Regen

Sinelenis

Mitglied
Er hielt mühsam die Luft an. Die Hand drückte er sich selber gegen die Lippen, musste aber keuchen, da er gerade gelaufen war. Er versuchte durchzuatmen, um nicht zu hecheln, nicht zu laut zu atmen. Der junge Mann wollte keinen Laut von sich geben. Er lehnte gegen die Wand hinter sich, überblickte das Zimmer. Er unterdrückte einen Schrei, als er in dem anderen Raum einen von ihnen sah, wie die Haut von seinem Gesicht hing und er über irgendwas kniete.
Es war nicht der Erste dieser Art den er gesehen hatte, aber er konnte nicht anders als sich zu ekeln. So widerlich waren die aufgerissenen Augen, die hervorstachen. Die viel zu trockenen Lippen, in denen aus den Rissen kein Blut mehr drang. Die Haut war fahl, mehrmals blieb ihm nichts anderes übrig als sie zu berühren, die Haut war ledrig und doch wie die von Menschen. Lebenden Menschen. Bei diesem Exemplar war das halbe Gesicht noch weg gefault, die Zähne blutig und Fleischfetzen hingen von den Knochen.
Der junge Mann schüttelte den Kopf, wollte nicht schreien und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Leise atmete er noch einmal durch. Versuchte so sein Herzschlag zu beruhigen.
Er wollte plötzlich wieder zurück in sein Büro, über welches er so oft schimpfte. Wollte sogar mit den Kunden sprechen, welche ihn sonst kirre machten. Mit den Kollegen Pause machen, die ihn sonst in den Wahnsinn trieben. Auch gegen Überstunden hatte er plötzlich nicht mehr so viel.
Es schauderte ihn, aber diesen realen Horrorfilm, den er jetzt schaute, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er wollte weit weg sein von hier. Weit weg von den Kreaturen, die nach ihm griffen und ihn haben wollten. Die sein Fleisch und sein Blut wollten. Die sich von ihm ernähren wollten.

Julius strich sich das blonde Haar zurück, er wollte freie Sicht haben und er war lange nicht beim Friseur gewesen, um sich seine Haare kürzen zu können. Nun jetzt hatte er sowieso keine Gelegenheit mehr dazu.
Er sah sich in diesem kleinen Raum um. Es war das erste Mal das er hier war, aber vor der Tür stand „geweihter heiliger und geschützter Boden“, eigentlich glaubte der Heide da nicht dran. Gott und Teufel gab es nicht, doch wenn er sich die Welt so ansah, in welcher er lebte, glaubte er plötzlich doch daran. Jedenfalls an den Teufel.
Er sah auf das Kreuz, was über der Tür hing und überlegte ob er beten sollte. Er musste lächeln, aber hoffte Gott würde ihn dennoch verschonen. Gott. Wieder musste er lächeln. Gab es einen Gott, der so etwas zuließ?
Er schüttelte kaum merklich den Kopf, nein, so etwas konnte kein Gott der Welt zulassen.
Julius seufzte lange in Gedanken, er sah sich erneut um. Heilig schien der Boden nicht zu sein, denn sollte das der Fall sein, würde hier kein schlechtes Wesen reinkommen. Hier war aber mindestens ein schlechtes Wesen drinnen, dass er immer noch im Blick hielt, weil es noch immer aß. Zu seinem Glück.
Zitternd zog er das Handy aus seiner Tasche: „Meldet euch! Verdammt!“, sagte er gedanklich, aber bemerkte, dass er wieder kein Empfang hatte. Es war nicht das erste Mal gewesen. Und es würde nicht das letzte Mal sein, bis das Telefonnetz gänzlich zusammen brechen würde.
Julius wagte es noch immer nicht ein Laut von sich zu geben.
Die Toten würden ihn nicht finden, nicht sehen und nicht fressen. Vorher wollte er noch einmal sie sehen.
„Nein“, sagte er zu sich selber und wollte schon gegen die Wand hinter sich schlagen, im letzten Moment hörte er auf. Im letzten Moment, bevor er hätte Lärm machen können. Die Aufmerksamkeit erneut auf sich zu ziehen. Er atmete schwer durch. Versuchte dabei weiter so leise zu sein, wie er konnte und das konnte er eigentlich sehr gut. Er hatte sein Körper sehr unter Kontrolle.
Er würde hier warten, bis die wandelten Toten weg waren und dann raus laufen. Im Kopf überdachte er noch einmal die Idee, war das wirklich die beste Idee zu dieser Stunde?
Draußen wurde Nacht. Es war kalt und die Toten würden vor der Tür lauern.
Julius schaute auf das Messer in seiner Hand. Eigentlich erschien es ihm lächerlich, aber es war die einzige Möglichkeit die er hatte. Er musste das Monster neben sich ausschalten, bevor es anders rum war.
In seinen Gedanken schossen ihm die Momente mit ihr, die er hätte anders Handhaben können. Hätte er doch anders reagiert.
Julius ließ sich leise gegen die Wand sinken, wie gerne würde er jetzt mit ihr Zeit verbringen. Sie in den Arm nehmen oder sie ein wenig ärgern. Nicht viel, nur ein bisschen. Er musste lächeln, es war doch gar nicht so lange her, ein paar Wochen vielleicht. Noch einmal zog er das Handy hoch, wie zuvor verdeckte er das Licht mit seiner Jacke.
August. Sie hatten bereits August. Und dabei hieß es doch sie hätten das Virus unter Kontrolle. Es waren am Ende doch kaum noch Infizierte. Wie oft hatten sie sich unterhalten. Doch glauben wollte er dem Mädchen nicht, als es sagte es komme eine zweite Welle und diese wird schlimmer. Er hatte es belächelt. Es dachte sie übertreibe. Jetzt war er sich sicher, sie tat es nicht.
Eigentlich wollte er doch schon lange in den Urlaub gefahren sein, weit, weit weg von der Wirklichkeit. Weg von dem Alltag. Weg von der ganzen Scheiße, aber es ging natürlich nicht. Das wusste er. Denn die Realität hatte die Welt geändert. Das Virus hatte Fliegen in andere Länder verboten. Erst bis Ende Mai, dann Juni, dann Juli und plötzlich das ganze Jahr. Julius seufzte und sah zu dem etwas. Er musste es vernichten. Langsam schlich er sich an, es war nicht das erste Mal, aber das erste Mal das keiner bei ihm war. Keiner der sich bedankte. Keinem dem er das Leben gerettet hatte.
Julius musste durchatmen. Auch wenn es nicht der Erste war, so war es noch immer nicht einfach für ihn. War es schwer jemanden zu töten. Er sah zu dem leblosen Toten hinab. Das restliche Blut trat aus der Wunde heraus. Wie in so vielen Filmen, spielen oder Serien wusste er das er in das Gehirn treffen musste. Keiner hatte einen darauf in der Wirklichkeit vorbereitet.
Geschafft setzte er sich an den Rand in der Küche, guckte zuvor die Schränke durch, er hatte Hunger. Er wollte unbedingt jetzt etwas essen. Danach setzte er sich hin. Aß das restliche Brot. Noch war alles Frisch, solange war es nicht her, dass man den Ersten von denen sah und tötete.

Seine Hand knallte auf die Kacheln, sofort war er wach. Und am Leben. Julius sah sich um, noch immer war er in der Küche dieses fremden Hauses. Er musste sich dennoch orientieren wo er war. Was passiert war. Er schaute durch das Fenster in der Küche, keiner der Kreaturen war noch da, war er eingeschlafen?
„Verdammt!“, schrie er, aber nur im Kopf. Er holte aus seiner Tasche sofort das Handy raus, der Akku war fast leer. Er musste raus und nach Hause, er hatte es versprochen. Wollte er nur nach Essen und Trinken gucken. Sie brauchten es. Und noch war es sicherer auf den Straßen.
Die beiden Mädchen hatten versprochen sich zu melden, wenn sie einen Platz hatten wo sie sicher waren, das war nun schon so unendlich lange her und langsam glaubte er kaum noch an das Wunder. Warum hatte er sie nicht eingeladen, bei sich zu bleiben. Er hatte den Platz. Er hatte die Sicherheit. Seine Dummheit, sein Verstand hatte ihn nicht gelassen. Er seufzte für sich. Waren sie noch am Leben? Hatten sie es geschafft? Würde er sie je wieder sehen?
Die Tür des Hauses knarrte, es hörte sich für ihn an, als würde die ganze Straße gehört haben, dass er die Tür geöffnet hatte.
Julius blieb still. Er bewegte sich nicht mehr, horchte.
Doch alles blieb still.
Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, doch er trat auf die Straße, auf welchen er das schwarze Auto geparkt hatte. Seine Eltern machten sich gewiss schon sorgen. Dabei war er nur ein paar Straßen weiter gefahren.
Julius zitterte, er horchte bei jedem Schritt, ob nicht doch eine Kreatur aus dem Schatten kam. Ob jemand kam um ihn zu töten.

An der Straßenseite lagen die Leichensäcke aufgestapelt. Julius schockierte das Bild immer noch, es war nicht wie im Spiel, wo man ein wenig darüber schmunzelte. Es war nicht wie in einem Film, in welchem man wusste das es nach dem Dreh wieder zusammen gesucht wurde. In einen Schrank gesteckt und nichts damit passierte. Hier wusste der junge Mann, dass die Säcke mit Leichen gefüllt waren. Das man da drinnen Menschen aufbewahrte, die keinen anderen Platz mehr hatten. Er schloss einen Moment die Augen. Dieses Bild musste er verkraften, mit der Realität klar kommen.
Julius lief ein grauenhafter Schrecken durch die Knochen, er guckte hoch als er merkte, dass es leicht zu regnen begann. Das konnte er gar nicht gebrauchen. Regen.
Der Blonde ging weiter, aber fand kein Leben, nicht ein lebendiges menschliches Wesen war in der Straße. Er zog die Luft ein, atmete tief durch, sie war frisch und klar bei dem Sommerregen.
So unglaublich erfrischend, dass er für einen Moment die Augen schließen musste, um den frischen Duft zu verinnerlichen.
Nach der Nacht neben der verwesten Leiche war die Luft heute besonders schön. Er hatte es geschafft in dem Haus sich nicht zu übergeben. Nicht zu schreien. Nicht zu weinen. Nicht zu verzweifeln.

Julius öffnete seine graublauen Augen und ließ den Blick erneut über die Straße streifen, es war so schwer, so traurig zu sehen, wie die ganzen Menschen nicht mehr lebten.
Erschrocken zog er sein Handy aus der Tasche, es vibrierte. Auf dem Display war das Gesicht des Mädchens abgebildet, das er jetzt in seiner Nähe haben wollte. Es tat gut, wieder einen freundlichen Menschen sehen zu können. Jemand den er neben seinen Eltern mochte.
Er ging ran.

Der Klang des Telefonats war schrecklich, er konnte nur die Hälfte verstehen und sie klang aufgebracht. Verzweifelt. Julius lief hin und her, um den besten Empfang zu bekommen, die Leitungen waren fast alle tot und kaum noch Menschen hielten diese aufrecht. Wer sollte auch, wenn alle Menschen dem Virus zum Opfer gefallen waren. Die Leitung klickte und es herrschte Stille.
Julius sah wieder auf das Handy. Still und ruhig lag es in seiner Hand, als verhöhnte es ihn. Julius hoffte auf einen Rückruf, aber nichts. Auch wenn es Wahnsinn war, er musste zu seinen Freunden. Er musste zu dem Mädchen.
„Warum bist du nicht gleich mit, warum hast du sie nicht gleich eingeladen?“, fragte er sich, als er zu seinem Auto lief.
Es wäre so viel einfacher gewesen, nun stahl er sich durch die Winkel und Ecken von Hamburg, an jeder Ecke war Blut, überall die Leichen verstreut. Er wusste auch einige seiner Freunde waren darunter gewesen. Es tat ihm weh, mit diesem Wissen lebendig durch die Stadt zu fahren, genau zu wissen einige nie mehr zu sehen. Er konnte es nicht ändern. Das Virus war in seiner zweiten Welle tödlicher als vorher.
Er schütterte den Kopf, oberste Priorität war nun zu seinen Freunden zu kommen, sie schienen in Gefahr zu sein.

Der Regen war immer stärker gefallen und langsam legte sich eine dünne nasse Schicht auf den Boden und unzählige Pfützen waren überall zu sehen, wo er mit seinem Auto durch bretterte. Er schrieb seiner Mutter nur noch kurz eine Nachricht. Er musste einfach. Sowohl seiner Mutter Bescheid sagen, als auch helfen. Die Stille war schlimm. Er wusste nicht wo jene Kreaturen die einst Menschen waren, sich versteckten. Er wusste nicht wie weit er kommen würde und würden seine beiden Freunde jemals erfahren, dass er es nicht schaffte?
Hinter ihm auf der Straße erschien ein Schatten, erstarrt blieb er stehen, war er gerade an einer Ampel gehalten, sein Blick ging die Straße runter.
„Wie in einem Horrorfilm“, schoss es ihm durch den Kopf. Seine Beine zitterten. Ja, Julius hatte Angst, große Angst. Er umfasste das Lenkrad stärker.
Er ging weiter, es schien nur der Wind gewesen sein, der Wind der jetzt so eisig war.
„Konzentrier dich“, ermahnte er sich selber, „du kannst dich hier jetzt nicht ablenken.“
Überzeugt von sich fuhr er weiter, doch sein Verstand zwang ihn erneut stehen zu bleiben. Was er sah war unglaublich, war unmenschlich.
Seit einem guten Tag hatte er sich jetzt raus bewegt, war über Nacht nicht in sein sicheres Heim zurückgekehrt, denn es hatte zu stark geregnet. Jetzt saß er hier, war jetzt auf der Flucht vor jenen Menschen, Zombies wie sie im Spiel und Film so oft genannt worden waren, aber das kannte er nur aus einen Spiel.
Er überlegte welches es war, doch ihm fielen keine gescheiten Spiele ein. Nur ein paar Ausschnitte, war es 7D2D? Oder was war es? In Minecraft konnte er sich erinnern, als er ein Haus baute.
Mini-Zombie!
Es war verboten, oder hätte verboten sein sollen. Vor ihm, auf dem Boden kriechend und labend am menschlichen Fleisch, hockten sie, alle mit dem gleichen Abzeichen, alle ordentlich gekleidet zusammen. Keiner älter als Zehn junge Jahren.
„Oh mein Gott“ , schoss es Julius durch den Kopf, „Kinder!“

Vor ihm hockten Kinder.
Er wollte sich übergeben, oder rennen, oder sonst was, aber seine Beine, sein Körper reagierten nicht. Der Blonde stand auf der Straße, guckte auf die sich labenden Kinder und wollte schreien. Der Wind ließ ihn frösteln, er hatte zum Glück eine Jacke mit.
Plötzlich verzog er das Gesicht, das Gefühl des Niesens schlich sich in die Nase.
„Bitte nein“, dachte er und hielt sich den Finger unter die Nase, er zog die Luft ein. Wartete ein paar Sekunden.
Erleichterung. Er atmete durch, keines der Zombie-Mini-Kinder hatte ihn gesehen, und er wollte es auch gar nicht.
Er drehte sich um, setzte den Rückwärtsgang ein und versuchte wegzukommen. Kinder.
Sie waren verboten. Und hier in der Realität war niemand da, der es verbieten konnte. Niemand der sagte es war falsch.
Julius zitterte beim Einatmen. Wie sollte er damit denn jetzt noch klar kommen. Was war mit den Eltern passiert. Nein. Er konnte nicht.
Julius schüttelte sich, er fuhr langsam an, drehte das Auto und schrammte eine Mülltonne, dessen Müll am Rand stand, die Tonne selbst randvoll war.
Sein Blick ging noch mal zu den Kindern, sie hatten ihn zum Glück noch nicht bemerkt.
Der Regen wurde stärker und stärker. Er konnte kaum noch durch die Scheibe des Autos sehen, dennoch musste er weiter. Er sah die Straße nicht richtig und fuhr krachend in einen Berg aus Leichen. Die Kinder guckten auf. Erst eines, dann das zweite bis letztlich alle das Auto ansahen.
Der Berg aus Leichen war auf Julius Auto gefallen, eines darunter. Julius versuchte zurück zu setzen, versuchte zu fahren. Er kam nicht weg. Noch einmal versuchte er es nach vorne, nach hinten.
Die Räder drehten durch, als er Gas gab. Die Kinder kamen langsam auf ihn zu.
Hatten ihre Mahlzeit einfach liegen lassen. Es war, als hätten sie jetzt Spaß daran gefunden Julius zu jagen.
Er schnappte sich seinen Rucksack und öffnete die Tür so schnell er es konnte. Sprang fast schon aus dem Auto, weg von dem Haufen der Kinder. Schnell weg.
Er sah sich um wohin er konnte.
Obwohl die Straße offen war und es wie aus Strömen regnete rannte der blondhaarige los, riss die Tonnen um, wie in den Filmen er es gelernt hatte. Er wollte den Kindern ein Hindernis geben, es ihnen erschweren. Sie sahen es zu spät, fielen über die Tonne und trampelten über sich. Es war grausig zu sehen, grausig zu hören, wie die Kinder so überrannt wurden.
Die unteren schrien und kämpften sich hoch, die Kinder die älter waren schafften es über die Tonne. Ließen die ihren liegen.
Julius schaute sich das Ganze nicht weiter an, er drehte sich schnell um und flüchtete in eine Gasse.
„Eine Kurve“, sagte er sich und lenkte nach links, „dann bin ich aus dem Blickfeld“, doch die Kurve war eine Sackgasse, er rannte zu dem aufgetürmten Müll.
„Hier waren Menschen“, dachte er, „HALLO?“, brüllte er die Wand an, „HALLO?“, doch immer noch nichts.
Er hämmerte dagegen. Nichts.

Stille.

Er hasste langsam diese Stille.
Die Schmatz Geräusche hinter ihm ließen ihn umdrehen, er war durchnässt. Rückwärts ging er zu dem Müllhaufen, die kleinen Gegenstände bohrten sich in seinen Rücken.

Die Kinder kamen auf ihn zu. Als hätten sie ihn jagen wollen.
Er war starr vor Angst, als jemand ihn an den Schultern packte und hochzog.
 



 
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