die Gravitation des Planeten hatte die RED ROOSTER auf Eintrittsgeschwindigkeit beschleunigt. Jedoch hatte der Schiffsrechner weder Eintritts- noch Austrittskoordinaten berechnen können.
Eine zweite Granate explodierte nahe der RED ROOSTER, viel zu nahe.
„Spring!“ kommandierte Murdock. Greene jedoch zögerte. Einen Hypersprung ins Unbekannte wagen?
„Worauf wartest du? Willst du, daß wir abgeschossen werden oder in einer Strafkolonie landen?“
Greene griff nach dem Hebel des Hypertriebwerks, schloß die Augen und zog ihn mit einem Ruck zu sich her.

O’Mole-Sio gab einen kurzen, zornigen Trompetenstoß von sich, als die RED ROOSTER vom Bildschirm verschwand. „Haben wir ihren Sprungvektor?“, fragte er.
„Affirmativ“, antwortete O’Ma-Ba.
„Hinterher!“.
„Aber sie …“, begann O’Ma-Ba.
„Los!“.
„Aber …“.
„Das ist ein Befehl!“.

„Ortung, Position!“, bellte Murdock nach dem Rücksturz der RED ROOSTER.
„Läuft.“, Lafritte stand der Schweiß auf der Stirn, als er auf das Eieruhrsymbol starrte, das sich auf dem Ortungsschirms drehte.
Hinter, rechts und links von der RED ROOSTER leuchteten die Sterne der Galaxis auf den Schirmen. Voraus war – nichts. Eine schwarze Wand baute sich vor dem Piratenschiff auf. Die RED ROOSTER trieb darauf zu.
Die Positionsbestimmung war abgeschlossen. Der Koordinatensatz blinkte rot auf Lafrittes Ortungsterminal.
„Heilige Scheiße!“, stöhnte Lafritte.

Verbotene Zone, die: dem Orion-Sektor benachbarte, kugelförmige Dunkelwolke von null Komma fünf Lichtjahren Durchmesser. Von außen nicht einsehbar, undurchdringlich für alle bekannten Ortungsmethoden. Einflüge während der letzten hundert Jahre: 238. Ausflüge: null Maximales Risiko für Raumfahrzeuge: Verlustquote 100%.
Encyclopedia Galactica, Ausgabe 12022 Galaktischer Zeitrechnung.

„Umkehrschub und weg hier!“, brüllte Murdoc.
„Ortung“, preßte Lafritte hervor. „Die Rüssel!“.
Die Antimateriegranate explodierte direkt neben der RED ROOSTER. Warnlichter begannen auf allen Konsolen zu blinken.
„Hyperantrieb inop“, meldete Greene.

„Sie sind am Rand der verbotenen Zone“, trompetete O’Ma-Ba.
„Versuch, ihren Antrieb auszuschalten“, befahl O’Mole-Sio seinem Bordschützen. „Feuer!“.
„Treffer!“, trompetete O’Re-Stei triumphierend.

„Jetzt wird zurückgeschossen!“.
Die Granate der Militärs hatte den Hyperantrieb zerstört. Die RED ROOSTER war damit zur leichten Beute geworden. Aber sie würde kämpfen! „Bis zum letzten Mann!“, knurrte Murdock grimmig.
Zielerfassung und Geschützkontrollen lagen auf seiner Konsole. Er klappte eine Abdeckkapsel auf und legte den Hebel darunter um, der das Feuerleitsystem aktivierte. Ein rotes Fadenkreuz erschien auf dem Hauptschirm. Murdock steuerte es über den Ortungsreflex des Feindes. „Locked on target“, erschien in roten Lettern unter dem Kreuz.
Murdock feuerte. „Treffer!“.
O’Re-Stei feuerte. „Treffer!“.
„Normalantrieb inop“, meldete Greene.

„Normalantrieb inop“, meldete O’Re-Pa.
Beide Schiffe hatten sich gegenseitig lahmgeschossen.
Beide Schiffe trieben auf die schwarze Wand zu. Die RED ROOSTER würde sie zuerst erreichen, in etwa einem Tag. „Was dann?“, fragte sich Murdock. „Noch kein Schiff hat jemals die verbotene Zone wieder verlassen.“.

„Wie lange noch?“, fragte Murdock.
„Eine Minute.“, antwortete Lafritte.
Die Sekunden verstrichen. Lafritte begann einen Countdown: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf …“.
Auf den Schirmen, die den Raum hinter, links und rechts der RED ROOSTER anzeigten, begannen dis Sterne zu erlöschen.
„Vier, drei, zwei, eins, Ei-Eintritt!“.
Alle Schirme zeigten Schwarz; die Anzeigen für Ortung, Position, Strahlungswerte und das Licht in der Zentrale erloschen. Die Notbeleuchtung aktivierte sich und tauchte Besatzung und Einrichtung in rotes Dämmerlicht.
Dann flammten die Schirme wieder auf. Auf allen Seiten schien diffuses, milchig-weißes, von hellgrauen Schlieren durchzogenes Licht.
„Kannst du irgendwas orten? Schiffe? Schiffswracks?“ fragte Murdock.
„Ne-Negativ“.
Die Lautsprecher der Hyperfunkanlage erwachten zum Leben. Sie gaben ein leises Rauschen von sich, dann ein Knistern und knacken. Dann ertönte eine Stimme.

An Bord des Militärkreuzers wandte sich O’Mole-Sio an seinen Ortungsoffizier: „Wie lange noch?“.
„Zwölf Stunden, dreißig Minuten und fünf Sekunden.“, antwortete O’Ma-Ba.
„Keine Möglichkeit, den Kurs zu ändern?“.
„Negativ.“
„Heiliger Rüsselschleim!“, trompetete O’Mole-Sio.

„Willkommen! Herzlich willkommen!“.
„Oh, Mann!“, dachte Murdock. „Klingt wie Susi Müller!“. Die weibliche Stimme troff von Erotik.
„Ihr Tapferen! Wie lange mußte ich warten!“.
Der Besatzung der RED ROOSTER fiel ein Stein vom Herzen. Der Empfang in der verbotenen Zone war keineswegs unfreundlich, schien es.
Murdock beugte sich zu seinem Mikro vor. „Hallo!“. Es fiel ihm nichts Besseres ein.
„Susi Müller“ ging nicht darauf ein, sondern sprach weiter:
„Seit über zwanzig Jahren hat sich niemand mehr hierhergewagt. Wie sich die Zeiten ändern. Früher genügte es, einen Raumsektor als verboten zu deklarieren, und jeder, der etwas auf sich hielt, flog erst recht hinein. Das war der Geist des letzten Jahrtausends. Aber heute. Alle wollen absolute Sicherheit, haben Angst vor dem Unbekannten, selbst Piraten wie ihr. Zum Glück habe ich einen großen Nahrungsspeicher. Aber jetzt habe ich ja euch Leckerbissen!“

„Nahrungsspeicher? Leckerbissen? Etwas ist hier oberfaul!“, dachte Murdock.
„Köstliche Antimaterie. Alle möglichen Metalle. Kohlenwasserstoffe. Und, als pièce de résistance, Proteine. Ihr seid ja Prachtexemplare! So hochwertige Proteine! Heute Abend wird gegrillt!“.

Vier, drei, zwei, eins, Ei-Einflug!“.

Die Schirme, alle Anzeigen und die Beleuchtung in der Zentrale erloschen.
Dann flammten die Schirme wieder auf und zeigten diffuses, milchig-weißes, von hellgrauen Schlieren durchzogenes Licht an.
„Kannst du die RED ROOSTER orten? Oder andere Schiffe? Oder Wracks?“
„Negativ“, antwortete O’Ma-Ba.
Es begann, im Hyperfunk zu rauschen. Dann knisterte es. Dann knackte es. O’Mole-Sios Rüssel stellte sich waagerecht.
Ein glockenhelles Trompeten erscholl aus den Lautsprechern.
„Willkommen! Herzlich willkommen!“.
 

petrasmiles

Mitglied
Toll geschrieben! Ist ja eigentlich nicht so meins, Science Fiction zu 'lesen', das schaue ich mir lieber an, aber Dein Text hat mich reingezogen und die perfekten Dialoge dabeibleiben lassen.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

E. H. Berger

Mitglied
Hallo Petra,

Vielen Dank für Deinen sehr motivierenden Kommentar. Es freut mich sehr, daß Dir die Geschichte gefallen hat, obwohl SF zu lesen nicht so Dein Ding ist. Meine Absicht war, sie mit einem Schuß Humor zu würzen, damit auch nicht-eingefleischte SF-Leser ihren Spaß daran haben.

By the way: Die Geschichte ist schon ein paar Jahre alt; um sie hier zu posten habe ich sie gründlich überarbeitet und mit einem neuen Schluß versehen.

Liebe Grüße

Tom
 



 
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