Ratternde Züge vorm Schlafzimmerfenster

Ein Jahrhundertprojekt. So ein Baukonsortium und hohe Politiker. Und das für eine entlegene Region hoch im Norden Deutschlands. 'Feste Fehmarnbelt-Querung', das Zauberwort für eine Infrastrukturmaßnahme, die vor Ort niemand will - es braucht sie dort auch keiner. Und doch sind gigantische Baumaßnahmen angelaufen. Betroffen sind etliche Anliegerorte im Hinterland entlang der bisherigen 'Bäderbahn' nördlich von Lübeck. Eine neue Trasse muss her. Dafür werden Felder und Wiesen aufgebrochen, Kulturlandschaft zerstört. Die neue Bahnlinie führt dann oft extrem dicht an Wohnhäusern vorbei.

Es gibt seit Jahren heftigen Protest der Einheimischen; leider ohne Erfolg. Nun aber erlangt eine Gruppe älterer Frauen aus der Ortschaft Dörpstede bundesweit Aufmerksamkeit. Sie kleben sich im Sitzstreik an den bestehenden Schienen fest. Immer im Wechsel - jeweils drei der alten Damen. Sie nennen sich „Generation NK“. Abkürzung für Nachkriegskinder. Das Medieninteresse ist enorm. Die Sprecherin der Gruppe, Hilde Spiralla, 75, wird zum Interview gebeten.

Frau Spiralla, haben die Aktionen der sogenannten 'Letzten Generation' Vorbildfunktion für ihr Vorgehen?

So'n Unfug. Überhaupt nicht. Das fehlt noch. Man sperrt nicht mutwillig Zufahrtstraßen. Man beschmiert auch keine Kunstwerke. Das gehört sich nicht.“

Aha. Aber Sie kleben sich auf Bahngleisen fest. Die sind in öffentlichem Besitz.“

Ja, ja... und sollen Platz machen für die neue Schienenführung, mitten durch unsern Lebensraum.“

Aber Erneuerung muss manchmal sein; das bringt doch Vorteile. Man spart dadurch zum Beispiel dreißig Minuten auf der Strecke Hamburg - Kopenhagen.“

Ja, toll, so haben die Politiker es uns auch erklärt. Und man kann dann auch vom Nordkap bis Istanbul ohne Fähre auf dem Landweg durchfahren. Donnerwetter! Könnte man jetzt schon. Geht leider nur über Russland.“

Spöttisch verzieht Hilde Spiralla dabei ganz kurz die Mundwinkel, um dann wieder ernst fortzufahren:

Ich will keine ratternden Züge vorm Schlafzimmerfenster. Das werden die erleben, wir bleiben hart.

Der Journalist schaut auf seinen Spickzettel und fragt die aufgebrachte Frau:

Sie sind Jahrgang 1948, Frau Spiralla, sie würden zeitlich in die 68er-Generation passen. Haben Sie von daher Erfahrungen mit Protesten?“

Nun ist aber gut, junger Mann. Das waren damals ganz andere Typen. Ich würde niemals mit Pflastersteinen werfen, oder so. Das hier ist meine erste Demo.“

Haben Sie denn gar keine Hoffnung mehr, dass die Politik noch eine Lösung findet?“

Hatten wir alles. Versprechungen ohne Ende. Auch früher schon. Immer wieder. Keine Windräder dicht an Wohngebieten. Und was ist daraus geworden? Oder in den Siebzigern? Da wurde uns versprochen, hier keine Atomkraftwerke zu bauen. Und was kam? Ich sage nur, AKW Brokdorf!“

Aber die sind doch inzwischen alle wieder vom Netz und werden nun zurückgebaut.“

Ach was?! Dann sollen sie doch die neue Trasse gar nicht erst bauen. Dann muss auch später auch nichts zurückgebaut werden.“

Wieder das angedeutete spöttische Lächeln.

Aber Frau Spiralla,....“

Nichts aber, wir haben nicht mehr alle Zeit der Welt. Wie Sie ganz richtig bemerkt haben, ich bin fünfundsiebzig Jahre alt, und ich will keine ratternden Züge vor meinem Schlafzimmer.“

Die erboste Dame guckt zornig in die Kamera, sie meint es ernst.

Frau Spiralla, ganz herzlichen Dank für ihre ehrlichen und offenen Antworten.“

Danichfür.“
 



 
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