Quälende Erinnerung
Es war der morgen eines friedlichen ruhigen Tages. Die ersten Sonnenstrahlen glitzerten am Horizont und erhellten langsam die harmonische Tallandschaft. Der Himmel begann sich in rosa und orange Tönen zu Färben und ein Windhauch kitzelte einem schlafenden Fellberg in der Nase. Davon geweckt, begann dieser zu erzittern, leise vor Wonne aufzuseufzen und kurz darauf seine Glieder zu entwirren um aufzustehen. Aus dem vorher formlosen Gebilde schälte sich die Struktur eines relativ jungen, doch großen dunkelbraunen Wolfes heraus, der sich genüsslich Streckte und ein paar wohlige Seufzer der Zufriedenheit ausstieß. Er liebte und genoss es, früh morgens von den ersten Sonnenstrahlen auf seiner Nase geweckt zu werden, weshalb er es Vorzug, außerhalb der Höhle einzuschlafen. Ein anderer Grund war, dass es seine größte Leidenschaft war, den Sternen und dem Mond in der Nacht zu zuschauen.
Mit vollster Zufriedenheit blickte er kurz über seine wundervolle und für ihn perfekte Heimat, schloss kurz die Augen um dem sanften Wispern des Windes zu zuhören und schüttelte sich schließlich um sein Fell in die richtige Lage zu bringen.
Neben sich hörte er etwas grummeln und mit Güte und voll Liebe schaute er auf das pelzige Etwas, dass neben ihm geschlafen hatte. Ein schlaftrunkenes Auge blickte ihn an und mit einem tiefen Gähnen erhob sie der blonde Welpe. Endlich in einer aufrechten Position sitzend, schnalzte sie noch ein paar Mal mit der Zunge.
„Gut’n Morg’n.“, brachte sie nur hervor, während ihr die Augen wieder zufielen. Um nicht abermals einzuschlafen, schüttelte sie ihren Kopf schnell hin und her und sprang wie ausgewechselt auf ihre vier Pfoten, dabei heftig und voller Begeisterung mit dem Schwanz wedelnd.
„Guten Morgen, Bruder. Guten Morgen!“, sprang sie nun lauthals krackelend um ihn herum, nur um sich einen Moment später spielend in seine Schwanz zu verbeißen und dort erst einmal hängen zu bleiben. Hyu lief ein paar Schritte auf den Höhleneingang zu und schleifte seine kleine Schwester einfach mit, die sich vergeblich versuchte, dagegen zu wehren. Besiegt, aber nicht entmutigt, ließ sie los und sprang vor Hyus Nase, die Augen vor Euphorie geschlossen und ein Grinsen höchsten Entzückens im Gesicht geschrieben.
„Heut ist der Tag!“, trompetete sie. Ihr Gegenüber versuchte sich ein Lachen zu verkneifen und mit gespielter Ernsthaftigkeit fragte er: „Was ist den heute.“
Verwunderte öffnete sie die Augen, legte den Kopf schräg und die Ohren an. In heftigen Unglauben zog sie die eine Augenbraue hoch. „Bruder, du willst mir doch nicht sagen, dass du es vergessen hast!“ Unruhige tippelte sie auf ihren kleinen Pfoten hin und her, während ihre vorher rotierende Rute schlaff und sorgenvoll nach unten hing. Hyu, innerlich schon den Lachtränen nahe, ließ sich auf das Spiel ein. „Was vergessen?“, spielte er so unschuldig den Unwissenden. Der Welpe, nun komplett verwirrte wartete einige Sekunden. Es war totenstill und man konnte es in ihren Kopf fast arbeiten hören. Als sie sich sicher war, dass sie keine Wendung erwarten durfte, jaulte sie herzzerreißend auf, sprang mit allen Vieren gleichzeitig in die Höhe und quietschte in ihrer schrillsten Stimme: „Dabei hast du es mir noch gestern versprochen. Und heute hast du keine Ahnung mehr. Das find ich voll gemein von dir!“ Erschrocken bereute Hyu seinen Streich zugleich und warf ängstlich einen Blick zum Höhleneingang. Wenn sein Vater jetzt wach geworden war, konnte er sich auf etwas gefasst machen, soviel stand für ihn fest.
Mit gespitzten Ohren und in gespannter Körperhaltung lauschte er, während seine linke Vorderpfote den Welpen zum Schweigen brachte, der nun auch bedacht mit gesenktem Kopf horchte.
Erleichtert stieß Hyu seinen angehaltenen Atem aus und blickte seine kleine Schwester an. „Kleiner Kobold, du. Das hätte böse enden können. Natürlich weiß ich noch, was ich gesagt habe. Du musst dich aber noch etwas gedulden, okay?“ Zufrieden strahlend wedelte sie mit ihrem Schwanz und schmiegte ihren Kopf an seine noch immer ausgestreckte Pfote.
„Ich verspreche auch, ich werde ganz artig sein!“
„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte die zweifelnde, stets sanfte Stimme seiner Mutter abermals. Sie und Hyu waren damit beschäftig, die Welpen beim Balgen und Spielen zu beobachten, während sie entspannt am Höhleneingang langen. Die intensiv grünen Augen seiner Mutter schauten ihn verständnisvoll an. Hyu seufzte kurz und bettete seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten. „Ich hab es ihr versprochen, also halte ich es auch ein.“, erwiderte er ruhig nach einer Weile, während seine Augen an seiner blonden Schwester hängen blieben. Sie als einzige aus dem ganzen Wurf hatte die goldblonde Fellfarbe ihres majestätischen Vaters geerbt.
Sie war nicht die größte und auch nicht die erstgeborene aus dem diesjährigen Wurf, doch machte sie ihren Defizit an Größe durch einen unbändigen Willen wett. Wie in diesem Moment auch, schaffte sie es durch ihre Hartnäckigkeit sogar, den großen Rüden einzuschüchtern und ging aus vielen der Raufereien als strahlende Siegerin hervor. Sie hatte eine unbändige Energie, um einiges mehr als ihre Geschwister. Daher war es nicht verwunderlich, dass diese sich ab und an mal nach Ruhe sehnten, denn an ihren besonders hyperaktiven Tagen hüpfte sie auch noch auf ihre schlafenden Geschwister herum. Das Einzige, was sie zum Schweigen bringen konnte, waren die Träumereien, eine Eigenschaft mit der sie Hyu sehr ähnlich war.
In Gedanken versunken, bemerkte er nicht wie sein Vater aus der Höhle trat. Erst als dessen Schatten auf seine Schnauze fiel, blickte er hoch und bemerkte sofort den strengen Blick aus goldbraunen Augen. Als Alpha strahlte er eine natürliche Autorität und Stärke aus und instinktiv zog Hyu seine Rute ein Stück zwischen seine Hinterbeine und senkte seinen Kopf in Demutshaltung. Sein Vater registrierte die Geste und gab ihm zu verstehen, dass er sich erheben durfte. Hyu sprang sogleich auf, von seiner Mutter nachsichtig begutachtet.
Eine Weile war er der Observation seines Vaters ausgesetzt, ehe dieser schwermütig seufzte. Verängstigt legte Hyu die Ohren an und wedelte behutsam mit der Schwanzspitze.
„Du gehst heute wieder den Himmel anstieren?“ Demütig senkte der jüngere Rüde den Kopf und wich dem unnachgiebigen Blick seines Vaters aus, indem er zur Seite schaute. Seinem Vater reichte dies als Antwort. „Was soll ich nur mit dir machen? Und ich hatte eigentlich gedacht, du würdest mal was Nützliches machen und uns zur Jagd begleiten.“ Er konnte die Enttäuschung aus der Stimme des Rüden heraus hören und merkte sofort wie ein Gefühl der Schuld in ihm aufstieg.
„Morgen Vater. Außerdem hab ich dem Floh versprochen, dass sie mich begleiten darf.“ Es herrschte einige Sekunden Stille. „Tja, ich kann da nichts machen. Du bist in dem Alter, wo die jungen Wölfe völlige Narrenfreiheit haben, um sich selbst zu finden. Ich hoffe doch nur, dass du diese Zeit ab und an mal mit was Ernsthaften verbringst.“ „Gleich morgen Vater werde ich mit euch jagen gehen.“ Seine Mutter war währenddessen aufgestanden und hatte sich neben ihren Gefährten gestellt, ihren Leib eng an seinen geschmiegt, so dass ihr dunkelbraunes Fell im harten Kontrast zu dem hellen Pelz des anderen Wolfes stand. Akzeptierend nickte der Alpha seinem Jungsporn zu, auf dessen Gesicht sich ein glückliches Lächeln bildete. Gerade wollte er sich umdrehen und seine Schwester rufen, als auch schon ein wütender und quengelnder Ruf zu ihnen drang.
„Sie hat es schon wieder getan. Mutter, sie hat mich schon wieder gebissen!“, weinte eine relativ große hellbraune Fähe, während ihre blonde Schwester scheinbar interessiert in eine andere Richtung starrte. Dennoch war auf ihrem Gesicht der Schalk zu erkennen. Resigniert seufzte der blonde Rüde auf. „Wo wir zu meinem zweiten Problem kommen würden.“, sprach er eher zu sich selbst. Diese Bemerkung ließ seine Gefährtin kichern. „Ach komm, du weißt, dass sie viel Potenzial hat.“ „Das hat Hyu auch. Nur einen Sturkopf und eine naive Unbeschwertheit haben sie beide als Sonderpreis dazu bekommen. Diese Zwei sind sich einfach zu ähnlich“ Jammerte er mit kindlichem Trotz. Insgeheim war er stolz auf die Individualität der beiden, denn auch dies zeichnete einen zukünftigen Rudelführer aus. Nur fürchtete er, dass ihre kleinen Eigenheiten ihnen ihre Möglichkeiten verbauen konnten. Aber sein Filius hatte ja schon offen zugegeben, nie Alpha werden zu wollen.
Die braune Wölfin neben ihm rief nun den blonden Irrwisch. „Na dann, kleiner Kobold, komm mal her und lass deine Schwester in Ruhe!“ Sofort sprang die Angesprochene auf und rannte in erschreckender Geschwindigkeit auf die Erwachsenengruppe zu, nur um kurz vor dem Ziel einen Fehler zu machen, über ihre eigenen Pfoten stolperte und mit vollen Schwung zwischen ihren Eltern auf die Nase fiel. Außer Atem, aber mit zufriedener Mimik blickte sie hoch und strahlte ihren Vater, dann ihre Mutter an, während ihr Schwanz vor Elan rotierte. „Hier bin ich, hier bin ich!“, zwitscherte sie, dass es fast in den Ohren wehtat. Ihre Mutter beugte den Kopf nach unten und leckte ihr liebevoll die Schnauze. Wohlig schloss sie die Augen. „Ach mein kleiner Kobold….“, schnurrte ihre Mutter liebevoll, während diese nochmals ihre Tochter liebkoste. Jene war nun leicht verärgert und beleidigt. „Mama….“, quengelte sie. Dann setzte sie sich auf und stierte trotzig und ohne Respekt in das Angesicht ihres Vaters, bevor sie geradezu unverschämt forderte: „Ich will einen Namen!“
Der Vater reagierte nicht, sondern beobachtete lieber seine weitere Brut. Wütend sprang der Welpe nun auf alle vier Pfoten und sah nun seine Mutter an. „Ich will einen Namen, einen richtigen Namen, nicht so ein blöder Mist! Mutter, hörst du mich? Ich. will. einen. Namen!“, sagte sie drängend. Nachsichtig beschwichtigte ihre Mutter sie. „Du kriegst einen Namen, wenn du soweit bist, wie deine Geschwister und wie unzählige Generationen vor dir!“
„Und nun Schluss mit dem Unsinn. Ich dachte du und dein großer Bruder, ihr habt noch was vor?“, beendete der Alpha autoritär das Thema.
Das heiterte den Welpen wieder auf und ließ sie alle Gedanken an einen Namen vergessen. „Au ja, Hyu! Gehen wir?“ Erwartungsvoll setzte sie sich vor ihn du schaute ihn mit strahlenden, unternehmungslustigen Augen an. Hyu straffte sich, lächelte sie liebevoll an und stellte sich dazu an, los zu gehen.
„Hyu?“, stoppte ihn die leise Stimme seiner Mutter. Er wendete sich ihr zu und war verwundert bei dem flehenden Ausdruck in ihren Augen. „Du wirst auch gut auf sie aufpassen?“ Was fragte sie sowas. Sie musste doch wissen, das Hyu alles tun würde, um seine kleine Schwester zu beschützen. „Mutter, du weißt, dass ich mein Leben für sie geben würde.“ „Du lässt sie nicht aus den Augen?“ „Niemals, ich werde ihrer gewahr sein, wie ich meine eigene Schwanzspitze kenne!“, versprach er ihr ehrlich und beruhigt legte sich seine Mutter zu Boden. „Danke, aber vergiss bitte nicht, was du mir eben geschworen hast!“ Hyu nickte zum Zeichen des Verständnisses und folgte seiner schon vor Ungeduld nervender Schwester. Er warf noch einen Blick zurück zu seiner Familie, bevor er seine komplette Aufmerksamkeit der Ferne schenkte.
„Das war so toll, Bruder!“, meinte die kleine Fähe zufrieden, als sie neben ihren Bruder auf und ab sprang. Hyu musste dabei ständig aufpassen, dass er nicht versehentlich auf sie trat und lächelte zufrieden vor sich hin, mit Bedacht eine Pfote vor die Andere setzend. Er beobachtete den glücklichen Welpen, der grade vergeblich versucht hatte, einen Grashüpfer zu fangen und nun verwundert auf seine beiden leeren Vorderpfoten starrte.
So kamen sie der Höhle und dem Kernrevier ihres Rudels immer näher, fast trunken von den Fantastereien ausgiebiger Stunden, sorglos und naiv, die Gedanken noch in sich gekehrt ohne die Sinne auf die Realität zu werfen. In diesem Rausch war Hyu sehr angreifbar, was ihm spaßhafte Attacken seiner Freunde aus dem Rudel bewiesen hatten, dennoch war er machtlos gegen diesen Trancezustand.
Doch dieses ein Mal sollte er ganz plötzlich und mit voller Härte der Träumereien entrissen werden. Hyu war ein Wolf, der sich auf seine Intuition verlassen konnte. Gerade war seine junge Begleiterin wieder direkt vor seinen Füßen gelandet und auf die Nase gefallen, als der vorher nur laue Windzug zu einer kräftigen Böe anwuchs und ihn mit voller Wucht traf, so seinen Geist auf das Jetzt fixierte als jener ihn fast von den Beinen riss. Der Rüde war verwirrt und stellte aufmerksam seine Ohren auf, während er mit geschlossenen Augen seine Schnauze in den Wind hielt, der aus Richtung der Höhle kam.
Hyu wollte seiner Nase kaum glauben, denn er meinte in dem sonst nur von Gras und Laub erfüllten Geruch des Windes eine Duftnote wahrzunehmen, die seinen Fell zu Berge stehen ließ, so dass ihm gleichzeitig das Blut in den Adern gefrieren wollte und sein Herz vor Schlagen fast Bersten mochte. Eine nie gekannte Panik überfiel ihn, setzte sich in all seinen Gliedern fest und verursacht eine Bewegungslosigkeit seines Körpers, der anfing unkontrollierbar zu zittern. Hyu hatte die Herrschaft über seinen Körper verloren. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie auch die kleine Fähe verwundert in Richtung Heimat blickte und sich aufsetzte, dabei bedacht die Nase in den Wind steckend und angeregt witternd.
Beunruhigt legte sie die Ohren an und stierte mit weit geöffneten Augen den vor Angst gelähmten Hyu an.
Als dieser dem Anblick gewahr wurde, fand er seine eigene Willensstärke wieder und kämpfte gegen den Drang an, einfach wegzurennen. Für das Heil des Welpen und des Rudels, musste er herausfinden, was passiert war, koste es, was wolle. Er senkte seine Schnauze herab und grub sie sanft in den Nackenpelz seiner Schwester, um tief ihren Duft zu inhalieren und den fürchterlichen anderen Geruch aus seiner Nase zu vertreiben.
Dieses für ihn untypische Verhalten, verängstigte die Fähe nun noch viel mehr und sie sprang verwundert auf die Beine, als der ältere Rüde mit der Zunge liebkosend über ihren Kopf fuhr.
„Bleib hier Windhauch. Ich werde mal sehen, was los ist!“, sagte er, denn zweifellos musste etwas vorgefallen sein. Der Welpe fing nun an, leicht zu zittern, aber starrte ihm selbstbewusst und stur ins Gesicht. „Ich will mit kommen!“ Hyu seufzte und visierte mit strengem Blick sein Gegenüber an : „Nein, ich weis nicht, was los ist!“ „Ich will trotzdem mit!“ „Es ist gefährlich, du bleibst hier und versteckst dich!“, erwiderte er abermals mit Nachdruck und drehte sich um, bereit los zulaufen.
Er stockte mitten im Schritt, als er merkte, wie ihm etwas folgte. Mit angelegten Ohren und nachsichtigen Gesichtsausdruck lauschte er den leichten Schritten, ehe er sich wie verwandelt umdrehte und den jungen Welpen mit einer völlig anderen, autoritären Persönlichkeit konfrontierte. Die blonde Wölfin hatte nämlich nicht auf ihrem Bruder gehört und war ihm leise nachgegangen, nur um jetzt mit einem furchterregendem Anblick konfrontiert zu werden.
Denn nun kam ein ihr völlig fremder Bruder auf sie zu, die Ohren angelegt, der Pelz gesträubt, der Schwanz steil erhoben, die Lefzen nach oben gezogen, so dass das scharfe und tödliche Gebiss zu sehen war. So drohend sprang er auf sie zu und packte knurrend die aus Schutz zusammengekauerte Fähe ins Genick. Zwischen dem einzelnen Geknurr stieß er mit Nachdruck ein paar Worte hervor. „Du. bleibst. hier!“
Dann ließ er sie los und beachtete gar nicht ihren vor Angst schlotternden Körper. Demütig starrte der Welpe zu Boden. „Und ich will nicht sehen, dass du dich von der Stelle gerührt hast, ist das klar?“
Hyu wartete die Antwort nicht mehr ab, sondern drehte sich um und lief los.
Je näher er seinem Bau kam, desto intensiver wurde der Geruch und desto tiefer und packender wurde seine Angst. Jeder einzelne Schritt kostete Überwindung, als er sich Meter für Meter dem verfluchten Terrain näherte.
Er hatte noch nie so eine Menge von Blut gerochen. Er wusste, dass es Blut von verschiedenen Kreaturen war, manches noch warm und dampfend, anderes schon fahl und trocken. Und er wusste, dass es nur zu ganz bestimmten Wesen gehören konnte: Seinem Rudel. Als er in Zeitlupentempo die Anhöhe zu seiner Höhle erklomm, macht er sich innerlich bereit, mit dem schlimmsten konfrontiert zu werden.
Doch auf diesen Anblick hätte ihn nichts und niemand vorbereiten können.
Als er auf sein zu Hause blickte, wurde der Gestank und der Ekeln in ihm so groß, das Hyu sich zitternd übergeben musste, bis sein Magen völlig leer war und er nur noch Gallensanft hochwürgen konnte.
Schlotternd versuchte er, auf seinen Beinen Halt zu finden, doch jeder Versuch aufzustehen, ging schief und so blieb er da liegen, unfähig seinen Blick von den fleischlichen Überresten seines Rudels abzuwenden, denn sie waren nicht mehr als die Wesen zu erkennen, als welche sie gelebt hatten.
Vor Hyus Augen hatte das makaberste Massaker statt gefunden, das er je in seinem Leben sehen sollte. Alle aus seinem Rudel waren tot. Sie mussten von diesem kaltblütigen Mörder, diesem gefühllosen Monster blindlings und aus dem Hinterhalt erwischt worden sein.
Hyu konnte die Überreste seines stolzen Vaters erkennen. Sein Kopf war von seinem Körper abgetrennt worden, seine Augen blickten starr und schreckensgeweitet aus ihren Höhlen. Der große Körper seines Vaters bestand nur noch aus dem puren, aufgerissenen und blutenden Fleisch, denn die Bestie hatte sich seines goldfarbenen Pelzes mit reiner Gewalt bemächtigt.
Seine Mutter hatte schützend ihr Leben für ihre Welpen gegeben. Ihr Bauch war aufgeschnitten worden und ihre Gedärme quollen daraus hervor, Teile davon lagen auf der Wiese verteilt. Die Zunge seiner Mutter hing ihr halb abgebissen aus dem Maul. Sie musste elendige Schmerzen gehabt haben, als die Schlächter sie elendig lebend verbluten liessen.
Ihre Welpen, denen ihre letzten Gedanken gegolten haben mussten, waren tot. Einer war erstochen worden, der Kopf nach hinten geklappt, der lange und tiefe Schnitt an der Kehle erkennbar. Dem Anderen hatte ein kräftiger Tritt den Schädel zertrümmert, so dass von dem Kopf nichts mehr übrig war, als eine formlose Masse. Der Dritte lag ungelenk zu Boden, ein Knochen des gebrochenen Rückgrats aus dem Pelz ragend, in den Augen war das Weiße zu sehen, die Augen vor dem Tod in Angst verdreht.
Der vierte Welpe, der mit dem goldbraunen Pelz, war spurlos verschwunden, und egal wie Hyu sich auch anstrengte, so konnte er den Geruch des Rüden nicht mehr ausmachen.
Auch all die anderen Wölfe des kleinen Rudels waren morbide dahin geschlachtet worden, einigen war bei lebendigen Leib der Pelz vom Körper gerissen worden, andere hatten gebrochen und bewegungsunfähig den Todesschreien zu hören müssen, nur um selbst qualvoll an unzähligen Wunden langsam zu verbluten. Der letzte Überlebende konnte noch nicht solange tot sein.
Einheitlich stellte Hyu mit Schaudern fest, dass diese Monster, diese Bestien, diese Dämonen auf zwei Beinen, alle gehäutet hatten, deren Fellfarbe in einem Goldton geglänzt hatte.
Die restlichen Anderen waren zum Vergnügen niedergemetzelt worden.
Nun wusste Hyu, was es hieß, wenn man von dem Teufel Mensch sprach. Er hätte sich nie denken können, dass er ihre Grausamkeit am eigenen Leib erfahren würde.
Immer noch zitternd stand er auf, endlich realisierend, was passiert war, dass sein Rudel, seine Eltern, Geschwister und Freunde für immer von ihm gegangen waren. Umsichtig bewegte er sich durch die Reihen der toten Wölfe und senkte zum Abschied die Schnauze bei jedem toten, gebrochenen und blutenden Körper. Der Boden der Lichtung war tiefrot und nass von den Unmengen an Blut, die an diesem Tag geflossen waren. Eine stumme Träne nach der Anderen lief Hyus Gesicht herunter und sie fielen auf jeden Körper, den Hyu zärtlich zum Abschied liebkoste. Seines Vaters Kopf nahm er sanft zwischen die Zähne und trug ihn zum dazugehörigen Körper, seine Mutter zog er vorsichtig über dem Boden zu seinem Vater, damit das Alphapaar auch im Tod noch zusammen sein konnte. Symbolisch legte Hyu der Mutterwölfin ihre drei viel zu jung und unschuldig gestorbenen Welpen an den aufgerissenen Bauch.
Bei diesem scheinbar harmonischen Anblick der Überreste seiner Familie, brach Hyu in Tränen über ihren Körpern zusammen und schluchzte verzweifelt in den langsam erkaltenden Körper seiner Mutter hinein.
Innerhalb eines Nachmittags war ihm alles genommen worden, sein Boden einfach unter seinen Füßen entrissen, sein Lebensinhalt zerstört, sein Paradies geschändet und seine Jugend für immer beendet worden.
So lag er da, stundenlang, wartete darauf, dass der Tod ihn ebenso wie seine Eltern holen würde, damit sie in der Anderswo Welt zusammen bleiben konnten und seine sinnlose Existenz auf Erden für immer beendet war. Langsam gingen die Sterne schon am Himmelszelt auf, als der Wind seine Richtung änderte und den Ruf einer kleinen, einsamen Fähe zu ihm trug, die aus tiefster Verzweiflung mit immer heiserer Stimme nach ihren Bruder rief.
Hyu spitzte die Ohren und hob verwundert den Kopf, als abermals Tränen in seinen grünbraunen Augen glänzten.
Wie hatte er sie nur vergessen können. Er war nicht allein, und sein Leben war auch nicht zwecklos. Mühsam rappelte er sich auf, schüttelte seine Glieder und blickt ein letztes Mal liebevoll auf sein Rudel, um sich dann derjenigen zu zuwenden, um welche sich sein nächstes Leben drehen würde. Er hatte seiner Mutter versprochen, sie nie allein zu lassen und dieses Versprechen würde er auch halten, koste was wolle.
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Unruhig schreckte Hyu aus seinem Schlaf hoch. Als seine Pfote über sein Gesicht fuhr, konnte er die Tränen fühlen, die seinen Pelz genässt hatten. Schwermütig stand er auf und blickte zu Sternen. Warum hatte er von diesem Tag träumen müssen, der ihr ganzes Leben verändert hatte und sie zur Flucht trieb.
Liebevoll blickte er hinab auf seine tief und fest schlafende Schwester, leckte ihr kurz über den Kopf und machte sich dann auf, einen Fluss zu suchen, um etwas Flüssiges zu sich zu nehmen.
Leise verließ er ihr vorübergehendes Schlaflager und verschwand in der düsteren Nacht
Es war der morgen eines friedlichen ruhigen Tages. Die ersten Sonnenstrahlen glitzerten am Horizont und erhellten langsam die harmonische Tallandschaft. Der Himmel begann sich in rosa und orange Tönen zu Färben und ein Windhauch kitzelte einem schlafenden Fellberg in der Nase. Davon geweckt, begann dieser zu erzittern, leise vor Wonne aufzuseufzen und kurz darauf seine Glieder zu entwirren um aufzustehen. Aus dem vorher formlosen Gebilde schälte sich die Struktur eines relativ jungen, doch großen dunkelbraunen Wolfes heraus, der sich genüsslich Streckte und ein paar wohlige Seufzer der Zufriedenheit ausstieß. Er liebte und genoss es, früh morgens von den ersten Sonnenstrahlen auf seiner Nase geweckt zu werden, weshalb er es Vorzug, außerhalb der Höhle einzuschlafen. Ein anderer Grund war, dass es seine größte Leidenschaft war, den Sternen und dem Mond in der Nacht zu zuschauen.
Mit vollster Zufriedenheit blickte er kurz über seine wundervolle und für ihn perfekte Heimat, schloss kurz die Augen um dem sanften Wispern des Windes zu zuhören und schüttelte sich schließlich um sein Fell in die richtige Lage zu bringen.
Neben sich hörte er etwas grummeln und mit Güte und voll Liebe schaute er auf das pelzige Etwas, dass neben ihm geschlafen hatte. Ein schlaftrunkenes Auge blickte ihn an und mit einem tiefen Gähnen erhob sie der blonde Welpe. Endlich in einer aufrechten Position sitzend, schnalzte sie noch ein paar Mal mit der Zunge.
„Gut’n Morg’n.“, brachte sie nur hervor, während ihr die Augen wieder zufielen. Um nicht abermals einzuschlafen, schüttelte sie ihren Kopf schnell hin und her und sprang wie ausgewechselt auf ihre vier Pfoten, dabei heftig und voller Begeisterung mit dem Schwanz wedelnd.
„Guten Morgen, Bruder. Guten Morgen!“, sprang sie nun lauthals krackelend um ihn herum, nur um sich einen Moment später spielend in seine Schwanz zu verbeißen und dort erst einmal hängen zu bleiben. Hyu lief ein paar Schritte auf den Höhleneingang zu und schleifte seine kleine Schwester einfach mit, die sich vergeblich versuchte, dagegen zu wehren. Besiegt, aber nicht entmutigt, ließ sie los und sprang vor Hyus Nase, die Augen vor Euphorie geschlossen und ein Grinsen höchsten Entzückens im Gesicht geschrieben.
„Heut ist der Tag!“, trompetete sie. Ihr Gegenüber versuchte sich ein Lachen zu verkneifen und mit gespielter Ernsthaftigkeit fragte er: „Was ist den heute.“
Verwunderte öffnete sie die Augen, legte den Kopf schräg und die Ohren an. In heftigen Unglauben zog sie die eine Augenbraue hoch. „Bruder, du willst mir doch nicht sagen, dass du es vergessen hast!“ Unruhige tippelte sie auf ihren kleinen Pfoten hin und her, während ihre vorher rotierende Rute schlaff und sorgenvoll nach unten hing. Hyu, innerlich schon den Lachtränen nahe, ließ sich auf das Spiel ein. „Was vergessen?“, spielte er so unschuldig den Unwissenden. Der Welpe, nun komplett verwirrte wartete einige Sekunden. Es war totenstill und man konnte es in ihren Kopf fast arbeiten hören. Als sie sich sicher war, dass sie keine Wendung erwarten durfte, jaulte sie herzzerreißend auf, sprang mit allen Vieren gleichzeitig in die Höhe und quietschte in ihrer schrillsten Stimme: „Dabei hast du es mir noch gestern versprochen. Und heute hast du keine Ahnung mehr. Das find ich voll gemein von dir!“ Erschrocken bereute Hyu seinen Streich zugleich und warf ängstlich einen Blick zum Höhleneingang. Wenn sein Vater jetzt wach geworden war, konnte er sich auf etwas gefasst machen, soviel stand für ihn fest.
Mit gespitzten Ohren und in gespannter Körperhaltung lauschte er, während seine linke Vorderpfote den Welpen zum Schweigen brachte, der nun auch bedacht mit gesenktem Kopf horchte.
Erleichtert stieß Hyu seinen angehaltenen Atem aus und blickte seine kleine Schwester an. „Kleiner Kobold, du. Das hätte böse enden können. Natürlich weiß ich noch, was ich gesagt habe. Du musst dich aber noch etwas gedulden, okay?“ Zufrieden strahlend wedelte sie mit ihrem Schwanz und schmiegte ihren Kopf an seine noch immer ausgestreckte Pfote.
„Ich verspreche auch, ich werde ganz artig sein!“
„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte die zweifelnde, stets sanfte Stimme seiner Mutter abermals. Sie und Hyu waren damit beschäftig, die Welpen beim Balgen und Spielen zu beobachten, während sie entspannt am Höhleneingang langen. Die intensiv grünen Augen seiner Mutter schauten ihn verständnisvoll an. Hyu seufzte kurz und bettete seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten. „Ich hab es ihr versprochen, also halte ich es auch ein.“, erwiderte er ruhig nach einer Weile, während seine Augen an seiner blonden Schwester hängen blieben. Sie als einzige aus dem ganzen Wurf hatte die goldblonde Fellfarbe ihres majestätischen Vaters geerbt.
Sie war nicht die größte und auch nicht die erstgeborene aus dem diesjährigen Wurf, doch machte sie ihren Defizit an Größe durch einen unbändigen Willen wett. Wie in diesem Moment auch, schaffte sie es durch ihre Hartnäckigkeit sogar, den großen Rüden einzuschüchtern und ging aus vielen der Raufereien als strahlende Siegerin hervor. Sie hatte eine unbändige Energie, um einiges mehr als ihre Geschwister. Daher war es nicht verwunderlich, dass diese sich ab und an mal nach Ruhe sehnten, denn an ihren besonders hyperaktiven Tagen hüpfte sie auch noch auf ihre schlafenden Geschwister herum. Das Einzige, was sie zum Schweigen bringen konnte, waren die Träumereien, eine Eigenschaft mit der sie Hyu sehr ähnlich war.
In Gedanken versunken, bemerkte er nicht wie sein Vater aus der Höhle trat. Erst als dessen Schatten auf seine Schnauze fiel, blickte er hoch und bemerkte sofort den strengen Blick aus goldbraunen Augen. Als Alpha strahlte er eine natürliche Autorität und Stärke aus und instinktiv zog Hyu seine Rute ein Stück zwischen seine Hinterbeine und senkte seinen Kopf in Demutshaltung. Sein Vater registrierte die Geste und gab ihm zu verstehen, dass er sich erheben durfte. Hyu sprang sogleich auf, von seiner Mutter nachsichtig begutachtet.
Eine Weile war er der Observation seines Vaters ausgesetzt, ehe dieser schwermütig seufzte. Verängstigt legte Hyu die Ohren an und wedelte behutsam mit der Schwanzspitze.
„Du gehst heute wieder den Himmel anstieren?“ Demütig senkte der jüngere Rüde den Kopf und wich dem unnachgiebigen Blick seines Vaters aus, indem er zur Seite schaute. Seinem Vater reichte dies als Antwort. „Was soll ich nur mit dir machen? Und ich hatte eigentlich gedacht, du würdest mal was Nützliches machen und uns zur Jagd begleiten.“ Er konnte die Enttäuschung aus der Stimme des Rüden heraus hören und merkte sofort wie ein Gefühl der Schuld in ihm aufstieg.
„Morgen Vater. Außerdem hab ich dem Floh versprochen, dass sie mich begleiten darf.“ Es herrschte einige Sekunden Stille. „Tja, ich kann da nichts machen. Du bist in dem Alter, wo die jungen Wölfe völlige Narrenfreiheit haben, um sich selbst zu finden. Ich hoffe doch nur, dass du diese Zeit ab und an mal mit was Ernsthaften verbringst.“ „Gleich morgen Vater werde ich mit euch jagen gehen.“ Seine Mutter war währenddessen aufgestanden und hatte sich neben ihren Gefährten gestellt, ihren Leib eng an seinen geschmiegt, so dass ihr dunkelbraunes Fell im harten Kontrast zu dem hellen Pelz des anderen Wolfes stand. Akzeptierend nickte der Alpha seinem Jungsporn zu, auf dessen Gesicht sich ein glückliches Lächeln bildete. Gerade wollte er sich umdrehen und seine Schwester rufen, als auch schon ein wütender und quengelnder Ruf zu ihnen drang.
„Sie hat es schon wieder getan. Mutter, sie hat mich schon wieder gebissen!“, weinte eine relativ große hellbraune Fähe, während ihre blonde Schwester scheinbar interessiert in eine andere Richtung starrte. Dennoch war auf ihrem Gesicht der Schalk zu erkennen. Resigniert seufzte der blonde Rüde auf. „Wo wir zu meinem zweiten Problem kommen würden.“, sprach er eher zu sich selbst. Diese Bemerkung ließ seine Gefährtin kichern. „Ach komm, du weißt, dass sie viel Potenzial hat.“ „Das hat Hyu auch. Nur einen Sturkopf und eine naive Unbeschwertheit haben sie beide als Sonderpreis dazu bekommen. Diese Zwei sind sich einfach zu ähnlich“ Jammerte er mit kindlichem Trotz. Insgeheim war er stolz auf die Individualität der beiden, denn auch dies zeichnete einen zukünftigen Rudelführer aus. Nur fürchtete er, dass ihre kleinen Eigenheiten ihnen ihre Möglichkeiten verbauen konnten. Aber sein Filius hatte ja schon offen zugegeben, nie Alpha werden zu wollen.
Die braune Wölfin neben ihm rief nun den blonden Irrwisch. „Na dann, kleiner Kobold, komm mal her und lass deine Schwester in Ruhe!“ Sofort sprang die Angesprochene auf und rannte in erschreckender Geschwindigkeit auf die Erwachsenengruppe zu, nur um kurz vor dem Ziel einen Fehler zu machen, über ihre eigenen Pfoten stolperte und mit vollen Schwung zwischen ihren Eltern auf die Nase fiel. Außer Atem, aber mit zufriedener Mimik blickte sie hoch und strahlte ihren Vater, dann ihre Mutter an, während ihr Schwanz vor Elan rotierte. „Hier bin ich, hier bin ich!“, zwitscherte sie, dass es fast in den Ohren wehtat. Ihre Mutter beugte den Kopf nach unten und leckte ihr liebevoll die Schnauze. Wohlig schloss sie die Augen. „Ach mein kleiner Kobold….“, schnurrte ihre Mutter liebevoll, während diese nochmals ihre Tochter liebkoste. Jene war nun leicht verärgert und beleidigt. „Mama….“, quengelte sie. Dann setzte sie sich auf und stierte trotzig und ohne Respekt in das Angesicht ihres Vaters, bevor sie geradezu unverschämt forderte: „Ich will einen Namen!“
Der Vater reagierte nicht, sondern beobachtete lieber seine weitere Brut. Wütend sprang der Welpe nun auf alle vier Pfoten und sah nun seine Mutter an. „Ich will einen Namen, einen richtigen Namen, nicht so ein blöder Mist! Mutter, hörst du mich? Ich. will. einen. Namen!“, sagte sie drängend. Nachsichtig beschwichtigte ihre Mutter sie. „Du kriegst einen Namen, wenn du soweit bist, wie deine Geschwister und wie unzählige Generationen vor dir!“
„Und nun Schluss mit dem Unsinn. Ich dachte du und dein großer Bruder, ihr habt noch was vor?“, beendete der Alpha autoritär das Thema.
Das heiterte den Welpen wieder auf und ließ sie alle Gedanken an einen Namen vergessen. „Au ja, Hyu! Gehen wir?“ Erwartungsvoll setzte sie sich vor ihn du schaute ihn mit strahlenden, unternehmungslustigen Augen an. Hyu straffte sich, lächelte sie liebevoll an und stellte sich dazu an, los zu gehen.
„Hyu?“, stoppte ihn die leise Stimme seiner Mutter. Er wendete sich ihr zu und war verwundert bei dem flehenden Ausdruck in ihren Augen. „Du wirst auch gut auf sie aufpassen?“ Was fragte sie sowas. Sie musste doch wissen, das Hyu alles tun würde, um seine kleine Schwester zu beschützen. „Mutter, du weißt, dass ich mein Leben für sie geben würde.“ „Du lässt sie nicht aus den Augen?“ „Niemals, ich werde ihrer gewahr sein, wie ich meine eigene Schwanzspitze kenne!“, versprach er ihr ehrlich und beruhigt legte sich seine Mutter zu Boden. „Danke, aber vergiss bitte nicht, was du mir eben geschworen hast!“ Hyu nickte zum Zeichen des Verständnisses und folgte seiner schon vor Ungeduld nervender Schwester. Er warf noch einen Blick zurück zu seiner Familie, bevor er seine komplette Aufmerksamkeit der Ferne schenkte.
„Das war so toll, Bruder!“, meinte die kleine Fähe zufrieden, als sie neben ihren Bruder auf und ab sprang. Hyu musste dabei ständig aufpassen, dass er nicht versehentlich auf sie trat und lächelte zufrieden vor sich hin, mit Bedacht eine Pfote vor die Andere setzend. Er beobachtete den glücklichen Welpen, der grade vergeblich versucht hatte, einen Grashüpfer zu fangen und nun verwundert auf seine beiden leeren Vorderpfoten starrte.
So kamen sie der Höhle und dem Kernrevier ihres Rudels immer näher, fast trunken von den Fantastereien ausgiebiger Stunden, sorglos und naiv, die Gedanken noch in sich gekehrt ohne die Sinne auf die Realität zu werfen. In diesem Rausch war Hyu sehr angreifbar, was ihm spaßhafte Attacken seiner Freunde aus dem Rudel bewiesen hatten, dennoch war er machtlos gegen diesen Trancezustand.
Doch dieses ein Mal sollte er ganz plötzlich und mit voller Härte der Träumereien entrissen werden. Hyu war ein Wolf, der sich auf seine Intuition verlassen konnte. Gerade war seine junge Begleiterin wieder direkt vor seinen Füßen gelandet und auf die Nase gefallen, als der vorher nur laue Windzug zu einer kräftigen Böe anwuchs und ihn mit voller Wucht traf, so seinen Geist auf das Jetzt fixierte als jener ihn fast von den Beinen riss. Der Rüde war verwirrt und stellte aufmerksam seine Ohren auf, während er mit geschlossenen Augen seine Schnauze in den Wind hielt, der aus Richtung der Höhle kam.
Hyu wollte seiner Nase kaum glauben, denn er meinte in dem sonst nur von Gras und Laub erfüllten Geruch des Windes eine Duftnote wahrzunehmen, die seinen Fell zu Berge stehen ließ, so dass ihm gleichzeitig das Blut in den Adern gefrieren wollte und sein Herz vor Schlagen fast Bersten mochte. Eine nie gekannte Panik überfiel ihn, setzte sich in all seinen Gliedern fest und verursacht eine Bewegungslosigkeit seines Körpers, der anfing unkontrollierbar zu zittern. Hyu hatte die Herrschaft über seinen Körper verloren. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie auch die kleine Fähe verwundert in Richtung Heimat blickte und sich aufsetzte, dabei bedacht die Nase in den Wind steckend und angeregt witternd.
Beunruhigt legte sie die Ohren an und stierte mit weit geöffneten Augen den vor Angst gelähmten Hyu an.
Als dieser dem Anblick gewahr wurde, fand er seine eigene Willensstärke wieder und kämpfte gegen den Drang an, einfach wegzurennen. Für das Heil des Welpen und des Rudels, musste er herausfinden, was passiert war, koste es, was wolle. Er senkte seine Schnauze herab und grub sie sanft in den Nackenpelz seiner Schwester, um tief ihren Duft zu inhalieren und den fürchterlichen anderen Geruch aus seiner Nase zu vertreiben.
Dieses für ihn untypische Verhalten, verängstigte die Fähe nun noch viel mehr und sie sprang verwundert auf die Beine, als der ältere Rüde mit der Zunge liebkosend über ihren Kopf fuhr.
„Bleib hier Windhauch. Ich werde mal sehen, was los ist!“, sagte er, denn zweifellos musste etwas vorgefallen sein. Der Welpe fing nun an, leicht zu zittern, aber starrte ihm selbstbewusst und stur ins Gesicht. „Ich will mit kommen!“ Hyu seufzte und visierte mit strengem Blick sein Gegenüber an : „Nein, ich weis nicht, was los ist!“ „Ich will trotzdem mit!“ „Es ist gefährlich, du bleibst hier und versteckst dich!“, erwiderte er abermals mit Nachdruck und drehte sich um, bereit los zulaufen.
Er stockte mitten im Schritt, als er merkte, wie ihm etwas folgte. Mit angelegten Ohren und nachsichtigen Gesichtsausdruck lauschte er den leichten Schritten, ehe er sich wie verwandelt umdrehte und den jungen Welpen mit einer völlig anderen, autoritären Persönlichkeit konfrontierte. Die blonde Wölfin hatte nämlich nicht auf ihrem Bruder gehört und war ihm leise nachgegangen, nur um jetzt mit einem furchterregendem Anblick konfrontiert zu werden.
Denn nun kam ein ihr völlig fremder Bruder auf sie zu, die Ohren angelegt, der Pelz gesträubt, der Schwanz steil erhoben, die Lefzen nach oben gezogen, so dass das scharfe und tödliche Gebiss zu sehen war. So drohend sprang er auf sie zu und packte knurrend die aus Schutz zusammengekauerte Fähe ins Genick. Zwischen dem einzelnen Geknurr stieß er mit Nachdruck ein paar Worte hervor. „Du. bleibst. hier!“
Dann ließ er sie los und beachtete gar nicht ihren vor Angst schlotternden Körper. Demütig starrte der Welpe zu Boden. „Und ich will nicht sehen, dass du dich von der Stelle gerührt hast, ist das klar?“
Hyu wartete die Antwort nicht mehr ab, sondern drehte sich um und lief los.
Je näher er seinem Bau kam, desto intensiver wurde der Geruch und desto tiefer und packender wurde seine Angst. Jeder einzelne Schritt kostete Überwindung, als er sich Meter für Meter dem verfluchten Terrain näherte.
Er hatte noch nie so eine Menge von Blut gerochen. Er wusste, dass es Blut von verschiedenen Kreaturen war, manches noch warm und dampfend, anderes schon fahl und trocken. Und er wusste, dass es nur zu ganz bestimmten Wesen gehören konnte: Seinem Rudel. Als er in Zeitlupentempo die Anhöhe zu seiner Höhle erklomm, macht er sich innerlich bereit, mit dem schlimmsten konfrontiert zu werden.
Doch auf diesen Anblick hätte ihn nichts und niemand vorbereiten können.
Als er auf sein zu Hause blickte, wurde der Gestank und der Ekeln in ihm so groß, das Hyu sich zitternd übergeben musste, bis sein Magen völlig leer war und er nur noch Gallensanft hochwürgen konnte.
Schlotternd versuchte er, auf seinen Beinen Halt zu finden, doch jeder Versuch aufzustehen, ging schief und so blieb er da liegen, unfähig seinen Blick von den fleischlichen Überresten seines Rudels abzuwenden, denn sie waren nicht mehr als die Wesen zu erkennen, als welche sie gelebt hatten.
Vor Hyus Augen hatte das makaberste Massaker statt gefunden, das er je in seinem Leben sehen sollte. Alle aus seinem Rudel waren tot. Sie mussten von diesem kaltblütigen Mörder, diesem gefühllosen Monster blindlings und aus dem Hinterhalt erwischt worden sein.
Hyu konnte die Überreste seines stolzen Vaters erkennen. Sein Kopf war von seinem Körper abgetrennt worden, seine Augen blickten starr und schreckensgeweitet aus ihren Höhlen. Der große Körper seines Vaters bestand nur noch aus dem puren, aufgerissenen und blutenden Fleisch, denn die Bestie hatte sich seines goldfarbenen Pelzes mit reiner Gewalt bemächtigt.
Seine Mutter hatte schützend ihr Leben für ihre Welpen gegeben. Ihr Bauch war aufgeschnitten worden und ihre Gedärme quollen daraus hervor, Teile davon lagen auf der Wiese verteilt. Die Zunge seiner Mutter hing ihr halb abgebissen aus dem Maul. Sie musste elendige Schmerzen gehabt haben, als die Schlächter sie elendig lebend verbluten liessen.
Ihre Welpen, denen ihre letzten Gedanken gegolten haben mussten, waren tot. Einer war erstochen worden, der Kopf nach hinten geklappt, der lange und tiefe Schnitt an der Kehle erkennbar. Dem Anderen hatte ein kräftiger Tritt den Schädel zertrümmert, so dass von dem Kopf nichts mehr übrig war, als eine formlose Masse. Der Dritte lag ungelenk zu Boden, ein Knochen des gebrochenen Rückgrats aus dem Pelz ragend, in den Augen war das Weiße zu sehen, die Augen vor dem Tod in Angst verdreht.
Der vierte Welpe, der mit dem goldbraunen Pelz, war spurlos verschwunden, und egal wie Hyu sich auch anstrengte, so konnte er den Geruch des Rüden nicht mehr ausmachen.
Auch all die anderen Wölfe des kleinen Rudels waren morbide dahin geschlachtet worden, einigen war bei lebendigen Leib der Pelz vom Körper gerissen worden, andere hatten gebrochen und bewegungsunfähig den Todesschreien zu hören müssen, nur um selbst qualvoll an unzähligen Wunden langsam zu verbluten. Der letzte Überlebende konnte noch nicht solange tot sein.
Einheitlich stellte Hyu mit Schaudern fest, dass diese Monster, diese Bestien, diese Dämonen auf zwei Beinen, alle gehäutet hatten, deren Fellfarbe in einem Goldton geglänzt hatte.
Die restlichen Anderen waren zum Vergnügen niedergemetzelt worden.
Nun wusste Hyu, was es hieß, wenn man von dem Teufel Mensch sprach. Er hätte sich nie denken können, dass er ihre Grausamkeit am eigenen Leib erfahren würde.
Immer noch zitternd stand er auf, endlich realisierend, was passiert war, dass sein Rudel, seine Eltern, Geschwister und Freunde für immer von ihm gegangen waren. Umsichtig bewegte er sich durch die Reihen der toten Wölfe und senkte zum Abschied die Schnauze bei jedem toten, gebrochenen und blutenden Körper. Der Boden der Lichtung war tiefrot und nass von den Unmengen an Blut, die an diesem Tag geflossen waren. Eine stumme Träne nach der Anderen lief Hyus Gesicht herunter und sie fielen auf jeden Körper, den Hyu zärtlich zum Abschied liebkoste. Seines Vaters Kopf nahm er sanft zwischen die Zähne und trug ihn zum dazugehörigen Körper, seine Mutter zog er vorsichtig über dem Boden zu seinem Vater, damit das Alphapaar auch im Tod noch zusammen sein konnte. Symbolisch legte Hyu der Mutterwölfin ihre drei viel zu jung und unschuldig gestorbenen Welpen an den aufgerissenen Bauch.
Bei diesem scheinbar harmonischen Anblick der Überreste seiner Familie, brach Hyu in Tränen über ihren Körpern zusammen und schluchzte verzweifelt in den langsam erkaltenden Körper seiner Mutter hinein.
Innerhalb eines Nachmittags war ihm alles genommen worden, sein Boden einfach unter seinen Füßen entrissen, sein Lebensinhalt zerstört, sein Paradies geschändet und seine Jugend für immer beendet worden.
So lag er da, stundenlang, wartete darauf, dass der Tod ihn ebenso wie seine Eltern holen würde, damit sie in der Anderswo Welt zusammen bleiben konnten und seine sinnlose Existenz auf Erden für immer beendet war. Langsam gingen die Sterne schon am Himmelszelt auf, als der Wind seine Richtung änderte und den Ruf einer kleinen, einsamen Fähe zu ihm trug, die aus tiefster Verzweiflung mit immer heiserer Stimme nach ihren Bruder rief.
Hyu spitzte die Ohren und hob verwundert den Kopf, als abermals Tränen in seinen grünbraunen Augen glänzten.
Wie hatte er sie nur vergessen können. Er war nicht allein, und sein Leben war auch nicht zwecklos. Mühsam rappelte er sich auf, schüttelte seine Glieder und blickt ein letztes Mal liebevoll auf sein Rudel, um sich dann derjenigen zu zuwenden, um welche sich sein nächstes Leben drehen würde. Er hatte seiner Mutter versprochen, sie nie allein zu lassen und dieses Versprechen würde er auch halten, koste was wolle.
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Unruhig schreckte Hyu aus seinem Schlaf hoch. Als seine Pfote über sein Gesicht fuhr, konnte er die Tränen fühlen, die seinen Pelz genässt hatten. Schwermütig stand er auf und blickte zu Sternen. Warum hatte er von diesem Tag träumen müssen, der ihr ganzes Leben verändert hatte und sie zur Flucht trieb.
Liebevoll blickte er hinab auf seine tief und fest schlafende Schwester, leckte ihr kurz über den Kopf und machte sich dann auf, einen Fluss zu suchen, um etwas Flüssiges zu sich zu nehmen.
Leise verließ er ihr vorübergehendes Schlaflager und verschwand in der düsteren Nacht