Robbie

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Kais Freunde im Kindergarten besaßen Plüschtiere in allen erdenklichen Formen und Farben. Es gab Bären, Hasen, Hunde und Lämmer. Bernd hatte sogar ein Nilpferd, und Anette ein buntgestreiftes Einhorn. Doch eine kleine weiße Robbe, so wie er, besaß sonst niemand. Er nannte sie Robbie. Mama hatte ihm erzählt, seine Großeltern hätten ihm das Kuscheltier von einer ihrer Reisen mitgebracht, als er noch ganz klein gewesen war. Kai hatte seither jede Nacht an Robbies Seite geschlafen, erst in seiner Krippe und später dann in seinem Kinderbett. Und tagsüber begleitete die kleine Robbe Kai auf all seinen Unternehmungen. Dementsprechend mitgenommen sah Robbie mittlerweile aus. Sein ehemals glattes, schneeweißes Fell war nun graugelb und zottelig, die pechschwarzen Plastikaugen hatten ihren Glanz verloren, und von seinen langen Schnurrhaaren waren nur noch zwei oder drei wenigstens teilweise erhalten. Das kümmerte Kai wenig. Im Gegenteil: Er liebte Robbie mit all seinen Flecken und Kratzern, die von ihren gemeinsamen Abenteuern erzählten.

Eines Tages machte Kais Familie einen Ausflug nach Schaffhausen zum Rheinfall. Sie aßen dort zu Mittag, und danach bestiegen sie zusammen mit ungefähr 20 anderen Touristen ein gelboranges Motorboot, mit dem sie ganz nahe an den Wasserfall heranfuhren und schließlich an dem Felsen anlegten, der die tosenden Wassermassen ungefähr in der Mitte teilte. Sie stiegen steinerne Treppenstufen nach oben, bis sie die kleine Aussichtsplattform erreichten. Dort warteten sie dichtgedrängt darauf, einen Platz an der Umzäunung zu ergattern, von wo aus man einen Blick auf die schäumenden Fluten werfen konnte, die sich mit lautem Getöse ihren Weg nach unten bahnten.

Endlich stand Kai direkt an der Absperrung, die höher war als er selbst, und spürte wie die kühle Gischt von unten her in sein Gesicht wehte. Er öffnete seinen kleinen Rucksack, kramte Robbie heraus und steckte seinen Zeigefinger durch einen kleinen Plastikring in Robbies rechtem Ohr, an dem früher einmal ein Pappetikett befestigt gewesen war. Dann reckte seinen Arm in die Höhe, damit sein Freund das Naturschauspiel ganz genau verfolgen konnte. In eben diesem Moment wurde Kai von einem Erwachsenen angerempelt, der ihn beim Fotografieren übersehen hatte. Er zuckte so heftig zusammen, dass der Plastikring von seinem Finger rutschte und Robbie jenseits der Barriere nach unten stürzte. Schreckensstarr sah Kai, wie sein Plüschtier einen Moment später im brodelnden, weißen Schaum verschwand.

Kais Eltern hatten den Vorfall nicht bemerkt, und so dauerte es eine Weile, bis Kai ihnen mit tränenüberströmten Gesicht erklären konnte, was passiert war.

Auf der kurzen Bootsfahrt zurück ans Ufer beachteten Mama, Papa und Kai den mächtigen Wasserfall nicht weiter, sondern starrten angestrengt in das kühle Wasser, welches links und rechts an ihrem Boot vorbeiglitt. Doch eine kleine weiße Robbe sahen sie dort nicht. Papa gab einem der Angestellten 10 Franken und seine Adresse, falls Kais Kuscheltier doch noch gefunden werden sollte. Nach dem Aussteigen lief Kai mit seinen Eltern noch mehrmals am Ufer auf und ab, doch Robbie blieb verschwunden. Schließlich mussten sie sich ohne ihn auf den Heimweg machen, und selbst eine großzügig dimensionierte Eistüte vermochte Kais Traurigkeit nicht zu mildern.

„Wo fließt der Rhein hin?,“ wollte Kai im Auto wissen, und seine Eltern erzählten ihm, dass der Fluss weit im Norden in einem anderen Land ins Meer mündet. Auch dass Robben gerne im Wasser seien und Kai sich keine Sorge um Robbie machen müsse sagten sie ihm. Doch konnten sie ihm nicht versprechen, Robbie werde eines Tages den Weg zurück zu seinem Freund finden.

Am Abend kam Kai sein Bett schrecklich leer vor, und es dauerte lange, bis die Eltern sein Zimmer auf Zehenspitzen verlassen konnten.

In den folgenden Tagen und Wochen wartete Kai jeden Tag sehnsüchtig auf die Post. Doch es kam kein Paket oder Brief aus Schaffhausen. Kai stellte sich vor, wie Robbie wohl gerade der Nordsee entgegentrieb, weit, weit weg, wo niemand davon wusste, wie sehr Kai ihn vermisste.

Irgendwann rannte Kai nicht mehr länger nach draußen, sobald er am Nachmittag das Postauto vorfahren sah. Doch er leerte noch immer den Briefkasten und wartete angespannt, während seine Eltern die Umschläge durchgingen.

Im September kamen Kais Großeltern zu Besuch. Sie waren auf der Durchreise nach Italien. Zum Ende des dem Abendessens überreichten sie Kai eine mit Packpapier umwickelte Schachtel mit einer weißen Schleife. Kai wusste, dass sein Geburtstag erst im November war. Etwas erstaunt löste er die Schleife, entfernte das Packpapier, und öffnete den Karton, während der Rest der Familie ihm aufmerksam zusah.

Dann hielt er mit offenem Mund inne. Er konnte es nicht fassen. In der Schachtel lag eine weiße Plüschrobbe. Alle warfen ihm ermunternde Blicke zu, als er das Kuscheltier vorsichtig heraushob. Es sah aus wie Robbie, außer dass sein Fell makellos weiß glänzte und an einem der zwei Stubbelohren eine kleine, beschriftete Plastikkarte befestigt war.

Während Kai sein Geschenk betrachtete, erzählten die Großeltern, wie sie sich irgendwann daran erinnert hatten, wo sie Robbie damals gekauft hatten, und wie sie es nach vielen Telefonaten geschafft hatten, genau dasselbe Kuscheltier bei einem Spielwarenladen zu bestellen.

Kai bedankte sich bei Oma und Opa und brachte die weiße Robbe in sein Zimmer. Dort setzte er sich auf sein Bett und legte das Kuscheltier neben sich. Früher hatte er stundenlang auf Robbie eingeredet, ihm alles erzählt, was ihm in den Sinn gekommen war, so als rede er mit seinem besten Freund aus dem Kindergarten. Aber jetzt saß er einfach nur da und schwieg. Was hier neben ihm lag war nicht sein Robbie, sondern einfach nur irgendeine weiße Plüschrobbe. Nach einer Weile verließ Kai sein Zimmer und ging nach Draußen.

Am Abend legten Kais Eltern das Kuscheltier in Kais Bett. Wie schön sei es doch, sagten sie, Robbie endlich zurück zu haben. Doch Kai schüttelte den Kopf und erklärte, das neue Plüschtier heiße nicht Robbie. Und als sie ihn fragten, wie er es sonst nennen wolle, zuckte er nur mit den Schultern.

So lag die nagelneue Stoffrobbe mit ihrem schneeweißen Fell bald unbeachtet unter Kais Bett. Ein paar Tage später fand sie dort Marco, der Hund der Familie. Danach sah Kai ab und zu, wie Marco das namenlose Kuscheltier in seinem Maul durchs Haus trug. Doch irgendwann war es einfach verschwunden, ohne dass Kai das überhaupt bemerkt hätte.

Im Spätherbst feierte Kai seinen sechsten Geburtstag, und bald danach wurde es Winter. Der Januar brachte viel Schnee, der fast 8 Wochen lang liegen blieb, bis es gegen Ende Februar plötzlich warm wurde. Innerhalb von Tagen schmolz der Schnee dahin und ließ die Bäche über die Ufer treten, so dass sich in jeder Mulde kleine Tümpel bildeten. Ganz in der Nähe von Kais Haus gab es mehrere davon. Grasfrösche, die eben zu dem Zeitpunkt aus ihrer Winterstarre erwacht waren, hatten dort ihren Laich in großen, glasigen Ballen abgelegt. Nachdem sein Vater ihm das gezeigt hatte, kehrte Kai fast jeden Nachmittag zurück und wartete darauf, dass die winzigen pechschwarzen Kugeln in den durchsichtigen Gallertklumpen sich in Kaulquappen verwandelten. Außerdem sammelte er die ersten Sauerampferblätter, die er in der langsam ergrünenden Frühjahrslandschaft fand. Nebenbei hielt er nach Schnecken Ausschau. Diese hatten im Herbst die Öffnungen ihrer Häuser mit Kalkdeckeln verschlossen, welche sie nun bald aufstoßen würden, um sich über die jungen Pflanzen herzumachen.

Als Kai Anfang März das verfilzte Gras unter dem Haselnussstrauch hinter seinem Haus nach solchen Weinbergschnecken absuchte, entdeckte er ein Stueck Stoff zwischen den Überresten der Blätter vom letzten Jahr. Er zog vorsichtig daran, und ein nasses, graues Knäuel kam zum Vorschein, an dem altes Laub, Gras und Erde klebten. Er schüttelte es ein paar Mal, bis die alten Halme und Blätter zu Boden rieselten. Und dann sah er die kümmerlichen Überreste weißer Barthaare und einen Plastikring, der an einem zerzausten Stubbelohr hing.

Eine ganze Weile kniete Kai wortlos unter dem Haselnussstrauch und starrte auf die verdreckte Plüschrobbe in seiner Hand, die nicht einfach nur irgendein Kuscheltier war, sondern sein Robbie. Und dann rannte er ins Haus, strahlend und tränenüberströmt, um den Eltern seinen Freund zu zeigen, der nach so langer Zeit den Weg zurück zu ihm gefunden hatte.
 



 
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