Rationale Entscheidung oder die Listen meines Ablebens geschrieben auf einer nassen Couch

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Nika

Mitglied
Eine Pro- und Kontraliste für den Suizid, wie lege ich die an?
Aspekte können Pro und Contra sein, wie gewichte ich die Aspekte?
Gedanken auf meiner nassen Couch, mal wieder ist mir etwas hingefallen, wie so oft.
Extrapyradimales Syndrom ist die Erklärung dafür, für die Stürze, dass mir ständig etwas runter- und umfällt. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Mal wieder sitze ich hier alleine mit meinen Gedanken und sinniere über das Ende. Verlegt von gestern, um eine begründete rationale Entscheidung zu treffen. Ist Suizid rational? Depression reicht nicht aus, um einen begleiteten Suizid in der Schweiz zu bekommen, das habe ich schon lange abgeklärt.
Jetzt bin ich behandlungsresistent. Alles, was jetzt kommt ist der Abgesang über Jahre. Die Perspektive ist das Syndrom so weit einzuschränken, dass die Störung im Gesicht nicht sichtbar wird, damit ich wenigstens noch vor die Tür gehen kann. Obwohl mir gerade wirklich nicht danach ist.
Jetzt scheint auch noch die Sonne und ich denke, dass ich vor die Tür gehen sollte, Sonne tanken. Regen, Eis und Schnee wäre mir lieber, alles Gründe, um mich wieder einen Tag zu verkriechen. Einen leeren Tag, ein bisschen lesen, ein bisschen Haushalt, ein bisschen handarbeiten. Die Übergabe für die Arbeit vorbereiten, ohne zu wissen, ob ich jemals wieder zurückkehre, obwohl ich meine Arbeit gerne mache. Worauf soll ich denn warten auf meiner nassen Couch, unter dem Tisch die Glasscherben vom letzten „Unfall“ vor zwei Tagen. Ich habe jetzt eine Tassenflatrate geschenkt bekommen. Lieb gemeint, löst aber das Problem nicht.
Kein Alkohol, keine Drogen, geblieben war mir bisher das Rauchen, das ich jetzt aufgeben muss. Weiß noch niemand, damit nicht noch mehr Druck auf mich ausgeübt wird. Ist schon schlimm genug, ohne dass mich jemand fragt, wie viele Zigaretten ich heute geraucht habe, ob nicht weniger geht … weniger geht immer:
Weniger abends weggehen
Weniger Stress
Weniger Arbeit
Weniger essen
Weniger Alkohol
Weniger Belastung
Was bleibt, wenn alles weniger ist?
Weniger Leben … oder halt eben gar keins mehr, eigentlich eine gute Idee.

ProKontra


War im Keller Wäsche aufhängen, sie soll ja nicht in der Maschine schimmeln, bis ich gefunden werde. Hatte wieder Schmerzen, weil ich Krämpfe im Fuß habe. Also schön vorsichtig auf der Treppe. Dabei ist mir der Gedanke an die Liste gekommen, die viel wichtiger ist:
Die List der Dinge, die vor dem Suizid noch getan werden müssen:
Erst einmal habe ich das Fenster aufgemacht, sonnig und schweinekalt, zum Glück ein Grund drin zu bleiben, wenn jetzt jemand draußen das Licht ausschalten würde, wäre das klasse. Die Sonne passt nicht zu meinen momentanen Gedanken … oder vielleicht erst recht, die Sonne scheint und die Sonnenseite des Lebens ist vorbei, der Abgesang hat schon lange begonnen. Die Liste fehlt aber noch:
An erster Stelle: meinem Sohn das Geld für die Beerdigung überweisen
Alles andere ist optional
Abschiedsbriefe: was soll ich schreiben? Danke, ihr habt keine Schuld, ich bin einfach nicht für dieses Leben gemacht, nicht mit dieser und den darauffolgenden Krankheiten?
War schön, hat aber nicht gereicht? Das wäre gemein, als wäre die Freundschaft nicht gut genug, nicht emotional oder sonst wie genug gewesen.
Also die praktischen Sachen:
Auf das Ende der Wäsche in der Waschmaschine warten, warum habe ich sie eigentlich noch angestellt? Ach ja, nicht noch mehr Dreck hinterlassen als ich sein werde, wenn ich gefunden werde. Putzt man eigentlich vor dem Suizid die Wohnung? Wie machen das andere Menschen, die planen? Ist ja nicht spontan …
Da sind noch die Glasscherben unter dem Tisch … Scherben zu Scherben wie Asche zu Asche. Die Liste, ich muss noch aufschreiben, wie es nach meinem Ableben weitergehen soll. Ist mir eigentlich egal, bis darauf, dass ich nicht möchte, dass mein Sohn sich verschuldet:
Einäscherung, Friedwald, im kleinen Kreis, danach in aller Stille auseinander gehen.
Haken.
Was mache ich, bis die Waschmaschine fertig ist? Um Energie zu sparen, habe ich auch noch das lange Programm gewählt. Bin ich des Wahnsinns? Wegen der Waschmaschine oder einfach so? Eigentlich sowieso, das ist ja das Problem, das Lebensproblem, um noch ein großes Wort in den Ring zu werfen. Bevor ich weiter Allgemeinplätze aneinanderreihe (schönes Wort, sieht aus wie das, was es heißt, aber das nur am Rande). Die Nachbarn saugen, steht auch noch auf meiner To-do-Liste, einer der vielen Listen, die auch außerhalb meines Ablebens existieren. Ich liebe Listen und noch mehr liebe ich es den Haken an die Sachen zu setzen, also die Listen:
Die To-do-Liste für die Arbeit – kann ich bald löschen
Die Putzi-Putzi Liste für den Haushalt
Die Einkaufsliste, aufgeteilt nach Geschäften: allgemein, Drogerie, Baumarkt, Sonstiges. Geschrieben nach der Abfolge des Einkaufsmarktes, so bin ich schneller durch.
Die Liste mit den Vögeln, die an meinem Futterhaus waren.
Die Liste mit Weihnachts- und sonstigen Geschenken
Die Liste mit kreativen Ideen
Die Liste mit den Ausgaben
Die Liste was ich verliehen habe
Die Liste, was ich packen und erledigen muss, wenn ich in Urlaub fahre. Die kann ich auch löschen nach den Panikattacken bei den beiden letzten Malen.
Dafür kommen die Pro- und Contra-Liste und die Liste der Dinge dazu, die ich vor meinem Suizid noch erledigen muss. Das sind doch würdige Nachfolger.
Wenn ich so lange weiterschreibe, ist das Sofa trocken und ich kann mich in meine Schreibecke verziehen.
Noch zwei Stunden, bis die Waschmaschine fertig ist. Eine Liste, was ich in den zwei Stunden vor meinem Ableben tun möchte:
Eigentlich steht auf meiner Löffelliste noch Drogen nehmen, aber es ist kalt und sonnig und wo bekommt man hier Drogen her? Und kann ich in dem Zustand noch Wäsche aufhängen? Ginge Alkohol, aber wie komme ich dann und überhaupt, ohne zu fallen in den Keller? Muss ich eigentlich noch Wäsche aufhängen? Kann auch mit der Maschine verschrottet werden. Wenn ich keine zwei Stunden mehr warten muss, macht es das Ganze auch einfacher. Also die Listen des Ablebens ausfüllen und Wäsche aufhängen von der Liste, was vorher gemacht werden muss, streichen. Ich könnte mir noch die Haare waschen und mich schick anziehen, das erleichtert es dem Bestatter. Ich will ja niemandem zur Last fallen. Aufräumen, putzen, keinen Dreck hinterlassen, also noch die Putzi-Putzi Liste abarbeiten. Ich könnte meine Freundinnen noch anrufen, natürlich ohne von meinem Vorhaben zu berichten. Will ja nicht noch in die Klapse, bringt nichts und steht eindeutig nicht auf meiner Liste, was ich vor meinem Ableben noch erledigen möchte.
Ich habe mich jetzt in meine Schreibecke gesetzt, muss mich in die Ecke quetschen, um keinen nassen Boppes zu bekommen. Die Scheißsonne scheint immer noch.
 

Ubertas

Mitglied
Hallo @Nika ,
ein sehr starker Text und gewiß keine leichte Kost. Ich finde es sehr gelungen, wie du das Ausmaß dessen beschreibst, was eine schwere Erkrankung mit einem macht.
Schmerzen sind oft unsichtbar und man selbst wird es durch sie auch. Doch das Unsichtbare bekommt hier ein Gesicht. Finde ich mutig und sehr gut!
Lieben Gruß ubertas.
 



 
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