Raum

Phil Trepal

Mitglied
Es begann mit einem kaum spürbaren Tasten. Ein Ausstrecken der Finger. Wie in Zeitlupe
wanderten sie aufeinander zu. Sie wollten zueinander finden, wie von der Anziehungskraft des
anderen betäubt. Jeder Millimeter wurde zu einem neuen Gefühl, Hoffnung, Zögern, Fantasie, Mut,
Angst, Kühnheit. Es geschah wechselseitig. Wo eine Hand zögerte, war die andere mutig, wo Hast
entstand, antwortete die andere mit Geduld. Es war wie ein Gespräch, ein Dialog, zwei Hände in
Bewegung, bis es immer klarer wurde, eine erste Berührung, kaum merklich, sacht, höfliches
Abwarten. Dann die nächste Annäherung, ein bewusster Kontakt, wenn auch winzig. Dieser
Moment war zeitlos. Es spielte keine Rolle, wie lange es dauerte, bis beide überzeugt waren. Denn
irgendwann waren sie es. Viel zu nervös, um etwas zu sagen, geschweige denn, sich anzusehen. Für
beide öffnete sich die Tür zu einem Raum, den sie noch nicht kannten.
Sie betraten den Raum, sahen sich um, jeder mit seinem Gepäck, den Andenken an ihr vorheriges
Leben. Leichter Staub tänzelte im Sonnenlicht, wohlige Wärme umgab sie. Mit der Zeit richteten
sie sich ein, das Miteinander wurde groß, der Raum füllte sich. Und bei jedem Weg fanden sich ihre
Hände. Nur die beiden und ihr Raum, mehr existierte nicht.
Und so verstrich die Zeit, auch nach vielen erfüllten, glücklichen Jahren, war auf Eines Verlass, ihre
Hände fanden zueinander. Auch wenn sie zwischenzeitlich Falten gebildet hatten. Jede Berührung
ihrer Finger war eine Reminiszenz an die ungesagten Versprechen der ersten Stunde, manchmal
erkaltet, manchmal erwärmt.
Doch er tat es nicht. Ja, sie gefiel ihm sehr, ihr Wesen entlockte seiner Seele Freudensprünge, dass
war so viel mehr als bloße Verliebtheit. Vom tiefsten Grunde seines Herzens war er von ihr angetan.
Er war ihr verfallen, als sie sich das erste mal begegnet waren. Sie war als Freundin von Freunden
wieder mit dabei, auch heute, als sie alle nebeneinander im Kino saßen. Sie hatten auch platonische
Gespräche geführt. Sie mochte ihn wohl auch. Nun saß sie neben ihm. Und ihre Hände lagen
nebeneinander auf der Armlehne des Kinosessels. So nah, und doch so unerreichbar. Seine
schweißnassen Hände waren wie erstarrt, er achtete peinlich genau darauf, sie bloß nicht
versehentlich zu berühren. Damit hätte seine Vorstellung von ihr, die über alle Maßen perfekt war,
bröckeln und zerstört werden können. Und dazu war sie ihm zu heilig. Dieser Gefahr durfte er nicht
mal der Vorstellung von ihrer gemeinsamen Zukunft aussetzen. Er fror. Und als es auf der Leinwand
wieder tobte, und dröhnende Bässe alles übertönten, entfuhr im ein leiser Seufzer. Die Erkenntnis,
dass er sich niemals trauen würde, diesen Weg zu beschreiten, um das Wertvollste, das er hatte,
seinen uneingeschränkten Raum mit ihr, nicht zu gefährden, überkam ihn. Zum Glück war es hier
dunkel, sodass niemand sah, dass ihm eine Träne langsam die Wange herunterlief. Fast so langsam
und zögernd, wie es ihre Hände getan hätten. Aber manche Wege sind unüberwindbar.
So siegte wieder einmal die Angst. Und nicht, wie er sich einredete, aus gutem Grund. Vielmehr
war es etwas wesentlich Tieferes. Denn, und das würde er sich Zeit seines Lebens nicht eingestehen,
es war dieses eine Gepäckstück, was alles verdorben hätte. Er hätte es mitgebracht, unweigerlich, es
wäre zum Vorschein gekommen. Und nein, es hätte ihr ganz und gar nicht gefallen. Niemandem
würde es gefallen. Diesen unablegbaren Ballast würde er niemals hervorholen können. Denn es
schreckte ihn ja selbst ab. Und so wurde sein dunkles Gepäck Antreiber seiner Fantasien, seiner
Gedankenreisen, seiner Angst und letztlich seines Scheiterns, dass sich durch sein ganzes Leben
ziehen würde. Sie würde niemals erfahren, was er empfand, würde ihren eigenen Weg gehen, ihre
Hände in die eines anderen legen, mit dem sie einen anderen Raum beziehen würde, um hoffentlich
glücklich zu werden.
 



 
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