Ritt auf dem Tiger

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Mariaan

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Vorsichtig schleichen sich die beiden im Dunkeln zum Zaun. Kurz sieht man den Lichtkegel einer Taschenlampe. Das Mädchen hält dem Jungen Räuberleiter, er klettert über den Zaun. Sie ist größer und folgt ihm ohne Hilfe. Mit leisen Schritten und geduckt schleichen sie am Gehege der Dromedare und Antilopen vorbei. Er hält die Taschenlampe in der Hand, lässt sie aber ausgeschaltet, damit man sie nicht entdeckt. Der Mond scheint hell genug um den Weg erkennen zu können. Sie trägt ein langes Seil aufgerollt über der Schulter.

„Julian, da vorne ist die Plattform“, flüstert sie.

„Ja, Svenja, gleich sind wir da“, flüstert Julian zurück.

Kurz drauf haben Svenja und Julian die Holzplattform erreicht. Behutsam tasten sie sich über die Plattform zum Geländer vor, damit der Holzboden nicht knarrt. Zoobesuche sind nachts verboten und sie wollen nicht entdeckt werden.

Nun stehen sie direkt am Geländer der großen Aussichtsplattform oberhalb des Tigergeheges und blicken hinunter.

„Und Du meinst, wir können da wirklich reinklettern?“, fragt Svenja ihren Bruder.

„Ja, als wir heute Morgen hier waren, hat der Tiger zu mir gesagt, dass wir ihn unbedingt unten im Gehege besuchen kommen sollen. Und dass das nur nachts geht.“

Svenja fragt sich wieso Tiger reden können. Sie war doch morgens auch hier und hat nichts gehört.

„Nun ja“, zögert Svenja, „wir können doch auch außen rum gehen und uns an die große Scheibe stellen. Da kommen die beiden Tiger ganz nah vorbei.“

„Die beiden Tiger fühlen sich aber alleine und möchten, dass wir zu ihnen rein kommen. Außerdem, wenn wir nicht reinsteigen, hast Du das Seil völlig umsonst hierher geschleppt“, gibt ihr Bruder leicht genervt zurück.

„Okay“, gibt Svenja nach, „aber Du steigst zuerst runter.“

„Jo, los geht’s“, flüstert Julian, der nun auch ganz aufgeregt ist.

Svenja lehnt sich weit über das Geländer der Plattform, befestigt das Kletterseil an den gebogenen grünen Spitzen des Zauns vom Tigergehege und wirft es hinunter. Mit einem Plopp hört sie das Seil unten aufkommen. Super, das Ende ist nicht in den Teich gefallen. So richtig wohl ist ihr bei der Unternehmung immer noch nicht.

„Julian, was tun wir, wenn die Tiger uns fressen wollen?“

„Die wollen uns nicht fressen. Die möchten gestreichelt werden, uns mal kennenlernen und uns ihr Gehege zeigen.“

„Sind die überhaupt da? Ich sehe sie gar nicht.“

„Doch, die beiden sind da. Sie schlafen da rechts unter den Bäumen, wo man sie von hier nicht sehen kann.“

„Woher willst Du das denn wissen, Julian?“

„Das hat Igor, der Tiger, mir heute Morgen gesagt, damit wir uns nicht erschrecken, wenn sie zu uns rauskommen. Nun mach endlich.“

Svenja hilft Julian über das Geländer der Plattform. Mit einem Fuß steht er jetzt auf dem Geländer, mit dem anderen oben auf den runden Zaunenden. Mit Schwung zieht er den Fuß vom Geländer nach, geht auf die Knie und hält sich mit beiden Händen an den Zaunenden fest. Langsam legt er sich auf den Bauch, dreht sich herum und lässt die Beine behutsam ins Gehege baumeln um sich nicht an den spitzen Zaunenden zu verletzen. Dann packt er schnell mit beiden Händen das Kletterseil und lässt sich ins Gehege hinab, Hände am Seil, die Füße am Zaun. Unten angekommen stellt er fest, dass seine Hose einen kleinen Riss bekommen hat. Nun ja, egal. Er leuchtet kurz mit der Taschenlampe nach oben. Nun steigt Svenja vom Geländer auf den Zaun und steht kurz drauf neben ihm.

„Hier riecht es ein bisschen streng“, stellt Svenja fest.

„Sind halt Tiger und keine Hauskatzen“ gibt Julian zurück.

Sie gucken sich um. Der Teich ist hier unten viel größer als er von oben aussieht. Auch die Holzstämme, die in dem Gehege liegen, sind richtig dick. Und sehr hoch ist das Gelände. Auf der einen Seite die hohe Mauer, auf der anderen Seite der hohe Zaun, über den sie heruntergekommen sind.

„Kein Wunder, dass sich die beiden Tiger hier unten einsam fühlen bei den riesigen Mauern und Zäunen“, stellt Julian fest.

Svenja hört ein tiefes Grollen von rechts.

„Das ist Igor. Er sagt, dass er sich freut, dass wir da sind. Er kommt mit seiner Schwester Ninoshka jetzt raus“, übersetzt Julian.

Svenja runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf.

Jetzt raschelt es in den Büschen und ja, da kommen die beiden langsam vor. Boh, sind die riesig! So riesengroß sahen sie heute Morgen von draußen gar nicht aus. Julian und Svenja weichen beide ein paar Schritte zurück.

Ninoshka beginnt leise zu grummeln. Julian geht vorsichtig auf sie zu, legt ihr eine Hand auf den Kopf und beginnt sie zwischen den Ohren zu kraulen. Sie schnurrt und legt sich auf den Boden. Svenjas Augen weiten sich vor Überraschung.

„Du kannst ruhig näher kommen", sagt Julian zu ihr, "Igor möchte auch gekrault werden."

Langsam geht Svenja auf Igor zu, der ihr schon seinen Kopf entgegenstreckt und dann lässt auch er sich streicheln und fängt genüsslich an zu schnurren. Svenja ist völlig geplättet. Das wird ihr keiner glauben, wenn sie das in der Schule erzählt.

Und so stehen die beiden da, an die Tiger gelehnt und kraulen und streicheln Igor und Ninoshka, die das mit geschlossenen Augen genießen. Nach einiger Zeit schnaubt Igor ein bisschen. Julian dreht sich zu Svenja um und übersetzt: "Wir sollen aufsteigen. Die beiden möchten uns ihr Gehege zeigen und dazu dürfen wir auf ihnen reiten."

Svenja wird jetzt auch mutiger und lässt Julian fragen, ob sie auch aus dem Voltigieren mal einen Kopfstand ausprobieren darf. Ninoshka ist von der Idee begeistert.

Julian klettert auf Igors Rücken und Svenja sitzt bei Ninoshka auf. Langsam schreiten die beiden Tiger mit ihren Reitern durch das Gehege und stellen es ihnen vor: den See, in dem sie baden, die Büsche, in denen sie schlafen und sich verstecken, wenn die Zoobesucher sehr viele und sehr laut sind, die wunderschönen Sonnenliegeplätze und die vielen Baumstämme, auf die sie klettern können.

Igor und Ninoshka erzählen von ihrem Tigerleben und Julian und Svenja erzählen von der Schule und was sie sonst so machen. Julian übersetzt fleißig hin und her. Als sie an der großen Glasscheibe vorbeikommen, an der Julian und Svenja morgens auf der anderen Seite gestanden haben, bleiben die Tiger stehen und Svenja macht einen Kopfstand auf Ninoshkas Rücken. Da Tiger nachts viel besser sehen können als Menschen, kann Ninoshka Svenja im Kopfstand auf ihrem Rücken im Spiegelbild in der Scheibe sehen. Sie ist sehr beeindruckt.

Langsam trotten sie dann weiter an der hohen Mauer lang. Dabei streicht Igor sanft mit seiner Schwanzspitze über Julians Rücken.

Plötzlich hört Julian seinen Namen. Doch es ist weder Igors, Ninoshkas oder Svenjas Stimme. Unversehens wird es jetzt hell um ihn herum. Mist, hat man sie entdeckt?

Die Stimme wird lauter. "Guten Morgen, Julian". Seine Mutter steht am Bett und streicht über seinen Rücken. "Aufstehen. Gleich gibt‘s Frühstück. Hast Du gut geschlafen?" Julian dreht sich hin und her. Er ist verwirrt. Das ist doch jetzt wohl nicht wahr. Habe ich das alles nur geträumt, den Ritt auf dem Tiger, dass ich mit den Tigern gesprochen habe, schießt es ihm durch den Kopf. Enttäuscht setzt er sich auf und schlurft Richtung Badezimmer. Dabei stolpert er über seine Hose, die mitten im Zimmer liegt. Als er sie wütend zur Seite kickt, sieht er den Riss in der Hose. Der Riss, der war doch von heute Nacht, als er sich ins Gehege abgeseilt hat. Eigenartig. Verwundert kratzt er sich am Kopf.

In der Küche sitzt Svenja mit einem Kaffee, grinst ihn an und deutet auf das Radio. Julian bleibt stehen und hört den Nachrichtensprecher: Letzte Nacht sind zwei unbekannte Personen in das Tigergehege des Landauer Zoos eingestiegen. Die Schuhabdrücke lassen darauf schließen, dass es zwei Kinder oder Jugendliche waren. Die Unbekannten ließen ein Kletterseil zurück. Der zuständige Tierpfleger sagt, die beiden Tiger Igor und Ninoshka sind wohlauf. Beide Tiger sollen heute Morgen sogar besonders zufrieden und glücklich gewirkt haben. Das Wetter:....

Da stiehlt sich ein vergnügtes Grinsen auf Julians Gesicht und er saust glücklich Richtung Badezimmer.
 



 
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