Prolog

Najitzabeth

Mitglied
Prolog: Auserwählt

Ein Gesicht unter vielen, das war sie. Das kleine Mädchen, das da im Gras lag und in den Himmel starrte, während alle anderen wild umher tobten. Von Zeit zu Zeit verscheuchte sie eine Fliege, die sich auf ihr nieder lassen wollte. Dieses Kind war anders als andere, das spürte Toni. Sie fürchtete die Einsamkeit nicht.
Die Kindergärtnerin kam und scheuchte das Kind auf, sie sollte doch lieber mit den anderen spielen gehen, anstatt nur herumzuliegen. Menschen! Jede ihnen fremde Verhaltensweise mussten sie unterbinden. Das Mädchen hatte mehr Freude daran ihren Gedanken nachzugehen als hinter einem Ball herzulaufen oder Vater-Mutter-Kind zu spielen. Aber in den Augen der Sterblichen war so ein Verhalten nicht normal, in Tonis Augen machte sie das zur perfekten Anwärterin.
Schon seit einer ganzen Weile beobachtete er das Mädchen mit den glatten, dunklen Haaren. Aufmerksam war er geworden an einem Tag im Frühling, als er von seiner letzten Reise zurückgekommen war in diese Welt, seine Heimat. Laila hatte ihm bereits nahe gelegt sich nach einem Nachfolger umzusehen, das Ende konnte schließlich jederzeit kommen. Toni schüttelte sich. Das Ende! Er mochte gar nicht daran denken.
Ob sie das in der Zukunft gesehen hat? Oder war sie einfach um den Fortbestand des Wächtertums besorgt? Wenn sie sich doch nur mal klarer ausdrücken würde…
Es war in einem Einkaufszentrum gewesen, als er das Mädchen das erste Mal bemerkte. Ihre Mutter zog sie hinter sich her und schimpfte, weil sie es eilig hatten und das Kind nur träumte. Die Gedanken der Frau kreisten immer wieder um: Ihrem Vater, dem Mistkerl, so ähnlich! Das Mädchen weinte stille Tränen und lies es über sich ergehen. Was hätte sie auch anderes tun sollen?
Warum ist Mama böse? Ich verstehe nicht… dann konnte Toni die Gedanken des Kindes nicht mehr verstehen, es hatte die Gedankenebene gewechselt. Ein Mensch hatte eigentlich nur eine Ebene! Er konzentrierte sich und versuchte das Geschrei, das aus hundert menschlichen Köpfen auf ihn einhämmerte, auszublenden. Nein, tatsächlich. Sie war stumm. Sehr eigenartig!
Von da an folgte er ihr. Er musste herausfinden, ob sie nur eine seiner Art war, oder ob sie womöglich seine Nachfolge antreten konnte. Oder war sie einfach nur ein Mensch mit einem nicht menschlichen Talent?
Die Entscheidung war schwer. Normalerweise sollte der Wächter männlich sein, aber er hatte sich noch nie sonderlich gerne an Regeln gehalten und lieber seinem Bauchgefühl vertraut. Etwas anderes störte ihn mehr und ließ ihn noch zögern. Es war nicht üblich einen Wächter unter den Menschlichen zu suchen. Das war gefährlich und leichtsinnig. Was wenn er starb und sie kein Flugler war? Ein Mensch konnte unmöglich die Aufgaben des Wächtertums erfüllen, sie waren zu schwach, zu zerbrechlich. Üblicherweise gab es Freiwillige unter den Fluglern, aus denen man wählen konnte, die sich der Aufgabe aus freien Willen annahmen, sei es aus Langeweile oder Abenteuerlust oder aber auch wegen der Gier nach mehr Macht. So war es auch bei ihm gewesen. Er hatte nicht so recht gewusst, worauf er sich einließ als er sich als Freiwilliger meldete. Dieses Kind würde keine Wahl haben, er konnte sie ja schließlich nicht einfach vorher fragen. Er durfte sich den Menschen nicht offenbaren. Trotzdem blieb er und brütete über dieser Entscheidung. Sein Herz riet ihm zu dem Kind, sein Kopf sagte er solle verschwinden und den vernünftigeren Weg einschlagen. Aber dieses Menschenkind hatte etwas an sich, er konnte es nicht richtig erklären. Toni konnte es nicht in Worte fassen, es war mehr ein Gefühl. Er fühlte, dass es richtig war. Sein Verstand jedoch schrie ihn an, er solle das Menschenkind vergessen und nach Hause fliegen, um dort die richtige Wahl zu treffen. Vielleicht sollte er das ja wirklich machen. Toni war bereits im Begriff aufzustehen, aber er lehnte sich noch einmal zurück. Die Zeit sollte in seiner Überlegung auch noch berücksichtigt werden, schließlich hatte er nicht vor, überhaupt zu sterben. Wenn der Augenblick seines Todes in einigen Jahrhunderten aber doch kam, würde sie vielleicht soweit sein.
Toni schauderte wieder und dachte an Lailas traurigen Blick: „Es wird Zeit für dich einen Nachfolger zu wählen, du solltest dir langsam Gedanken darüber machen wer der nächste Wächter werden soll!“ Während sie das sagte, war ihr Blick immer drängender geworden.
„Ich werde mich umsehen!“, er hatte gelacht und sie im Spaß in den Flügel gekniffen: „Ich weiß schon was ich tue, Laila. Keine Sorge!“
„Genau das befürchte ich ja!“ Da hatte sie auch gelacht. Ein glockenhelles Lachen, voller Sonne...
An dieses Thema wollte er einfach nicht denken. Das war bei ihrem letzten Treffen gewesen, vor beinahe 65 Jahren. Er machte es sich auf dem Ast, auf dem er saß etwas bequemer und lehnte sich mit dem Rücken gegen den dicken Stamm. Seine schillernden Schwingen in der Farbe eines wolkenlosen Himmels links und rechts herabhängend. Ein wenig Zeit sollte er sich noch geben, um diese Entscheidung gut zu überdenken. Er würde das kleine Mädchen da unten, das gerade missmutig hinter einem Ball herlief, damit nicht nur zur Wächterin der Welten machen, er würde ihr gleichzeitig auch die Freiheit schenken müssen, denn als Mensch konnte sie diese Aufgabe nicht erfüllen. Zumindest wenn sie nicht sowieso schon die Seele eines Fluglers in sich trug, schließlich dachte sie auf mindestens zwei Gedankenebenen und eine davon konnte er nicht hören. Das würde am Ende aber keine Rolle spielen, wenn er sie zur Wächterin wählte, würde sie damit gleichzeitig zum Flugler werden, nur das sie dann kein wahrer Flugler wäre. Wenn er an ihre abrupt abbrechenden Gedanken dachte, konnte das nämlich die einzige logische Erklärung dafür sein. Es war rein theoretisch möglich, dass sie trotzdem ein normaler Mensch war. Es gab einige Wenige, in denen ein Fünkchen Magie lebte, ohne dass sie es bemerkten. Das war aber eher unwahrscheinlich.
Nun, das würde er noch herausfinden müssen. Ein oder zwei Jahre vielleicht, und er sollte es auch noch mit Laila besprechen. Ihr würde die Idee nicht gefallen, es wäre ihr sicher lieber, wenn er jemanden wählen würde, der die Verwandlung bereits hinter sich hatte und schon etwas älter war. Er überlegte, wer sonst in Frage kam. Sie waren so wenige, das er alle mehr oder weniger gut kannte, als er noch unter ihnen gelebt hatte. Seitdem er Wächter war, waren zwar ein paar neue hinzugekommen, doch sie waren auch noch so jung und unerfahren.
Vielleicht konnte er John nehmen, oder Tom… Nein, beide waren zwar mächtig genug, hatten aber Geschwister, die sie nicht einfach aufgeben würden, und diese Aufgabe verlangte die Einsamkeit.
Er sah sich wieder nach dem Kind unter ihm um.
Zumindest gab es für sie dann keinen Abschied von ihren Freunden auf Flugel. Toni dachte einen Moment an die Zeit, als er sich verabschieden musste. Er hatte Viva schon so lange nicht mehr gesehen. Ihre blonden Locken die in der Sonne strahlten in derselben Farbe, wie ihre Schwingen. Seine Sonne mit kleinen Sommersprossen auf der Nase. Wärme durchflutete ihn, wenn er daran dachte, ihr Gesicht in seinen Händen. Das nächste Mal würde er sie besuchen, bestimmt.
Seit dem er Wächter war hatte er die Zeit für seine Freunde nicht mehr gefunden und nur noch mit Laila gesprochen, wenn er nach Hause kam, ihm blieben dann selten mehr als ein paar Wochen. Nicht lange genug um Viva zu suchen…
Er verscheuchte den schmerzenden Gedanken und versuchte sich auf sein momentanes Dilemma zu konzentrieren. Das Kind hatte aufgehört zu spielen und stritt sich mit einem dicken Jungen mit rot angelaufenem Gesicht.
„Ich will aber nicht mehr Fußball spielen, das ist doof!“, schrie sie ihn an.
„Ach“, bläffte er zurück und ballte die Hände zu Fäusten: „Du findest Fußball DOOF? Was willst du denn dann spielen?“ Das war nicht wirklich eine Frage, sondern eher eine Drohung. Toni überlegte, ob er dem Jungen einen kleinen Ast auf den runden, pausgesichtigen Kopf werfen sollte. Das wäre sicher witzig.
Das Mädchen warf den Ball weg und verschränkte die Arme und blickte nach oben. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, könnte man meinen, sie habe ihn in der hohen Kiefer entdeckt, doch das war unmöglich, Toni hatte sich für die Menschen unsichtbar gemacht, damit er sie in Ruhe beobachten konnte. Die Augen des Mädchens wanderten umher, so als suchten sie etwas.
„Ich hab keine Lust auf dein Spiel, ich würde viel lieber fliegen!“ Toni stutzte und überlegte ob er gerade richtig gehört hatte. Sagte sie eben wirklich fliegen?
„FLIEGEN?!“, brüllte der Junge und zeigte mit dem Finger auf sie: „Du spinnst doch, das sag ich der Tante!“ Er lief weg zu der Kindergärtnerin. Das Mädchen rieb sich eine Träne von der Backe. Sie hatte Angst vor der Reaktion der Tante, sie würde sagen, sie könne doch gar nicht fliegen und das wollte sie nicht hören. Toni hörte ihre Gedanken, die urplötzlich wieder endeten, als das Kind die Ebene wechselte. Wusste sie was sie tat oder war es ihr gar nicht bewusst? Das Mädchen kam näher an den Baum heran auf dem er saß und begann ein paar Äste hoch zu klettern. Besonders weit kam sie nicht, die Abstände zwischen den Ästen wurden zu groß. Sie rutschte so nah an den Stamm wie möglich zwischen die dichten Nadeln, vermutlich damit sie niemand sehen konnte. Toni fand es verwirrend die Gedanken des Menschen nicht hören zu können. Wirklich sehr eigenartig…
Er setzte sich auf und ging in die Hocke, nur noch seine Zehenspitzen berührten den schwankenden Ast. Um das Gleichgewicht zu halten breitete er die Flügel ein wenig aus. Ein paar abgeknickte Zweige fielen zu Boden. Toni vergaß manchmal, dass er während er unsichtbar war immer noch die Dinge berühren konnte. Das würde ihn irgendwann sicher in Schwierigkeiten bringen. Ein Kichern entkam ihm, das würde dann sicher äußerst amüsant werden.
Er musste sich für ein paar Stunden zurückziehen um nachdenken zu können. Und wo konnte man besser nachdenken als zwischen den sich windenden Wolken. Toni sprang ab, der Ast knackte gefährlich, hielt aber. Er desmaterialisierte sich unter dem Sprung kurz, um aus dem Baum ohne Kratzer heraus zu kommen. Wie der Wind glitt er in den offenen Himmel hinaus und sauste empor. Was er nicht bemerkte, war das Mädchen, das nach oben starrte mit leuchtenden Augen und sich fragte, was für ein Vogel so einen dicken Ast wohl zum schwanken bringen konnte. In ihrer Fantasie flog sie mit ihm.
Wieder die Gestalt angenommen, schlug er ein paar Mal mit den Flügeln, aber bevor es zu anstrengend wurde nahm er den größten Teil der Schwerkraft, die auf seinen Körper wirkte von sich und kam jetzt mit weniger Muskelkraft aus. Er steigerte die Geschwindigkeit noch. Der Wind brannte in seinen Augen und auf der nackten Haut seines Gesichts und seiner Arme und Füße. Das T-Shirt und die Jeans, die er bei seiner Ankunft auf der Erde gestohlen hatte, flatterten um den drahtigen, schlanken Körper. Wenn er sich unter den Menschen zeigte, sahen sie ihn als einen etwas kleinen, sehr schlanken jungen Mann, mit dem Gesicht eines Models. Nicht selten drehten sich die Frauen nach ihm um. Als er noch ein Mensch war hatte ihn niemand beachtet…
Die Luft wurde dünner, doch das war nicht wichtig, er konnte einige Tage ohne Sauerstoff aushalten, und selbst dann starb er nicht, sondern fiel nur in einen tiefen Schlaf, aus dem er beim nächsten Atemzug wieder erwachen würde. Ein Hochgefühl erfüllte ihn, wie jedes Mal, wenn er sich in den unendlichen Himmel stürzte. Toni lachte laut auf und veränderte die Stellung seiner Flügel im Wind so, dass er Pirouetten drehte. Laut jubilierend schraubte er sich durch die Luft. Vorbei an so manchen erschrockenen Vogel. Frei wie ein Vogel in der Luft, was konnte man mehr vom Leben erwarten. Ein Geschenk des Schöpfers, dem er niemals gerecht werden konnte. Ein Leben in dem er an die Erde gebunden war, konnte er sich nicht mehr vorstellen. Was könnte schlimmer sein, als das hier niemals zu erleben, niemals denn eiskalten, brennenden Wind spüren, das Gefühl des ungebremsten freien Falls nicht zu kennen. Der Tod wäre sicher gnädiger, als die Unwissenheit.
Abermals veränderte er die Haltung seiner Schwingen und die seiner Beine, damit er abbremste, und flog jetzt senkrecht nach oben in eine dicke, schneeweiße Wolke.
Jetzt sah er nichts mehr außer blendend weißer Helligkeit. Toni breitete die Arme aus und fühlte mit seinen Fingern die Kälte und Feuchtigkeit seiner Umgebung. Er wurde nass, als würde er im strömenden Regen stehen. Tropfen bildeten sich in seinen Haaren und in den Wimpern. Er blinzelte sie weg.
Toni atmete tief ein, nicht, weil er musste, sondern weil er den Geschmack so sehr liebte, kalt und feucht und… Autoabgase?! Er bremste abrupt ab und blieb mit einem Flügelschlag in der Luft stehen. Toni hustete. Die Luft auf Flugel schmeckt definitiv besser, reiner! Menschen…
Nirgends war es so einfach nachzudenken, den Kopf frei zu bekommen, wie hier oben. Keine störenden Geräusche, nichts was die Augen ablenken konnte. Nur Luft und Wasser. Toni wollte noch einmal einatmen, überlegte es sich dann aber anders, der rauchige, stinkende Geschmack lag immer noch in seinem Rachen.
Also, Toni schloss die Augen und ließ sich vom Wind durch das Gebirge aus Wolken treiben, ich weiß, dass ich bald einen Nachfolger brauche, und ich habe zwei Alternativen zur Auswahl. Erstens, und wahrscheinlich auch besser, wäre es, einen Flugler, der sich freiwillig zur Verfügung stellt, zu wählen. Zweitens, ein kleines, vier Jahre altes Mädchen. Ein Mensch… Meine Güte, eigentlich liegt die Entscheidung auf der Hand. Wie komme ich dazu, auch nur daran zu denken, dieses Kind zu wählen?
Trotzdem, trotz all dem, ich habe das Gefühl, dass es richtig wäre, sie zu wählen. Woher kommt dieses Gefühl nur? Ich verstehe mich selbst nicht mehr…
Toni schlug einmal mit den Flügeln um nicht an Höhe zu verlieren. Er haderte mit sich selbst. Es wäre falsch, das Mädchen zu wählen, aber eigentlich hatte sein Herz die Entscheidung schon getroffen, nur sein Verstand wehrte sich noch dagegen. Er sollte sich noch mehr Zeit lassen, nur ein paar Jahre.
Genau, das würde er tun… und sich davor noch mit Laila beraten. Ja, das würde er tun! Jetzt gleich! Toni blieb mitten in der Luft stehen. Ein schmaler Lichtstreifen hatte sich seinen Weg durch die dichten Wolkenberge gegraben und tauchte ihn in warmes Sonnenlicht. Er setzte dazu an, ein Sphärentor nach Flugel zu öffnen, mit seinen Fingern suchte er vor sich nach der richtigen Stelle, als würde er einen seidenen Stoff abtasten, nach einem Riss suchen. Wie ein Dirigent vor seinem Orchester schwebte er im Nichts, zwischen Sonne und Wolken. Die Flügel ausgebreitet und nur der Wind bewegte einzelne Federn. Toni lächelte, er wusste was er zu tun hatte. Seine Entscheidung war gefallen, er wollte das Mädchen eine Weile beobachten, ihre Entwicklung sehen und er würde sich noch um Lailas Segen bemühen. Mehr brauchte er nicht, um die Wahl guten Gewissens treffen zu können. Er wäre schließlich kein Flugler, wenn er sich nicht auf seine Sinne verlassen könnte, oder?
Und ich werde Viva besuchen! Sein Lächeln wurde breiter.
Da war die richtige Öffnung. Toni hielt sie mit Magie fest und setzte an sie zu öffnen, das Gefüge wankte ein wenig, nichts Unnormales. Als Weltenwächter war es ein leichtes für ihn, so ein Tor zu öffnen, schließlich waren Flugel und die Erde in ein und derselben Welt. Ein Tor in eine andere Welt zu öffnen kostete sehr viel mehr Kraft und Magie. Selbst ein mächtiger wahrer Flugler war nicht dazu in der Lage, ein Weltenportal zu erschaffen und lange genug aufrecht zu erhalten. Es kostete sie schon einiges, ein Tor in ihre Heimat zu öffnen. Ein reißendes Geräusch ertönte als er es aufbrach. Ein Lichtblitz und dann war es auch schon geschehen. Das Portal an sich war beinahe unauffällig. Wie das Flirren der Luft an einem heißen Tag, vielleicht etwas intensiver. Toni wurde immer noch schwindlig, wenn er zu lange hinein sah.
Nach Hause…
Ein Zucken durchlief ihn. Das konnte nicht sein, das durfte doch nicht sein. Ein völlig anderes Gefühl drängte alle anderen in den Hintergrund. Ein Gefühl, das er gut kannte und nicht so schnell zurück erwartete hatte. Toni keuchte. Es war stärker, drängender als sonst. Das Tor, das er soeben erschaffen hatte brach zusammen und war verschlossen, bevor er hindurch fliegen konnte. Vor seinen geschlossenen Augen erschienen Bilder einer anderen Welt. Tod und Krieg. Das Leid tausender von Menschen und anderen Wesen, die er noch nicht benennen konnte. Das Gleichgewicht kippt und Toni mit ihm. Der Wind brannte wieder auf seiner Haut und riss an ihm, als wolle er ihn irgendwie aufhalten. Erst als er fiel bemerkte er, dass die andere Welt ihn ebenfalls aus der Balance brachte und stemmte sich mit aller Macht gegen dieses Gefühl. Er lenkte mit den Flügeln ein und hielt seinen Sturz auf. Wieder hing er in der Luft. Schweiß stand auf seiner Stirn. So intensiv war der Ruf einer anderen Welt noch nie gewesen. Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt? Er wollte nach Hause, seine Freunde nach beinahe zwei Jahrhunderten endlich wieder sehen! Er hatte keine Zeit mehr. Toni konnte dem Drängen beinahe nicht mehr standhalten. Doch er kämpfte dagegen an. Nur eines musste er noch erledigen, bevor er aufbrach und dessen war er sich nun so gewiss, wie, als wären alle Wolken verschwunden und die Sonne schien nun ungehindert in die tiefen Schatten seines Verstandes. Das Menschenmädchen würde seine Nachfolge antreten. Er hatte nie eine Wahl gehabt.

Die Sonne verschwand bereits hinter dem Horizont und tauchte die Welt in eine rötliche Decke. Die Farbe um ihn herum verstärkte die Vision der tobenden Schlacht in seinem Kopf noch. Der Drang, in die andere Welt zu reisen, wurde mit jeder Minute stärker und das Gefühl, seinem eigenen Verderben in die Arme zu laufen, übermannte ihn beinahe. Trotz der Kälte und des schneidenden Windes schwitzte er. Kalter Schweiß. Toni hatte Angst vor dieser neuen Welt. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht zu wissen, was ihn erwartete, aber die Bilder kamen jedes Mal wenn er die Augen schloss. Bilder voller Blut und Schmerz und dann nichts mehr. Dunkelheit. Alles drehte sich im Kreis, kaum war die Vision zu Ende, begann sie wieder von vorne und aus den Schatten trat sein Verderben, wieder wurde alles rot. Er wollte fliehen vor dieser Vision, die Muskeln in seinem Rücken versagten ihm einen Augenblick den Dienst und er ließ sich einige hundert Meter weit nur vom Wind vorwärts tragen. So sehr er es sich auch wünschte, rückwärts konnte er jetzt nicht mehr. Ab dem Zeitpunkt, an dem er sich entschieden hatte, gab es keine Wahl mehr für ihn, es war sein Schicksal gewesen, das wurde ihm jetzt klar. Auch Laila konnte daran nichts mehr ändern. Er musste in diese fremde Welt, alleine und ohne Freunde, er musste dem Drängen folgen. Bevor er dem nachgeben konnte musste er aber noch zu dem Kind. Wie ein Pfeil, zu schnell um von den Menschen unter ihm wahrgenommen zu werden, raste er über die Stadt hinweg. Vorbei an Häusern in der Farbe des Blutes, das er bei geschlossenen Augen sah. Die Sonne blutet für ihn.
Oh Viva… wie gerne hätte ich dich noch einmal im Arm gehalten.
Das Gebäude, das er suchte, kam näher. Von weiten konnte er schon die vier Mehrfamilienblöcke sehen, die nacheinander aufgereiht an einer großen, breiten Straße standen. Hinter ihnen ein Fluss, vor ihnen ein Feld, und doch mitten in der Stadt. Zwischen den Gebäuden jeweils ein schmaler streifen Gras und einige ausgesuchte Bäume, wie eine Illusion von Natur. Für einen Menschen war es ein guter Ort zu leben. Für einen Flugler ein goldener Käfig.
Toni landete auf dem zweiten Gebäude, vom Fluss aus gesehen. Große Kiesel lagen auf dem flachen Dach und eine einsame Antenne ragte in den Himmel, wie ein toter laubloser Baum, ein verlassenes Vogelnest darunter. Das blutrote Licht wurde von jedem einzelnen Stein reflektiert und ließ ihn würgen. Blut, überall Blut, wo kommt nur das ganze Blut her? Er wischte sich die Hände an seiner Kleidung ab und stellte dabei fest, dass überhaupt nichts sie verklebte. Die Visionen wurden immer stärker. Toni konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.
Mit einem Gedanken machte er sich unsichtbar und setzte sich auf die Kiesel. Er musste warten bis das Kind schlief, sie durfte ihn nicht sehen. Die Gedanken kreisten um die Stunden, die er nun, nur mit seinen Visionen beschäftigt, vergehen lassen musste. Er bekam eine Gänsehaut und sein Gefieder stellte sich auf, während er der blutenden Sonne zusah, wie sie hinter dem Feld und weiteren Häusern verschwand und ihr Blut sich über die Welt, in der er zu Hause war, verteilte. Dunkelheit legte sich über Toni und eine Träne fiel zu Boden. Das Ende war nah. Sein Ende.

Es war mitten in der Nacht, der Mond stand voll und hell am Firmament. Toni saß noch immer am selben Fleck, scheinbar bewegungslos, seitdem er angekommen war. Er hatte die Schwingen eng an den Körper gepresst und die Arme um die Knie gewunden. Sein Kopf lag auf seinen Knien. Langsam wippte er vor und zurück, vor und zurück. Kein Laut kam über seine Lippen und sein Gesicht war zu einer Maske des Schmerzes erstarrt, mit zusammengepressten Lippen und weit aufgerissenen Augen. Als es Zeit war zu gehen, stand er auf und trat über den Rand des Daches. Er fiel die fünfzehn Meter bis zum Boden. Im letzten Moment entfaltete er die Flügel und fing seinen Sturz ab. Toni landete geräuschlos im Gras. Keine Gefühlsregung war auf seinem Gesicht zu sehen, er war zu sehr damit beschäftigt, den Drang zu unterdrücken und die Visionen zurück in die finsteren Winkel seines Verstandes zu verbannen. Er stand vor ihrem Fenster. Ein winziger Gedanke und er glitt körperlos durch die Scheibe. Jetzt stand er mitten in dem schmalen, lang gezogenen Zimmer. Der Mond erhellte den Raum und berührte mit seinen eisigen, versilberten Strahlen das Kind. Links und recht von ihm standen hohe Schrankwände, beinahe bis zur Decke. Einen Moment war Toni, als würden sie sich auf ihn zu bewegen, um ihn zwischen sich zu zermalmen. Er schüttelte den Kopf, das Gleichgewicht der Welten hatte sich noch weiter verschoben. Der Schwindel wurde leichter, als er sich wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag, konzentrierte. Keinen Schritt mehr von ihm entfernt lag sie. In einem viel zu großen Bett, eingewickelt in bunt gemusterte Decken. Ihre kleinen Hände lagen neben ihrem Gesicht. Sie atmete leise und gleichmäßig, versunken in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Toni trat näher. Er presste die Lippen zusammen zu einer schmalen Linie. Das war sie also, die nächste Wächterin.
Das Mädchen stöhnte und drehte sich auf die andere Seite. Ihr Gesicht war jetzt in seine Richtung gedreht. Sie wurde unruhig. War es möglich, dass sie seine Anwesenheit spürte?
Er musste sich beeilen, das Kind durfte nicht aufwachen.
Ihre Augen flatterten. Toni kniete sich vor ihr nieder und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sein Kopf näherte sich ihrem. Ihm wurde übel, jetzt roch er das Blut schon. Er schluckte, nur noch eine winzige Sekunde und er wäre bereit zu gehen.
Sie berührten sich, Stirn an Stirn. Seine Finger kribbelten, bald seine Arme und kurz darauf sein ganzer Körper. Ein angenehmes Gefühl, wie Sonnenstrahlen an einem warmen Tag.
„Dein Leben für das aller anderen!“, sprach er zu dem schlafenden Mädchen. Leise und wie Honig drang seine Stimme an ihr Ohr: „Sei frei!“
In dem Moment als er es aussprach öffneten sich ihre Augen, doch es war nicht der Blick eines Mädchens. Ihre Augen strahlten wie das Licht des Mondes, in der Farbe des Meeres, wenn man es von oben betrachtet während sich die Sonne darin spiegelt, etwas zwischen blau und grün, als könne sie sich nicht entscheiden. Toni sah, wer sie sein würde, er sah sie nicht als Mensch, er erkannte ihre Seele und da wusste er, dass sie die Richtige war. Sein Opfer würde gerächt werden.
„Luna!“
Beim Klang ihres wahren Namens zitterte sie, gab aber trotz des fremden Mannes in ihrem Zimmer keinen Laut von sich.
Noch während Toni einen Schritt zurück trat verblasste der Schimmer in ihren Augen wieder und zurück blieb der Blick eines erschrockenen Kindes.
Endlich konnte er seinem inneren Drang nachgeben und der Vision folgen. Er desmaterialisierte sich und war verschwunden bevor das Mädchen zu schreien begann.

Einige Zeit später, nachdem die Mutter das Kind getröstet und davon überzeugt hatte, dass niemand außer ihnen im Zimmer war, schlief das Mädchen wieder ein, und dieses Mal träumte sie.

Das Mädchen sah das Meer, schillernd im Mondlicht. Voll und klar stand der Trabant am Himmel und spiegelte sich auf den wogenden Wellen im Spiel zwischen Ebbe und Flut. Kein Laut war zu hören, obwohl die Wellen immer wieder, in einem Rhythmus, den nur sie kannten, an den Strand schlugen. Möwen oder andere Vögel zogen ihre Kreise über dem Meer, doch auch sie waren stumm.
Die Elemente umspülten eine Gestalt, umhüllten sie, küssten sie, während sie den Strand entlang ging. Im Sand waren keine Spuren zu sehen.
Die Gestalt wirkte sonderbar unförmig im diffusen Licht des Mondes und der Sterne. Das Mädchen konnte die Augen nicht mehr von der sonderbaren Person am Wasser abwenden, sie trat näher und erkannte.
Es war eine Frau mit langen dunklen Haaren, die vom Wind getrieben, ihren schmalen Körper umschmeichelten. Sie war barfuss und trug ein langes weißes Kleid, das, am Saum vom Meerwasser getränkt, ihre Fesseln umspielte. In einer Hand trug sie einen Stab, nein, ein Schwert oder war es doch eine schillernde Krone auf ihrem Haupt? Ständig wechselte es, was auch immer es war, die Form. Das Mädchen konnte es nicht anhalten mit ihrem Blick, konnte seine wahre Gestalt nicht erkennen.
Jetzt erst sah sie, warum ihr die Frau am Strand so komisch vorgekommen war. Aus ihrem Rücken, an der Stelle der Schulterblätter, wuchsen ihr ein paar große, prächtige Schwingen, in derselben Farbe wie ihre strahlenden Augen. Sie war ein Engel…
Nein…
Das Wesen, das sie sah, war kein Engel, aber sie war auch nicht einfach ein Mensch mit Flügeln. Etwas anderes war sie.
Das Mädchen dachte nach, der Name musste ihr doch einfallen, ganz weit hinten in ihrem Verstand versteckt, kannte sie ihn.
„Flugler!“
Als ob ihn ihr jemand zugeflüstert hätte, fiel der Name ihr ein und mit dem Namen erkannte sie die Wahrheit.
Die Frau drehte sich um und blickte sie an. Ein weiches, warmes Lächeln lag auf ihren Lippen. Ihre Augen waren kühl, wie das Licht des Mondes.
Die Frau am Strand, das war sie selbst. So würde sie sein! Das Mädchen sah in ihre eigene Zukunft. Sie sah ein Leben, das anders, nicht zu vergleichen war mit dem Leben eines Menschen. Es gab noch etwas anders, eine Alternative zu dem, was sie als Mensch erlebte und noch erleben würde. Sie würde fliegen. Sie würde frei sein!
Als sie das erkannte, entfaltete sie selbst die Flügel und sprang in den Himmel, sie flog zu den Sternen und tat es seit dem in jeder Nacht.
 



 
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