Prolog

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Rokwe

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PROLOG

Es begann alles damit, daß ich anfing, meinen Eltern kategorisch Schuld zuzuweisen, da sie Brot wegwarfen. Brot wegwerfen – für mich damals von vornherein eine Sünde. Ich verurteilte es aufs Schärfste, wenn Brot weggeworfen wurde, obwohl ich nicht genau sagen konnte, warum. Die naive Erklärung, daß es so viele hungernde Menschen auf der Welt gebe, und daß man daher aus Solidarität kein Brot wegwerfen dürfe, hielt ich zwar immer für nachvollziehbar, aber letztlich für zu banal. Es mußte mehr dahinterstecken – nur was?
Um ehrlich zu sein, mußte ich nur sehr selten mit eigenen Augen zusehen, wie Brot weggeworfen wurde. Ich hatte es jedenfalls in meinem Elternhaus gesehen und wußte, daß es dort keine Ausnahme war. Von diesem speziellen Fall schloß ich auf die Allgemeinheit und konnte mich fortan über die vielen Tonnen Brot aufregen, die wohl täglich auf der Welt weggeworfen wurden. Ich entdeckte, daß Brot geheimnisvoll war. Es war wertvoll. Ich konnte nicht konkret sagen, warum, aber ich hatte das Gefühl, daß im Brot eine verborgene Wahrheit zu finden war. Und die entdeckte ich schrittweise. Es war eine Entwicklung, die ich durchmachte. Von der bloßen Empörung über das Wegwerfen von Brot, die ich anfangs noch relativ unbegründet und leichtfertig demonstrierte, ging ich bald (als ich mir meiner Sache immer sicherer wurde) zu radikaleren Verhaltensweisen über, um meinen Protest sichtbar zu artikulieren. Wenn ich Brot auf dem Teller liegen hatte, ließ ich beim Essen nicht nur nichts übrig, sondern räumte auch immer penibel die Krümel zusammen – damit ja nichts weggeworfen wurde. Liebevoll pickte ich mit den Fingern noch einzelne Brösel auf und schob sie mir feierlich und, wenn andere Leute mit am Tisch saßen, belehrend-ostentativ in den Mund, als sei jede einzelne Krume der vollendete Ausdruck jener jahrtausendealten Handlungskette, an deren Anfang das Urbarmachen eines Fleckchens Wildnis und am Ende der warme, würzige Brotlaib steht. Den Beruf des Bäckers begann ich über alle Maßen zu schätzen. Ich entdeckte den Mikrokosmos der Welt des Brotes und dachte nicht mehr in ganzen Broten, sondern in Krümeln, da jeder einzelne es verdiente, als Wert an und für sich angesehen zu werden. Ein ganzer Laib, wenn ich hin und wieder mal einen in den Händen hielt, war für mich die unfaßbare Ansammlung unzähliger Krümel, und der ideelle Schatz, den da meine Hände ehrfurchtsvoll streichelten, war unsagbar. Mir gefiel dieses Wort damals im Zusammenhang mit dem Brotlaib, da ich bald feststellte, daß ich meine Gedanken über Brot anderen Menschen nicht mitteilen konnte. Hin und wieder wurde zwar meine immer exzentrischere Einstellung zu Brot manchen Leuten, vor allem meinen Eltern, offenbar, und ich erntete auch den einen oder anderen verständnislosen oder sogar spöttischen Kommentar. Dagegen zeigte ich mich jedoch unbeeindruckt, denn was ich fühlte, war nicht in Worte zu fassen. Nur in einem Buch fand ich irgendwann per Zufall Andeutungen eines Brotmythos, der meinem eigenen ähnelte, und immer wenn ich eine Stelle fand, in der Brot vorkam, hatte ich das Gefühl, im Geiste nicht alleine zu sein. Tatsächlich wurde ich aber immer einsamer, und es bestätigte sich für mich: Brot, das man im Verborgenen essen muß, schmeckt am allerbesten. Oft saß ich stundenlang allein da und dachte. Ich dachte über Brot nach. Brot beschäftigte mich, es bewegte mich, beeinflußte mich. Im Brot war so eine phantastische und aufwühlende Kraft verborgen, daß ich irgendwann sogar beim bloßen Gedanken daran gerührt war und feuchte Augen bekam. Ich aß mein Brot mit Tränen, saß in kummervollen Nächten weinend auf meinem Bette ...
Eines des größten Wunder überhaupt war für mich die Vorstellung, daß aus einem kleinen Weizenkorn eine ausgereifte Pflanze werden konnte, die ihrerseits wieder viele Weizenkörner hervorbrachte, welche wiederum ... So gelangte ich vom Mikrokosmos zum Makrokosmos und entdeckte die Unendlichkeit des Brotes. Ich gab mich Zahlenräuschen hin bei der Überlegung, wieviele Körner ein Getreidefeld von einem Hektar in sich bergen mochte, versuchte mir vorzustellen, daß alle Brote, die auf der Welt an einem Tag gebacken werden, gleichzeitig und an einem Ort gebacken würden und welchen unvorstellbar intensiven Duft, ja welche Orgie warmen Wohlgeruchs man dadurch erzeugen könnte. Ich überlegte, wieviele verschiedene Brotsorten wohl existierten und ob es vielleicht das eine Urbrot gebe, das unabhängig von allen backtechnischen Vorlieben oder regionalen Geschmackspräferenzen sein prototypisches Dasein fristete und gleichermaßen als platonische Brotidee seit Menschengedenken darauf wartete, einmal in Vollendung gebacken zu werden. Wurde es schon einmal gebacken? Wenn ja, wem gehörten die Hände, die es formten? War es ein professioneller Bäcker, der es mit geübter Hand und viel Routine gedankenlos knetete, oder war es ein Amateur, ein Brot-Liebhaber, der eigensinnig und ungeschickt mit Teig herumexperimentierte? War es ein französischer Konditor, der es buk? Eine Brasilianerin? Ein afrikanisches Kind? Oder waren es die ledrigen, rissigen Hände eines pakistanischen Bergbewohners, die nur aus Mehl und Wasser über dem offenen Feuer jene Speise schufen, die über das tägliche, rein rechnerische Soll-und-Haben-Spiel des menschlichen Kalorienbedarfs hinausweist? Ist das Brotbacken nicht ein großes, ideelles Ritual? Wird da die Welt nicht eins? Geht da die Menschheit nicht Hand in Hand gemeinsam auf etwas Höheres zu? Ja, ist nicht jedes Brotbacken Gottesdienst? – so dachte ich.
Brot war für mich unschätzbar wertvoll und unfaßbar geheimnisvoll. Dementsprechend war der respektlose Umgang damit, dessen extreme Ausprägung das achtlose Wegwerfen war, unentschuldbar. Meine übersteigerte Hysterie, was das Thema Brot anbelangte, war nur noch als panisch zu bezeichnen. Auf Rechtfertigungen und Begründungen jeder Art konnte ich getrost verzichten, denn ich fühlte ja die Wahrheit, und das genügte mir. Meine Wahrheit, die unsagbare Unendlichkeit des Brotes, war zweifellos der Fall und daher unverzichtbarer Bestandteil meiner Welt.
Die Steigerung der Brotalität all meiner Gedanken nahm immer beängstigendere Formen an und durchzog alle Bereiche meines Lebens. Als ich einmal einen Kuß erhalten hatte (was in meinem Leben ein seltenes, wenn nicht einmaliges Ereignis war) und die Frau (ich weiß ihren Namen nicht mehr) sich von mir verabschiedete (und ich, als sie sich nach ein paar Metern im Weggehen noch einmal zu mir umdrehte, auf ihrem Mund den Anflug eines vielsagenden und frivolen Lächelns entdeckte, welches natürlich mir galt – wieviele Männer träumen weltweit täglich von so einem leicht verruchten Lächeln, das ihnen gilt?), da dachte ich – während mir also die Frau zulächelte, und ich haßte mich in diesem Augenblick für meine Gedanken – ich dachte also, um es gerade herauszusagen, an die Ungeheuerlichkeit von weltweit zusammengerechnet tausend weggeworfenen Tonnen Brot – dies nämlich mochte, so schätzte ich spontan, die trostlose Summe verlorengegangenen Menschseins eines einzigen Tages sein. (Im Nachhinein betrachtet war mein damaliges Verhalten aber gar nicht so töricht, wie es scheint. Ich kann sogar sagen, daß ich mit einiger Berechtigung in diesem Moment nicht an die Frau und ihren Kuß, sondern an die tausend Tonnen dachte. Denn bis zum heutigen Tag weiß ich noch genau, wie er schmeckte, der Kuß, und beim Gedanken daran kommt mir nur ein einziges Wort in den Sinn: Altbacken.) In meinem Kopf baute ich einen Turm aus tausend weggeworfenen Tonnen Brot, kannte jedes einzelne Teilstück, gab ihm in väterlicher Liebe einen Namen und half so, diesen himmelschreienden Mißstand etwas abzumildern. Doch als ich irgendwann begriff, daß jeder neue Tag tausend neue Tonnen Brot auf den Müllkippen dieser Welt sah und sehen mußte – so zumindest meine Rechnung, und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln –, und die ohnehin schon vorhandene Unendlichkeit der weggeworfenen Brote sich um den noch niederschmetternderen, noch unendlicheren Faktor der Zeit potenzierte, war schließlich der Höhepunkt und das vorläufige Ende meiner Manie erreicht. Ich kapitulierte vor der erdrückenden Unendlichkeit des Brotes und ging an meinen eigenen radikalen Ansprüchen zugrunde.
Ich will es kurz machen: Es mußte irgendwann der Tag kommen, und der Tag kam (und ich weiß noch genau, welcher es war): Es kam der Tag, an dem ich eigenhändig den Tempel meines Laibes einriß (er wurde nicht wieder aufgebaut): Es kam der Tag, da ich Brot wegwarf.
 
H

HFleiss

Gast
Der Herbst ist ein Kind, Prolog

Lieber Rokwe,
auf die Gefahr, dass ich hier einem Missverständnis auflaufe:
Dies ist eine sehr komische Parodie auf den Mythos Brot. Entschuldige, falls ich etwas nicht richtig verstanden haben sollte.
 

Nieselregen

Mitglied
Hi,

Hallo Rokwe,

... na ja, fangen wir mal so an: Der Text ist in der ersten Hälfte gut gemacht, man merkt, du verstehst dein Handwerk.
Die zweite Hälfte ist mitreißend, teilweise sogar furios.
Soviel zum Technischen.
Den Inhalt empfand ich als leicht paranoid und verwirrend (bei aller Ehrfurcht vor unser aller täglich Brot), aber ich vermute genau das war deine Absicht.

Gruß
Nieselregen
 



 
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