Wenn ich mich an St. erinnere und wie ich Brigitte einfach dort gelassen habe, ohne Erklärung und ohne Abschied, bin ich nicht stolz auf mich. Es war auch nicht das erste Mal. Ich mache mich gern aus dem Staub, wie man so schön sagt, sang und klanglos. Die Rolle rückwärts sei meine bevorzugte Konfliktbewältigungsstrategie, befand Frau Dr. G., die Leiterin der Therapiegruppe, in der ich Brigitte kennengelernt habe.
Manchmal tauche ich nach ein paar Jahren auf, um zu sehen, ob man wieder miteinander reden kann. Meistens ist das nicht der Fall. Im Grunde genommen sind Menschen mit zwölf Jahren fertig entwickelt. Das eine oder andere kann sie aus der Bahn werfen. Es kann zu kurzfristigen Charakteranstrengungen mit Zweckbindung kommen. Wenn aber der Zweck nicht erreicht oder uninteressant wird, feiert das zwölfjährige Ich fröhliche Urständ. Es kann eigentlich immer nur überschminkt werden, und wenn einer oder eine alt genug wird, nimmt es am Ende in seiner ganzen kindischen Zwölfjährigkeit Abschied von der Welt. Frau Dr. G. würde dergleichen natürlich in Abrede stellen.
Brigitte und ich hatten eine gute Zeit. Wir waren uns einig, dass wir keine neue Liebesbeziehung eingehen wollten - jedenfalls bis auf weiteres. Wir hatten mit Hilfe der Gruppentherapie unser Selbstvertrauen nach einer Scheidung wiedergewonnen und wollten es nun in die geistige Entwicklung unserer beider Persönlichkeiten investieren. Ich erinnere mich, dass Brigitte auf eine "geistig-spirituelle" Entwicklung pochte, was mich misstrauisch hätte machen sollen.
Es dauerte nicht lange, bis bei meinen Besuchen diverse Schmöker auf dem Wohnzimmertisch lagen, die erst umständlich weggeräumt werden mussten. Später gab es außerdem ein kleines Reißbrett, einen Zirkel und ein Lineal. Brigitte hatte sich der Astrologie verschrieben und war fest entschlossen, auch mich in die Kunst der Sterndeutung einzuführen. Ich machte Bekanntschaft mit den Ephemeriden, mit Häusern und Planeten, mit Sextilen und Aspekten.
Leider ist es so, dass man im Erwachsenenalter kaum noch Freunde findet. Man muss dann solche raren Exemplare zuvorkommend und mit viel Nachsicht behandeln. Interessenkonflikte, so wurde Frau Dr. G. nie müde uns zu erklären, seien in allen Beziehungen sofort zu artikulieren und zu thematisieren, damit sie nicht wie schleichendes Gift das Miteinander zerstörten. Die Annahme war offenbar, dass der Konflikt durch die Thematisierung als solche gelöst werde - eine Erfahrung, die mir das Leben leider nie vergönnt hat. Im Gegenteil: ist erst die Katze aus dem Sack, gibt es große Verwunderung, misstrauische Rückfragen, entschiedenes Abstreiten, Gegenvorwürfe und schließlich eisiges Schweigen oder eine handfeste Auseinandersetzung.
Astrologie war für mich das, womit sich Friseurinnen in den Wechseljahren beschäftigen. Seit ich Kundin von Frau Uschi war, ist diese Assoziation in meinem Kopf verankert. Sie war eine ausgezeichnete Friseurin, bezog ihr gesamtes Selbstbewusstsein aber aus dem Umstand, im Sternbild Löwe geboren zu sein. Sie betonte bei jeder Gelegenheit, dass ihr dieses Sternzeichen zu einer natürlichen Autorität verhelfe, denn so wie sich die Tierwelt ganz instinktiv ihrem König unterwerfe, so wüssten auch die Tierkreiszeichen, wem unter ihnen die Führung zukomme. Unsere Wege trennten sich, als Frau Uschi die alleinige Herrschaft über mein Kopfhaar beanspruchte.
"Sag, möchtest du nicht noch in den Stadtpark gehen? Wir könnten uns das Open-Air-Konzert anhören."
Brigitte zeigte sich überrascht: "Und uns von den Gelsen zerstechen lassen?"
"Okay, aber nächstes Mal! Wir sollten nicht immer hier herumsitzen wie zwei alte Hexen. Es gibt auch ein Leben außerhalb der Astrologie."
"Ich weiß, aber drei Monate wirst du dich noch gedulden müssen," erwiderte sie ungerührt. "Komm, hilf mir und schlag nach, was ein absteigender Mondknoten im Stier bedeutet."
Wir berechneten die Aufstiegschancen von Fußballmannschaften unter Heranziehung ihres Gründungsdatums. Wir berechneten mein, ihr und das Horoskop wildfremder Leute, die darüber wahrscheinlich den Kopf geschüttelt hätten. Selbst das Schicksal ganzer Nationen versuchten wir anhand ihrer Geburtskonstellationen zu erforschen, scheiterten aber regelmäßig an den korrekten Zeitangaben, die so wichtig für die Bestimmung von Aszendent und Deszendent sind. Manchmal gab es Streit deswegen, weil ich mich trotz Ablehnung eines Gegenstandes an und für sich, in technische Details verbeißen kann.
Brigitte versicherte immer wieder, dass meine Beistandsplicht mit ihrer Abschlussprüfung enden werde. Danach wollte sie mit dem Aufbau einer kleinen, feinen Beratungspraxis beginnen, die zunächst ihr Gehalt aufbessern und schließlich ihre Existenzgrundlage bilden sollte. Ich hatte starke Zweifel, verkniff mir aber jeglichen Kommentar, weil Frau Dr. G. mehrmals betont hatte, dass man die Hoffnungen eines nahestehenden Menschen nicht zerstören dürfe, auch wenn sie unrealistisch seien. Das hieß natürlich nicht, dass man ihn blind in sein Unglück rennen lassen sollte. Eher ging es darum, seine kritisches Denken auf behutsame Weise anzuregen und zu lenken.
"Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Astrologe einen Kundenstock aufgebaut hat?"
"Es heißt 'Klienten', einen Klienten-Stock. - Vielleicht drei oder vier Jahre. Mit ein bisschen Glück auch schneller."
Brigitte war die Zuversicht in Person.
"Also ich stelle mir das ziemlich schwierig vor, weil ja so viele verschiedene Experten gibt: Psychologen, Lebensberater, Schamanen, Druiden ..."
"Ja, aber die Astrologie hat als himmlische Wissenschaft doch ihren ganz besonderen Platz. Und was so alt ist, kann nicht ganz falsch sein. Denk an die traditionelle chinesische Medizin!"
"Du meinst Ginsengwurz, Nashornpulver und Tigerknochentee?"
Brigitte war nicht zu irritieren, geschweige denn zu lenken. Auch meinem Vorschlag, doch gemeinsam eine Sternwarte zu besuchen, um die Planeten aus größerer Nähe zu betrachten, erteilte sie eine Abfuhr. Es gehe in der Astrologie nicht um die stoffliche Beschaffenheit der Planeten, um die Frage, ob Jupiter einen festen Kern oder warum Venus eine so dichte Atmosphäre habe. Wichtig sei allein ihre Bahn und ihre mythologische Bedeutung für das Schicksal der Menschen. In meiner Hilflosigkeit erinnerte ich sie sogar an Frau Dr. G., die sich einmal abfällig über die Sterndeuterei geäußert hatte. Nichts half.
"Sie hatte eben auch ihre Vorurteile," erwiderte Brigitte und zuckte die Achseln.
Dann kam die Reise nach St., wo Brigitte einen dreitägigen Workshop besuchen wollte, den letzten vor ihrer Abschlussprüfung. Ich erklärte mich bereit, sie zu chauffieren, weil ihr Auto in der Werkstatt war. Sie dankte mir die Gefälligkeit mit viel übler Laune. Ich saß die meiste Zeit allein auf dem Balkon einer hässlichen kleinen Pension und blickte auf den Gastgarten. Es gab keine Wanderwege, kein Schwimmbad, ja nicht einmal ein Heimatkundemuseum. Die Gemeinde hatte ein Seminarhotel an die Zufahrtsstraße geklotzt, wo die Gäste abgeschottet unter sich bleiben sollten.
Wenn man aus Leichtsinn oder Schwäche einen schiefen Kompromiss eingegangen ist, darf man den Anderen nicht dafür büßen lassen. So oder so ähnlich hatte es Frau Dr. G. formuliert und mit Beispielen hinterlegt. Es gehört sich zum Beispiel nicht, das Lieblings-Möbelstück eines Mitbewohners bei jedem Betreten des Raumes scheel anzuschauen. Es ist nicht richtig, einer Einladung der Kinder eines neuen Partners zuzustimmen, sie aber nach einer halben Stunde wieder abholen zu lassen. Ebenso wenig sollte man am Wunschurlaubsort eines Freundes alles bemängeln und laut die Tage bis zur Abreise zählen.
In unserem Fall war es umgekehrt. Brigittes Laune besserte sich auch nach unserer Ankunft nicht. Am Abend des ersten Tages musste ich mir anhören, wie völlig überflüssig die Veranstaltung war, weil die Vortragende, in Vertretung des eigentlichen Workshop-Leiters, Brigittes Astrologie-Lehrer, weder Ahnung von der Materie noch vom Wissensstand der Teilnehmer vorweisen konnte. Ich vermutete starke Prüfungsangst und erwies mich ein letztes Mal als treue Freundin. "Du musst jetzt durchhalten! Du brauchst doch die Teilnahmebestätigung, also gib jetzt nicht auf, nur noch zwei Tage!"
Am Abend des zweiten Tages, als wir im Gastgarten unserer Pension saßen, näherte sich auf Zehenspitzen ein fremder Mann, beugte sich von hinten über Brigitte und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ihr Gesicht erhellte sich wie ein rosa Lampion, in den eine Kerze gestellt wurde.
"Oh, Gott sei Dank! Endlich! Ich dachte schon, sie würde dich nicht fahren lassen. Du weißt nicht, wie ich dich vermisst habe." Sie lachte und weint gleichzeitig.
"Willst du uns nicht bekanntmachen?" fragte er und tätschelte ihre Schultern.
Ich erfuhr seinen Namen und dass er der schmerzhaft vermisste Lehrer war.
"Ach, das ist die Wassermännin. Nett, Sie kennenzulernen."
"Seine Frau ist nämlich auch Wassermann," erläuterte Brigitte und rollte die Augen.
Ich blieb noch zehn Minuten, dann ging ich auf mein Zimmer, packte meine Sachen und fuhr heim. Wie gesagt: man sollte die späten Freunde wie rohe Eier behandeln, Anteil nehmen, ermutigen und Kompromisse schließen. Aber wenn sie astrologisch werden, rate ich zur Rolle rückwärts, zum beiderseitigen Vorteil und um Schlimmerem vorzubeugen. Auch wenn irgendeine Frau Dr. G. missbilligend den Kopf schüttelt.
Manchmal tauche ich nach ein paar Jahren auf, um zu sehen, ob man wieder miteinander reden kann. Meistens ist das nicht der Fall. Im Grunde genommen sind Menschen mit zwölf Jahren fertig entwickelt. Das eine oder andere kann sie aus der Bahn werfen. Es kann zu kurzfristigen Charakteranstrengungen mit Zweckbindung kommen. Wenn aber der Zweck nicht erreicht oder uninteressant wird, feiert das zwölfjährige Ich fröhliche Urständ. Es kann eigentlich immer nur überschminkt werden, und wenn einer oder eine alt genug wird, nimmt es am Ende in seiner ganzen kindischen Zwölfjährigkeit Abschied von der Welt. Frau Dr. G. würde dergleichen natürlich in Abrede stellen.
Brigitte und ich hatten eine gute Zeit. Wir waren uns einig, dass wir keine neue Liebesbeziehung eingehen wollten - jedenfalls bis auf weiteres. Wir hatten mit Hilfe der Gruppentherapie unser Selbstvertrauen nach einer Scheidung wiedergewonnen und wollten es nun in die geistige Entwicklung unserer beider Persönlichkeiten investieren. Ich erinnere mich, dass Brigitte auf eine "geistig-spirituelle" Entwicklung pochte, was mich misstrauisch hätte machen sollen.
Es dauerte nicht lange, bis bei meinen Besuchen diverse Schmöker auf dem Wohnzimmertisch lagen, die erst umständlich weggeräumt werden mussten. Später gab es außerdem ein kleines Reißbrett, einen Zirkel und ein Lineal. Brigitte hatte sich der Astrologie verschrieben und war fest entschlossen, auch mich in die Kunst der Sterndeutung einzuführen. Ich machte Bekanntschaft mit den Ephemeriden, mit Häusern und Planeten, mit Sextilen und Aspekten.
Leider ist es so, dass man im Erwachsenenalter kaum noch Freunde findet. Man muss dann solche raren Exemplare zuvorkommend und mit viel Nachsicht behandeln. Interessenkonflikte, so wurde Frau Dr. G. nie müde uns zu erklären, seien in allen Beziehungen sofort zu artikulieren und zu thematisieren, damit sie nicht wie schleichendes Gift das Miteinander zerstörten. Die Annahme war offenbar, dass der Konflikt durch die Thematisierung als solche gelöst werde - eine Erfahrung, die mir das Leben leider nie vergönnt hat. Im Gegenteil: ist erst die Katze aus dem Sack, gibt es große Verwunderung, misstrauische Rückfragen, entschiedenes Abstreiten, Gegenvorwürfe und schließlich eisiges Schweigen oder eine handfeste Auseinandersetzung.
Astrologie war für mich das, womit sich Friseurinnen in den Wechseljahren beschäftigen. Seit ich Kundin von Frau Uschi war, ist diese Assoziation in meinem Kopf verankert. Sie war eine ausgezeichnete Friseurin, bezog ihr gesamtes Selbstbewusstsein aber aus dem Umstand, im Sternbild Löwe geboren zu sein. Sie betonte bei jeder Gelegenheit, dass ihr dieses Sternzeichen zu einer natürlichen Autorität verhelfe, denn so wie sich die Tierwelt ganz instinktiv ihrem König unterwerfe, so wüssten auch die Tierkreiszeichen, wem unter ihnen die Führung zukomme. Unsere Wege trennten sich, als Frau Uschi die alleinige Herrschaft über mein Kopfhaar beanspruchte.
"Sag, möchtest du nicht noch in den Stadtpark gehen? Wir könnten uns das Open-Air-Konzert anhören."
Brigitte zeigte sich überrascht: "Und uns von den Gelsen zerstechen lassen?"
"Okay, aber nächstes Mal! Wir sollten nicht immer hier herumsitzen wie zwei alte Hexen. Es gibt auch ein Leben außerhalb der Astrologie."
"Ich weiß, aber drei Monate wirst du dich noch gedulden müssen," erwiderte sie ungerührt. "Komm, hilf mir und schlag nach, was ein absteigender Mondknoten im Stier bedeutet."
Wir berechneten die Aufstiegschancen von Fußballmannschaften unter Heranziehung ihres Gründungsdatums. Wir berechneten mein, ihr und das Horoskop wildfremder Leute, die darüber wahrscheinlich den Kopf geschüttelt hätten. Selbst das Schicksal ganzer Nationen versuchten wir anhand ihrer Geburtskonstellationen zu erforschen, scheiterten aber regelmäßig an den korrekten Zeitangaben, die so wichtig für die Bestimmung von Aszendent und Deszendent sind. Manchmal gab es Streit deswegen, weil ich mich trotz Ablehnung eines Gegenstandes an und für sich, in technische Details verbeißen kann.
Brigitte versicherte immer wieder, dass meine Beistandsplicht mit ihrer Abschlussprüfung enden werde. Danach wollte sie mit dem Aufbau einer kleinen, feinen Beratungspraxis beginnen, die zunächst ihr Gehalt aufbessern und schließlich ihre Existenzgrundlage bilden sollte. Ich hatte starke Zweifel, verkniff mir aber jeglichen Kommentar, weil Frau Dr. G. mehrmals betont hatte, dass man die Hoffnungen eines nahestehenden Menschen nicht zerstören dürfe, auch wenn sie unrealistisch seien. Das hieß natürlich nicht, dass man ihn blind in sein Unglück rennen lassen sollte. Eher ging es darum, seine kritisches Denken auf behutsame Weise anzuregen und zu lenken.
"Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Astrologe einen Kundenstock aufgebaut hat?"
"Es heißt 'Klienten', einen Klienten-Stock. - Vielleicht drei oder vier Jahre. Mit ein bisschen Glück auch schneller."
Brigitte war die Zuversicht in Person.
"Also ich stelle mir das ziemlich schwierig vor, weil ja so viele verschiedene Experten gibt: Psychologen, Lebensberater, Schamanen, Druiden ..."
"Ja, aber die Astrologie hat als himmlische Wissenschaft doch ihren ganz besonderen Platz. Und was so alt ist, kann nicht ganz falsch sein. Denk an die traditionelle chinesische Medizin!"
"Du meinst Ginsengwurz, Nashornpulver und Tigerknochentee?"
Brigitte war nicht zu irritieren, geschweige denn zu lenken. Auch meinem Vorschlag, doch gemeinsam eine Sternwarte zu besuchen, um die Planeten aus größerer Nähe zu betrachten, erteilte sie eine Abfuhr. Es gehe in der Astrologie nicht um die stoffliche Beschaffenheit der Planeten, um die Frage, ob Jupiter einen festen Kern oder warum Venus eine so dichte Atmosphäre habe. Wichtig sei allein ihre Bahn und ihre mythologische Bedeutung für das Schicksal der Menschen. In meiner Hilflosigkeit erinnerte ich sie sogar an Frau Dr. G., die sich einmal abfällig über die Sterndeuterei geäußert hatte. Nichts half.
"Sie hatte eben auch ihre Vorurteile," erwiderte Brigitte und zuckte die Achseln.
Dann kam die Reise nach St., wo Brigitte einen dreitägigen Workshop besuchen wollte, den letzten vor ihrer Abschlussprüfung. Ich erklärte mich bereit, sie zu chauffieren, weil ihr Auto in der Werkstatt war. Sie dankte mir die Gefälligkeit mit viel übler Laune. Ich saß die meiste Zeit allein auf dem Balkon einer hässlichen kleinen Pension und blickte auf den Gastgarten. Es gab keine Wanderwege, kein Schwimmbad, ja nicht einmal ein Heimatkundemuseum. Die Gemeinde hatte ein Seminarhotel an die Zufahrtsstraße geklotzt, wo die Gäste abgeschottet unter sich bleiben sollten.
Wenn man aus Leichtsinn oder Schwäche einen schiefen Kompromiss eingegangen ist, darf man den Anderen nicht dafür büßen lassen. So oder so ähnlich hatte es Frau Dr. G. formuliert und mit Beispielen hinterlegt. Es gehört sich zum Beispiel nicht, das Lieblings-Möbelstück eines Mitbewohners bei jedem Betreten des Raumes scheel anzuschauen. Es ist nicht richtig, einer Einladung der Kinder eines neuen Partners zuzustimmen, sie aber nach einer halben Stunde wieder abholen zu lassen. Ebenso wenig sollte man am Wunschurlaubsort eines Freundes alles bemängeln und laut die Tage bis zur Abreise zählen.
In unserem Fall war es umgekehrt. Brigittes Laune besserte sich auch nach unserer Ankunft nicht. Am Abend des ersten Tages musste ich mir anhören, wie völlig überflüssig die Veranstaltung war, weil die Vortragende, in Vertretung des eigentlichen Workshop-Leiters, Brigittes Astrologie-Lehrer, weder Ahnung von der Materie noch vom Wissensstand der Teilnehmer vorweisen konnte. Ich vermutete starke Prüfungsangst und erwies mich ein letztes Mal als treue Freundin. "Du musst jetzt durchhalten! Du brauchst doch die Teilnahmebestätigung, also gib jetzt nicht auf, nur noch zwei Tage!"
Am Abend des zweiten Tages, als wir im Gastgarten unserer Pension saßen, näherte sich auf Zehenspitzen ein fremder Mann, beugte sich von hinten über Brigitte und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ihr Gesicht erhellte sich wie ein rosa Lampion, in den eine Kerze gestellt wurde.
"Oh, Gott sei Dank! Endlich! Ich dachte schon, sie würde dich nicht fahren lassen. Du weißt nicht, wie ich dich vermisst habe." Sie lachte und weint gleichzeitig.
"Willst du uns nicht bekanntmachen?" fragte er und tätschelte ihre Schultern.
Ich erfuhr seinen Namen und dass er der schmerzhaft vermisste Lehrer war.
"Ach, das ist die Wassermännin. Nett, Sie kennenzulernen."
"Seine Frau ist nämlich auch Wassermann," erläuterte Brigitte und rollte die Augen.
Ich blieb noch zehn Minuten, dann ging ich auf mein Zimmer, packte meine Sachen und fuhr heim. Wie gesagt: man sollte die späten Freunde wie rohe Eier behandeln, Anteil nehmen, ermutigen und Kompromisse schließen. Aber wenn sie astrologisch werden, rate ich zur Rolle rückwärts, zum beiderseitigen Vorteil und um Schlimmerem vorzubeugen. Auch wenn irgendeine Frau Dr. G. missbilligend den Kopf schüttelt.
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