Plastiksoldaten (Die Dreckigen und Kaputten)

Cpt.Tennis

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Unzählige Finger betätigten an Abenden wie diesen ihre Türklingel; das matte Weiß des Schalters verfärbte sich mit der Zeit in ein Gelbbraun, das nur in Form von Pisse auf den Klobrillen öffentlicher Toiletten zu finden war. Sie wusste nie, woran sie es erkannte, noch um welche es sich handelte.
Mehrmals. Die Dreckigen und Kaputten klingeln immer mehrmals ..., versuchte sie es sich zu erklären. Mehrmals, immer mehrmals. Sie war sich aber nie sicher und wusste nur: die grazilen und makellosen, die nicht einen Millimeter Dreck unter den Nägeln hatten finden lassen, und die der rückstoßverkrampften, Hämatom befleckten und sandsteinrauen Finger trugen alle das verblasste und bis zur untersten Schicht abgenutzte Gold eines Eherings.
Der Himmel draußen war tiefschwarz und Blitze in der Wohnung zerschellten und hüllten die beigen Wände für den Bruchteil einer Sekunde in ein grelles Blau-lila ein, wie Wellen in einem Teich. Sie alle unterlagen abermals der Anzahl an Händen, die ihr den schmalen Rücken zerkratzten, ihre feuerroten Haare zerzausten und ihr ein Mal der blauen Würgeschlange um den Hals stanzten. Sie hatte es sein lassen; es kam ihr nicht einmal mehr in den Sinn, wann das letzte große, eingeritzte »I« am Bettpfosten ihr die Fingernägel blutig und abgefeilt zurückgelassen hatte, als zum (die Pfosten zeigten sieben mal fünf Fünferblöcke an) aber tausendsten Mal das verzweifelte Stöhnen die Wände erzittern, das rachsüchtige Stoßen im Bett den Holzboden wie ein Krähenschwarm krächzen, das KLATSCH! an ihrer Wange in den Ohren raunte, und die schweißbestückte Luft die Fenster beschlagen ließ.

Er spielte wie immer auf dem Teppich, im Wohnzimmer der Dreizimmerwohnung, und das augenkrebsbegünstigende TV-Licht schmiss seinen Schatten an die Wände. Die meiste Zeit war er so in seine Spielereien vertieft, dass der alte Rekorder die Kassette raushängen ließ wie eine Zunge und nur noch ein greller Schneesturm auf dem Röhrenfernseher zu sehen war. In seinen ozeanblauen Augen brannten scharlachrote Rinnsale und das ermüdende Taubheitsgefühl der mondsichelförmigen Augenringe wollte nicht nur die Augenlider, sondern seinen ganzen Körper zu Boden ziehen. Doch er hielt durch; der Kampf der schwarzen und weißen Flimmer auf dem Bildschirmschlachtfeld bedeutete ihm nichts, für ihn gab es nur sein Schlachtfeld, seine Normandie. Zu seiner Linken befand sich das weite Blaue des faserndurchzogenen Meeres mit Pappschiffen, auf dessen Bug sich entweder der Schriftzug LETZTE MAHNUNG oder eine für ihn unaussprechlich hohe rote Zahl befanden, gefolgt vom rauen betongrauen Sandstrand der voll von aus Gummibändern und Bleistiften erbauten Tschechenigel übersät war, hinauf aufs Sofa zu seinen grünen Plastiksoldaten, die an einem mit einem Stück Garn oder manchmal auch seinen eigenen Schnürsenkeln befestigtem Taschentuch ins Gefecht sprangen.
(Petty Officer McKingley! Nein, bevor sie nur ein Bein auf den Boden setzen, durchsieben die scheiß Baguette-Fresser ihre jämmerlichen Klöten, Sie verdammter Hundesohn!)
(Sergeant, bei allem Respekt: Ich bin nicht hergekommen, um mir in die Scheißhosen zu pissen!)

Er lachte. Mit einer leichten Handbewegung stieß er ihn um, denn natürlich fiel er. Prosaisch war der Krieg nie. Zufällig. Hinterhältig. Helden gab es keine, nur Dreckige und Kaputte., trichterte seine Mutter ihm immer wieder ein. Deine Plastiksoldaten haben keine Namen. Nie., erklärte sie ihm. Solche Männer kommen und gehen, wie Ebbe und Flut. Sie fallen, nichts weiter, und die, die zurückkom -
Sie konnte es nie übers Herz bringen diesen Satz zu beenden. Er brach ab, wie ein dünner Ast unter dem Gewicht eines Erwachsenen auf einer Schaukel.

Ein erneutes Blitzen. Nach wenigen Augenblicken spürte er ein hartes Vibrieren seine Handflächen erklimmen, den Elfenbeinturm seines kindlichen Verstandes emporsteigen. Seine Hände zitterten, eine Entropie wütete in seinen Augenhöhlen, die Pupillen sprangen hin und her, auf und ab, wie Pingpongbälle; und doch herrschte gleichzeitig in seinem Kopf das Auge des Sturms.
(Zählen ... Ja, zählen! Was Mami mir zeigte! Eins, zwei, drei -)
Es blitzte.
(Eins, zwei, dr -)
Und blitzte.
(Eins, zwei -)
Und blitze.
(Ein -)
Und blitzte. Doch es schien keine klaren Übergänge zu geben, kein Abhacken, kein Schnitt ins Papier, kein Schluckauf. Sondern wie etwas, das schwappt, wie...
(Wellen, ein Flammenmeer?)
Ein schwarzer Lederabsatz trampelte neben ihn ein. Schoß an seiner Wange vorbei, und hätte ihn so sehr überrascht wie der alte Zaubertrick mit der Münze und dem Ohr. Doch sobald man ihn kannte, war er nix besonderes mehr ...
Die schweren Schatten, die vom Mantel an die Wand geworfen wurden, beendeten den Blitzkrieg in seinem Kopf und auf dem Fernseher. Es wurde ihm klar vor Augen und er wusste es. Es war so dingfest, wie Nebel- und Rauchschwaden am Ende einer Schlacht.
Seine Mutter streichelte ihn über seinen Rücken und drang ihn zur Couch. Sie schob ihm eine von diesen typischen Film-Noir-Streifen in den Videorekorder, deckte ihn zu und gab ihn einen Kuss auf die Stirn, bevor sie ins Schlafzimmer verschwand. Er hasste solche Filme. Sie waren zu vorhersehbar: Privatdetektiv löste den Fall - der Verlobte war es. Die Polizei war mal wieder nutzlos, das Kartell und die Prohibition spielten eine Rolle und dem zur Ermittlung herangezogenen, jahrelangen Serienmörder und Nemesis des Detektivs gelang die Flucht. Untertitel gab es keine, Mono- und Dialoge entstanden in seinem Kopf und obwohl er sie selbst verfasste, waren sie so grau und fade wie das Bild, das er sah.
Gestrandet auf seiner einsamen Insel, betrachtete er so das hinterlassene Chaos.
(Sie stapfen immer so durch meine Normandie - vor allem die Männer. Aber Mama manchmal auch ...)
Den Männern waren er und seine Soldaten immer egal, wie ihm die Männer. Er erinnerte sich eh mehr an ihre Fußabsätze als an ihre Gesichter, genauso wie an das seines Vater, was nur noch ein weggespülter Abdruck am Sandstrand seiner Erinnerung war. Doch ihm waren seine Soldaten nie egal. Er las das fettgedruckte McKingley an der Fußplatte des Soldaten und hob ihn auf. Er umschlang ihn so sehr in seinen Fingern, als würde er ihn nie wieder fallen lassen und schlief im Lichtkegel ein.

Es blitzte erneut, und blitzte und blitzte und blitzte. Als er seine Augen öffnete, glänzten die Partikel in der Luft wie Pulverschnee und bewegten sich in Zeitlupe. Es blitzte abermals. Der TV-Bildschirm flimmerte im Hintergrund und versuchte gegen das grelle Sonnenlicht anzukämpfen, das sich auf seiner Nase warm anfühlte und ein Kribbeln auslöste. Noch bevor er diesen Reiz stillen konnte, bebten die Wände um ihn herum, die Tür erzitterte und die -
(Wellen!)
Er sprang auf und sah zum Fenster. Die Sonne schien! Es war Tag!
Er rannte zur geschlossenen Schlafzimmertür, drehte sie auf und was er vorfand -
Der leblose nackte Körper seiner Mutter, teilweise zugedeckt im Federbett, die Hand runterhängend, und ihr Blut floss in Rinnsalen vom Arm hinunter. Nur ein paar Zentimeter unter ihrem Ringfinger saugte sich der Teppich mit einer dunkelroten Blutlache voll, in ihr ebenfalls triefend rot der Goldring seiner Mutter. Er konnte noch nie in seinem Leben reden, gar Schreien, doch dieses Abbild seiner Mutter hätte ihm eine verliehen, nur um sie ihm wieder zu entreißen.
Was sich danach abspielte, musste binnen von Sekunden geschehen sein, denn er spürte nur, wie die Tür eingetreten wurde und Polizisten die Wohnung stürmten. Einer von ihnen starrte immer wieder an die Decke, als er die Türklingel betätigte, und zeigte voller Stolz auf das Ergebnis, so als hätte er die Weltformel entdeckt. Ein Detektiv im braunen Mantel nahm seine Hand und zerrte ihn von der Szenerie. Noch bevor sie die Schwelle der Wohnungstür ganz überquerten, blickte er zurück und sah seinen grünen Plastiksoldaten auf dem Schlachtfeld der Normandie liegend. Er fiel ihm wohl aus der Hand. Er war gefallen.
 
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