Romanze bei Mondschein am See

Es ist nach Mitternacht, um diese Zeit ist die Straße vom Blausee zur Stadt tot. Doch in dieser Nacht bewegt sich etwas auf der linken Spur. Ein junger Mann läuft bergabwärts, die Hände in den Taschen; an Handschuhe hat er nicht gedacht. Mitten in der Nacht die 25 Kilometer vom Blausee zur Stadt laufen zu müssen, war in seinem Plan nicht vorgesehen. Der Plan war eigentlich, die Nacht in Gesellschaft zu verbringen. In weiblicher Gesellschaft. Aber manche Abende verlaufen außerplanmäßig. Der junge Mann heißt Stephan. Ab und zu legt er den Kopf in den Nacken, ohne stehenzubleiben, und schaut in die Sterne. Unter anderen Umständen wäre es eine Nacht von außergewöhnlicher Schönheit.

Er fragt sich, wie es so weit kommen konnte.

***​

Das Date, von dem er kommt, heißt Martha. Er hat sie auf Tinder kennengelernt, heute Nachmittag erst. Als er durch ihre Bilder klickte, war sein erster Gedanke, dass sie eines jener Matches sein musste, die nur zustande kommen, weil er auf Tinder immer nach rechts wischt. Trotzdem redete er sich ein, das ein oder andere an ihr sei doch gar nicht so übel. Im Grunde wusste er von Anfang an, dass sie nicht sein Typ war. Warum hatte er, obwohl alles dagegensprach, nicht Nein gesagt?

Zu sagen, sie sei ,,nicht sein Typ‘‘, ist nur die halbe Wahrheit. Wo, wenn nicht hier, mitten in der Nacht bei minus zehn Grad im Wald, Stunden vom nächsten Haus entfernt, ist der Ort, endlich ehrlich zu sein? Für heute soll genug sein mit Verharmlosungen wie ,,nicht sein Typ‘‘ und anderem pseudotoleranten Gerede davon, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Wer so tut, als komme alles schon irgendwie in Ordnung, der hat einfach nicht den Mut zuzugeben, dass die Ressourcen, genauer gesagt die Potenz, in anderen Begehren zu wecken, ungleich verteilt ist. Es gibt Menschen, die sind nicht schön. Und Martha ist einer dieser Menschen. Und trotzdem hat er sich mit ihr getroffen.

Er kennt Frauen wie sie. Sie sind verzweifelt. Sich rar zu machen, kompliziert zu sein, so wie andere, schönere Frauen, das können sie sich nicht leisten. Weil es ihm völlig egal war, was sie von ihm dachte, schrieb er als vierte Nachricht einen anzüglichen Kommentar zu ihrem BH, der unter dem weißen Oberteil durchschimmerte. Zu mehr Geduld oder einem subtilen Flirt fehlte ihm die Motivation. Kein behutsames Abklopfen wie sonst, willig oder nicht, das wollte er hier und jetzt schwarz auf weiß. Martha reagierte nicht empört, hüllte sich nicht in eisiges Schweigen wie andere Frauen an ihrer Stelle. Stattdessen antwortete sie mit einem ;). Was einem Geständnis gleichkam, dass sie für alles zu haben war.

Während er mit ihr schrieb, saß Stephan in der Vorlesung und musste höllisch aufpassen, dass seine Sitznachbarn nicht mitbekamen, mit wem er da anbandelte. Mit einer wie Martha durfte man nicht in Verbindung gebracht werden. Was würden die anderen sonst von ihm denken? Wären sie erschrocken, wie weit er offensichtlich bereit war, seine Ansprüche herunterzuschrauben für ein bisschen körperliche Liebe? Sie würden ihn für notgeil halten. Und war ,,Notgeilheit‘‘ nicht die treffendste Bezeichnung für seinen derzeitigen Zustand? Die letzten Wochen waren jedenfalls ziemlich ernüchternd gewesen.

Ob sie heute noch Zeit habe?

Freitag und Samstag arbeite sie in einem Souvenirladen am Blausee, aber ab 7 Uhr sei sie frei. Ihr Onkel besitze ein Haus am See, zu dem sie den Schlüssel habe. Nochmal ;).

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Erst als die Lichter ihn erfassen und eine bizarre Kopie seiner selbst auf den Asphalt werfen, bemerkt Stephan das Auto. Hastig weicht er auf den Straßenrand aus, kneift die Augen gegen die Scheinwerfer zusammen und reckt den Daumen in die Höhe. Der Fahrer registriert, da bewegt sich etwas auf der Straße – ein Reh? -, er stellt das Fernlicht ab. Das Auto verlangsamt, Stephan spürt schon die Wärme der Autoheizung – gerettet! Da, auf einmal, beschleunigt es wieder. Der Fahrer hat erkannt, dass es sich bei der einsamen Gestalt um einen jungen Mann handelt, und sucht das Weite, bevor der Psychopath ihn ermorden kann.

***​

Der Augenblick, da er aus dem Bus stieg und sie sah, war schmerzhaft. Alle Befürchtungen, die auf der einstündigen Herfahrt hierher seine Finger hatten zittern lassen, wurden aufs Schlimmste bestätigt. Offensichtlich hatte sie viel Zeit, Geld und Einfallsreichtum in ihr Erscheinungsbild investiert. Die braunen Haare waren nicht nur künstlich gelockt, sondern zu einer aufwändigen Frisur aufgetürmt worden mit kunstvollen Zöpfen und einer Gruppe Strähnen, die bewusst ins Gesicht hängen gelassen wurden, um sie vergeblich zur Seite zu pusten, was süß wirken sollte. Eine Frisur dieses Kalibers erforderte eine Menge Expertise, war sie etwa auf die Schnelle noch bei einem Friseur gewesen?

Das Problem war, dass ihre hautengen Hosen nicht die Geschmeidigkeit ihrer Beine zur Geltung brachten, sondern nur das Fett mühsam in Schach hielten wie die Hülle einer Wurst; die Hosennähte drohten jeden Moment zu platzen. In ihrem Gesicht die Backen nahmen viel zu viel Raum ein und quetschten die Augen förmlich zusammen, wodurch der Vergleich zu Schweinsäuglein sich aufdrängte. Außerdem reichte selbst die großzügigste Puderschicht nicht aus, die Pickel auf Wangen und Stirn zu verbergen. Rot und knotig behaupteten sie unerbittlich ihre Präsenz. Über diesem Gesicht war jede Frisur verdammt dazu, wie ein gerupfter Salatkopf auszusehen. Kurz, der Aufwand, den sie betrieben hatte, um ihn aufzureizen, betonte nur eines: Ihren unabänderlichen Mangel an Schönheit.

Hätte eine andere Frau in dieser Aufmachung vor ihm gestanden, eine mit Kurven und Formen, die sozial akzeptierter waren, Stephan wäre erblasst vor Ehrfurcht und Minderwertigkeitsgefühlen. Prompt hätte die Selbstüberwachung eingesetzt: Wirkte sein Lächeln entspannt genug? Strahlte seine Haltung das erwünschte Selbstvertrauen aus? Martha löste nichts von alldem aus. Stephan setzte ein Lächeln auf, umarmte sie zur Begrüßung und hoffte, dass sie von seiner Enttäuschung nichts mitbekam.

Sie beschlossen, zunächst eine Runde am See zu laufen. Weil er das Gefühl hatte, etwas wiedergutmachen zu müssen, verhielt Stephan sich extra warm und zuvorkommend. Beim Einbiegen in den Seeweg berührte er sie kurz am Rücken. Martha durchlief ein Schauer. Die Art, wie sie ihn anlächelte von der Seite her, verriet einen Hunger nach Berührung und Liebkosung, der Stephan erschütterte. Was hatte er hier losgetreten?

Er beobachtete sich selbst, wie er leidenschaftslos eine Konversation startete. Hätte er sie begehrenswerter gefunden, dann hätte er sich angestrengt, mit etwas Kreativerem einzusteigen als den klassischen Fragen à la ,,Was studierst du?‘‘. Unkonventionelle Gesprächseinstiege kamen gut an; noch besser kam es an, wenn es einem gelang, direkt am Anfang die Frau zum Lachen zu bringen, zum Beispiel mit einer verrückten Frage (,,Würdest du mit mir im See eisbaden?‘‘). Doch mit Ernüchterung stellte er fest, dass er nicht den Ehrgeiz hatte, Martha zu beeindrucken.

Sie studierte Englisch und Französisch und wollte Lehrerin werden. Auf eine sympathische Art war sie bodenständig. Sie sprach nicht davon, möglichst bald ein Auslandssemester in London oder Paris machen zu wollen, sondern erzählte von ihrem Praktikum am Gymnasium. Für die ,,Coolen‘‘ sei ihr Name – Frau Dick – natürlich eine Schatzgrube gewesen. Nicht selten habe sie sich zur Tafel drehen müssen, damit die Übeltäter nicht sahen, wie sie selbst grinsen musste. Zum Abschied habe die ganze Klasse, einschließlich der ,,Coolen‘‘, ihr ein Abschiedsplakat überreicht. Da sei ihr klargeworden, dass diese Schüler Frau Dick wirklich gernhatten.

Stephan ertappte sich bei dem Gedanken, ob die Scherze auch ihr Gewicht zum Gegenstand gehabt hätten, und hätte sich dafür am liebsten auf der Stelle selbst geohrfeigt.

Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, dann Verbitterung stellte er fest, dass Martha die seltene Fähigkeit der Selbstironie besaß. Verbitterung, weil es an seiner Begeisterungslosigkeit ihr gegenüber nichts änderte. Ihr Lachen hatte etwas Ansteckendes, es kam tief aus der Brust und erinnerte an eine rotbackige Wirtin mit mütterlicher Ausstrahlung. Zugleich fehlte ihm die faszinierende Komponente. Es versetzte einen nicht in Erstaunen, es legte nicht diesen Schalter um, der einen plötzlich aufmerken lässt. Der Gegenstand ihres Lachens war derselbe wie bei anderen, wenn nicht sogar niveauvoller, einzig die Mittel, die ihm zur Verfügung standen – Lippen, Wangen, Zähne -, waren begrenzt.

Sie strengte sich an. Im See waren Enten, über die geriet sie in Entzücken. Sie klatschte in die Hände und eilte zu ihnen, sie gab sich wirklich Mühe mit ihrer Begeisterung. Doch es half nichts, er fand sie nicht süß. Auf eine betont verspielte Art erzählte sie, wie sie manchmal im Supermarkt minutenlang am Gewürzregal stehenbliebe und jeden Geruch zigmal durchprobierte; ihre Freunde brächte sie damit regelmäßig zur Verzweiflung. ,,Martha‘‘, würden die rufen, ,,Martha, komm‘ jetzt endlich!‘‘ - ,,Ich will aber noch nicht!‘‘, würde sie dagegenhalten, und sie führte die trotzige Schnute vor, die sie dabei aufsetzte. Bei einer hübschen Frau hätte Stephan das süß gefunden. Ohne das bezaubernde Drumherum aber blieb, was sonst charmant und liebenswert wurde, kindlich und unreif. Mehr noch, Stephan spürte zu seiner eigenen Überraschung, wie es ihn regelrecht aggressiv machte. Sie versuchte, eine schöne Frau zu imitieren, und am liebsten hätte er sie am Arm gepackt und angebrüllt, dass sie sich nur selber bloßstellte, dass sie nie in ihrem Leben schön sein würde. Er ekelte sich vor sich selbst.

Als ihnen ein Schäferhund entgegenkam, rückte Martha an ihn heran und suchte Schutz. Anstatt den Arm um sie zu legen und sich zwischen sie und das Tier zu stellen, sagte Stephan bloß: ,,Der tut doch nichts.‘‘ Es war ihm so herausgerutscht, doch es klang knurrender als beabsichtigt. Das tat ihm leid. Bei einer Anderen, Schöneren hätte er die willkommene Chance genutzt und Körperkontakt hergestellt. Bei Martha fand er ihr Heranrücken aufdringlich.

Es war ein klarer Winterabend. Keine Wolken am Himmel, der See spiegelte schon den Mond. Voll stand er über den nahen Gipfeln und entlockte den Schneehängen ein jungfräuliches Schimmern. Es hatte leicht zu schneien angefangen, die Flocken glitzerten im gelbwarmen Licht der Laternen. Sie hatten den Seeweg fast für sich allein. Unter einer der Laternen hätte er sie am Arm nehmen, behutsam zu sich drehen und küssen können. Es wären der perfekte Ort, der perfekte Moment für den ersten Kuss gewesen, hier draußen in der Winternacht. So hätte es sein können, wenn er seinen Blick für das Äußere hätte abschalten können. Hätte Martha ein bisschen weniger Charakter und etwas mehr Schönheit gehabt, dann wäre sie infrage gekommen. Um wieviel gerechter die Welt wäre, wenn man willentlich entscheiden könnte, wen man begehren will und wen nicht. Um wieviel mehr Hand und Fuß die Beziehungen hätten.

Es auszuhalten, war nicht einfach. Aber er konnte auch nicht einfach gehen. Selbst wenn er einen Weg gefunden hätte, ihr in einer schadensbegrenzenden Weise zu vermitteln, dass er das Date abbreche, wäre er nicht sicher gewesen, das Richtige zu tun. Jetzt war er hier, er hatte eine einstündige Busfahrt auf sich genommen, und noch viel wichtiger, er war darauf eingestellt, heute Abend zum Zug zu kommen. Endlich wieder. Das letzte Mal lag Wochen zurück, seitdem hatte er es versucht, einige Male, nichts hatte funktioniert. Abend um Abend die gleiche Prozedur – duschen, Atem prüfen, zur Party und gut drauf sein -, nur um irgendwann viel zu spät allein in seinem Bett zu landen, einen weiteren Tag Frustration und einen ordentlichen Kater in Aussicht. Sie hatten ihn kleingekriegt. Er kapitulierte. Er war, weiß Gott, nicht in der Position, wählerisch sein zu können.

Bei der nächsten Pizzeria schlug er vor, etwas zu essen. Sie wählte einen Salat und erklärte, gerade auf Diät zu sein. Wann immer er vergaß, dass er hier war, um mit dieser Frau zu schlafen, und sie einfach nur zwei Menschen waren, die eine ganz normale Unterhaltung führten, fiel ihm auf, wie gut man mit ihr reden konnte. Ihre Meinungen waren nicht vorhersehbar wie bei so vielen anderen, sie gab nicht bloß vorgestanzte Formeln wieder, die sie irgendwo aufgeschnappt hatte, sondern dachte gerne über viele Themen nach und scheute nicht davor zurück, ihren Standpunkt entschieden zu vertreten. Er kam sich so undankbar vor. Diese Frau hatte jemanden verdient, der sie wirklich zu schätzen wusste, dem es um den Menschen ging und nicht um einen flachen Bauch und schöne Beine. Anstatt sein Glück kaum fassen zu können, endlich eine Frau getroffen zu haben, die klug war, Humor hatte und nicht auf Händen getragen werden wollte, sondern auf eigenen Beinen stehen konnte, dachte er nur an das Eine, das ihr fehlte, körperliche Schönheit. Hier saß er, in einem warmen Restaurant mitten in der idyllischsten Winterlandschaft mit einer Frau, die ihn wollte, die keine Spielchen mit ihm spielen würde und sich unfassbar um ihn bemühte; und er, kleingeistig und armselig, fragte sich, was die Leute von ihm dachten. Hatte Angst, sie könnten sie für ein Paar halten. Er war ihrer nicht würdig. Nie wieder hatte er das Recht, sich über schlechte Behandlung vonseiten des anderen Geschlechts zu beklagen; nach seiner Ablehnung gegenüber Martha war er und nur er schuld an seiner Einsamkeit.

,,Du hast schöne Haare.‘‘, sagte er. Er sagte es, weil er fand, dass sie ein Kompliment verdient hatte. Als er die Röte in ihrem Gesicht sah, das Leuchten in ihren Augen, bereute er es gleich wieder. Nutzte er sie aus? Was war das hier eigentlich für sie?

***​

Und er? Was sucht er? Darüber denkt er nach, während die Kälte jeden ungeschützten Zentimeter seiner Haut mit Rasierklingen bearbeitet. Bis vor Kurzem hielt er die Antwort für selbstverständlich: Für Sex, weil er Sex braucht, weil er sehr schlecht ohne Sex auskommt. Aber darauf könnte er verzichten, wenn er dafür morgens aufstehen und die schlafende Frau in seinem Bett betrachten könnte. Er würde ihr Gesicht auf seinem Kissen beobachten und ihren Körper, den ein Traum in Schräglage gebracht hat. Sie dort liegen zu sehen und beim Schlafen zu betrachten, mehr will er nicht. Dann würde er aufstehen und Frühstück machen. Aber leise, um sie nicht aufzuwecken.

***​

Nachdem sie gezahlt hatten, schlugen sie die Richtung der Häuser am Hang ein. Ohne dass jemand es aussprechen musste, steuerten sie ihr Haus an – das Haus ihres Onkels, zu dem sie den Schlüssel hatte. Er war nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber merkwürdigerweise hatte er nicht das Gefühl, in den Verlauf des Abends eingreifen zu können. Wenn er nur lang genug wartete, würde die Anziehung vielleicht doch noch kommen?

Das Haus ihres Onkels war eine Ferienhütte aus Holz und besaß einen Garten. Morgens könnte man dort in der Sonne frühstücken. Eine Glasfront blickte auf das Panorama des Sees und der umliegenden Berge. Stephan setzte sich auf die Couch davor und hatte trotzdem nicht das Gefühl, über allem zu thronen. In einem Kamin knackten Holzscheite. Sie musste das Feuer in Gang gesetzt haben, bevor sie losgegangen war, um ihn abzuholen, sodass eine mustergültige Glut den Raum mit wohliger Wärme füllte. All das war so wie im Bilderbuch arrangiert, dass es körperlich wehtat.

Martha sank auf die Couch neben ihn und drückte ihm ein Glas Wein in die Hand. ,,Auf diesen Abend!‘‘, sagte sie mit geröteten Wangen.

Er spürte den Wein, den sie sich beim Essen geteilt hatten. Der Alkohol schnitt seiner Nervosität die Spitzen ab, dafür war er dankbar. Die warme Luft fühlte sich an wie eine chemische Lösung, wenn er die Augen schlösse, würde er aufgelöst, erlöst.

,,Möchtest du ein bisschen Musik hören?‘‘ Martha stand auf und schaltete die Stereoanlage ein. Teure Boxen generierten einen weichen Gitarrensound, zu dem eine gefühlvolle Männerstimme Liebesgeständnisse hauchte. Das war zu viel! Der Mond, der sich im See spiegelte, der Kamin, das Schafsfell davor und jetzt die Musik – jetzt lag es nur noch an ihm, den letzten kleinen Schritt zu tun und sie zu küssen. Es gab keinen Widerstand zu überwinden, es gab nur Türen, die weit offenstanden.

,,Hast du was Härteres da?‘‘, fragte er und hielt das Weinglas hoch.

,,Du meinst, sowas wie Whiskey?‘‘ Der Widerwille in ihrer Stimme verriet, dass sie schon verstand. Aber sie gab sich einen Ruck und sagte: ,,Mein Onkel hat was da.‘‘ Sie stand auf und kehrte mit einer Flasche Obstschnaps zurück. ,,Das ist alles, was ich finden konnte.‘‘

,,Das ist perfekt.‘‘, antwortete Stephan. In diesem Augenblick durchflutete ihn eine unbändige Dankbarkeit. Zum Glück gab es immer noch Menschen wie sie, die nicht selbstsicher waren, die bescheidene Ansprüche hatten und auch dann bereit waren, etwas für andere zu tun, wenn sie selbst nichts davon hatten. Sie gehörte einer aussterbenden Spezies an. Ihm stiegen Tränen in die Augen, er blinzelte sie weg und schenkte sich rasch ein Schnapsglas ein.

Ganz kurz, kürzer als eine Sekunde hatte er den Wunsch verspürt, sie zu küssen. Aber er hatte den Absprung verpasst, und schon war der Moment vorüber. Um Zeit zu gewinnen, zettelte er ein Gespräch über die Eigenherstellung von Bier an, obwohl er keine Ahnung davon hatte und sich nichts Öderes vorstellen konnte, als seine Freizeit mit Fragen wie jener der optimalen Gärungsdauer zu verschwenden. Martha zog tapfer mit. Vom Thema Bier kamen sie auf die Vor- und Nachteile einer Legalisierung von Marihuana, ein Thema, das ihn schon immer kaltgelassen hatte. Jedes Mal, wenn eine Pause entstand, spürte er ihre Erwartung. Und jedes Mal, wenn er von Neuem das Gespräch in Gang brachte, rechnete er damit, dass sie nun endgültig die Nase voll hätte, ihn anbrüllte, was ihm einfiele, und ihm mit bebendem Finger die Tür zeigte. Natürlich, leider, nahm sie es hin. Nur ihre Stimme, die mit jeder Minute matter wurde, verriet ihre innere Verfassung.

Ihre Hand hatte sie auf halber Strecke zu Stephan hingelegt, da lag sie und hielt sich bereit, sie sah durchaus entschlossen aus, dort liegenzubleiben und sich bereit zu halten, wenn es sein musste, bis in alle Ewigkeit. Ihr schwarzes Top ließ die Arme frei; Stephan konnte sich Assoziationen mit Fleischkeulen in einer Metzgerei nicht erwehren. Würde es gehen, wenn er die Augen schlösse? Was war richtig daran, es zumindest zu versuchen? Was war falsch daran, zu gehen?

Um den fünften Schnaps einzugießen, beugte er sich vor, nahm die Flasche, schraubte sie auf, setzte sie ab, und in derselben Bewegung lehnte er sich zurück und küsste sie. Er war selbst überrascht. Er registrierte, wie sie den Mund öffnete und seiner Zunge Einlass gewährte. Voller Freude stellte er ein Aufkeimen von Erregung fest, um jeden Preis musste er das beibehalten und behutsam pflegen. Außerdem nahm er den Geschmack von Wein und eine Mischung aus süßlichem Parfüm und Schweiß wahr. Weiter, er durfte sich nicht beirren lassen, er spürte, wie eine Erektion im Entstehen war, keine Zeit zu verlieren! Er sank tiefer zu ihren Brüsten. Sie seufzte. Kurz trafen sich ihre Blicke. Sie sah ihn an, mit weit geöffneten Augen, wie ein Wunder, das sie kaum fassen konnte.

Erst bei Stephans Hand auf ihrer Brust spürte sie, wie sehr sie das gebraucht hatte. Klar, sie war berührt worden, von ihrer Mutter zum Abschied, von Freundinnen zur Begrüßung, im überfüllten Zug von einem Passanten. Aber was sie brauchte, war berührt zu werden aus Begehren. Dazu hatte sie ihren Körper. Solange sie von keinem Mann begehrt und berührt wurde, machte ihr Körper keinen Sinn. Jetzt war Stephan da, und Stephan streichelte ihre Brüste, umschloss sie mit der Hand und leckte die Spitzen. Er ging tiefer und knöpfte ihre Hose auf.

Er hatte versucht, den Geruch zu ignorieren. Beim Küssen vermischte der Weingeschmack in ihrem Mund sich mit seinem Schnapsgeschmack und ergab eine saure Mischung. Das ließ sich nicht vermeiden und war in Ordnung. Doch sie schwitzte sehr stark, und das Parfüm, das sie in rauen Mengen über den gesamten Körper verteilt hatte, neutralisierte den Schweißgeruch nicht, sondern verlieh ihm erst recht etwas Viehisches. Selbst damit hätte er sich arrangieren können, aber nicht mehr in dem Moment, da er ihre Hose herunterzog und ihr Geschlecht roch. Er hatte nicht gewusst, dass eine Frau so riechen kann.

Er fuhr zurück und schnappte nach Luft. ,,Es tut mir leid, ich kann das nicht, ich gehe jetzt.‘‘ Das war alles, was er herausbrachte. Nicht einmal einen Abschiedsgruß schaffte er, bevor er die Tür zuzog. Die Musik spielte weiter, der perfekte Soundtrack zu einer Romanze bei Mondschein am See.

***​

Kurz vor der ersten Vorortsiedlung hält ein alter Mann in einem zerbeulten Volvo an. Stephan ist dankbar, dass der Mann nicht fragt, was ihn an einem Freitagmorgen auf die Landstraße verschlägt. Der Mann bietet ihm eine Zigarette an. Obwohl er Nichtraucher ist, nimmt Stephan dankend an.

Er erzählt niemandem von Martha. Er hält es für das Beste, den Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen.
 



 
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