Friedrichshainerin
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Zu Anfang ein Zitat aus einem alten Schinken, nämlich aus „Krieg und Frieden“. Fürst Andrej zu Natascha: „Das Wichtigste ist die Liebe“.
Der Film „Closer“, das ist der, wo Jude Law denkt, dass Natalie Portmann ihm verziehen hat, dass er was mit Julia Roberts hatte - am Ende hat er ganz schön blöd dagestanden - lief kürzlich im Fernsehen, und manches davon kam mir sehr bekannt vor.
Eigentlich fand ich ihn gar nicht so gut, aber er war zwischen den immergleichen Kriminalfilmen, die sie jetzt in einer Tour zeigen, wie eine grüne Oase in der Wüste. Und mit der letztgenannten Actrice hatte ich vorher noch nie einen Film gesehen, der mir gefiel. Immer nur solche blöden Beziehungskomödien. Ich weiß nicht, was alle an ihr finden.
Der Film geisterte mir ewig im Kopf herum und brachte mich auf die Idee, über uns zu schreiben.
Einmal, als meine S-Bahn gerade anfuhr, sah ich auf dem Bahnsteig, der draußen an mir vorbeiglitt, einen Jungen und ein Mädchen sitzen. Eigentlich saß nur er, und sie stand vor der Bank. Beide um die Achtzehn. Der Junge erinnerte mich an ihn, und das Mädchen sah mit ihren langen Haaren aus wie ich damals. Bloß, dass ich zu der Zeit, als wir zusammen waren, älter war als sie. „Das sind ja ich und er“, dachte ich. „Macht es bloß nicht genauso wie wir“.
Er war siebzehn, als wir uns begegneten. Davon ahnte ich nichts, da er älter aussah.
Als sein Kumpel einmal zu mir sagte: „Ist ja ungerecht. Mich fragen sie immer nach dem Ausweis, obwohl ich volljährig bin. Er dagegen ist erst siebzehn und bekommt überall Bier“, war ich geschockt. Ich hätte ihn auf zweiundzwanzig geschätzt.
Das Thema Alter mieden wir beide in der nächsten Zeit. Er hatte wohl Angst, dass ich Schluss mache, wenn ich erfahre, wie alt er ist. Und mir ging es umgekehrt genauso, denn ich wurde im Gegensatz zu ihm, der viel erwachsener wirkte als seine Freunde, immer für jünger gehalten.
„Nicht noch eine Liebesgeschichte“, werden jetzt viele denken und sich genervt ab - und anderem zuwenden. „Muss das sein?“ Mein Argument: „Was wohl interessiert viele Leute unter den Werken berühmter Autoren der Vergangenheit am meisten? Was hat die Zeiten überdauert? Was von ihren Sachen wird heute noch am häufigsten gelesen.
Leute, unterschätzt bloß nicht die Love Storys! Noch heute sind unter „uralten Schinken“ bei amazon viele Rezensionen. Turgenjews: Erste Liebe; Fitzgerald: Der große Gatsby; Eine blassblaue Frauenschrift von Franz Werfel; Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig sind da gute Beispiele. Über letztere, die ich mal als Lesung im Radio gehört habe, bin ich gar nicht drüber weg gekommen.
Und dann sind die großen Liebesgeschichten der Literaturgeschichte ja meist solche, die schlecht ausgehen. Wen reißt es schon vom Hocker, wenn alles seinen Gang geht. Liebesbeziehungen werfen ein Schlaglicht auf die Gesellschaft, da sie sehr fragil und extrem abhängig von äußeren Umständen sind.
Auch von den großen Romanen, die sich eigentlich um andere Themen drehen, haben sich die jeweiligen Lovestorys bei mir am tiefsten eingeprägt. Aus „Krieg und Frieden“ die zwischen Natascha und Fürst Andrej. Er hat ja schließlich auch ein Auge zugedrückt und Natascha verziehen, als sie mit einem Anderen durchbrennen wollte.
Aber ich will nicht vom Thema abschweifen, sondern von Anfang an erzählen.
Sieben Jahre Altersunterschied war ungewöhnlich.
Alle gaben der Beziehung keine Chance. Auch M, ein Berliner Kumpel von ihm, der jetzt, da ich die Freundin von seinem Kumpel war, bei mir aus- und einging. M war übrigens vier Jahre älter als er.
Ich sollte mich darauf vorbereiten, dass er, der alles noch vor sich hat, über kurz oder lang seiner Wege geht. Ich hatte eigentlich immer gedacht, dass sich unter uns unangepasste Geister tummeln. Stattdessen traf ich auf finsterstes Spießertum. Mit so einer latenten Frauenfeindlichkeit hatte ich gar nicht gerechnet in diesen Kreisen.
Er war übrigens aus einer anderen Stadt, und wir sahen uns selten. Sein Herz hing an dieser Stadt, die vom Stahlriesen lebte. Nach dessen Abwicklung Anfang Neunzig verlor sie ein Drittel ihrer Einwohner. Dort hatte er in der Volleyballmannschaft gespielt, war mit seinem Vater ins Stadion zur werkseigenen Fußballmannschaft gegangen, die in der DDR-Oberliga war. Heute ist das Stadion ein lost place.
Ich mochte seine Großzügigkeit. Sogar, als er noch in der Lehre war, bezahlte er immer alles für mich, wenn wir irgendwo waren. Er konnte sich das leisten, da sie Zuschläge bekamen, wenn sie auf Montage waren. Manchmal, wenn er bei mir war, bestand er sogar darauf, mir Geld dazulassen. "Du wirst immer dünner", sagte er.
Mir fiel auf, dass er einen ausgeprägten Hang zur falschen Sentimentalität besaß. Irgendwie passte das nicht zu seiner Jugend. Damals ahnte ich wohl schon, dass Sentimentalität mit Brutalität zusammenhängt.
Kopfzerbrechen bereitete mir auch sein Musikgeschmack. Obwohl er in der Bluesszene seiner Heimatstadt in Sachsen, schon mit zwölf Jahren hatte ihn sein Bruder mitgenommen, groß geworden war, mochte er rührseligen Scheiß. Metal, wofür ich ein Faible hatte, hasste er geradezu.
Sein Kumpel M, den ich schon lange aus Berlin vom Sehen kannte, begann sich für mich zu interessieren. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass zwei so gutaussehende Typen gleichzeitig was von mir wollten. Natürlich ging das gar nicht, da sie Freunde waren. Ich liebte alle beide. Alles endete im Desaster, und ich stand wie Buridans Esel da, mit leeren Händen.
In unseren Hippiekreisen, im Grunde genommen männliche Netzwerke, kamen verlassene Frauen oder überhaupt Frauen ohne Mann in dieselbe Misere, dieselbe beengende Situation rein wie eine bürgerliche Ehefrau.
Sowohl die eine wie die andere war gesellschaftlich isoliert, wenn die Kontakte von ihrem Mann wegfielen, da die Freunde meist seine Freunde waren. Sogar Anita Pallenberg wurde nicht mehr bei Feten von den Rolling Stones reingelassen, als mit Keith Schluss war. Sie fiel in ein tiefes Loch und versank in Drogen. Das las ich in in einer Biografie über sie. „Freundin von ´nem Rockstar ist auch nicht die Lösung“, dachte ich bei mir.
Ich finde übrigens, dass Anita die wichtigste Frau für die Stones war. Jedenfalls haben sie in der Zeit, als sie bei ihnen mitgemischt hat, ihre beste Musik gemacht. Warum bloß hat sie nichts darüber geschrieben.
Ihre weibliche Sicht auf die Dinge hätte viele interessiert. Ich vermute, dass sie was unterschrieben hat, dass ihr das untersagte. Wenn sie sich nicht dran hielt, hätten sie ihr den Geldhahn zugedreht, und sie konnte ja schlecht in London zum Welfare Office gehen. Ich habe den Film „Mord und Totschlag“ von Schlöndorff gesehen und fand, dass sie eine begabte Schauspielerin war, mehr drauf hatte, als nur die Freundin von … zu sein. Warum ich mir darüber so den Kopf zerbreche? Hier spricht ein beinharter Stonesfan.
Andauernd will ich jemandem gefallen. Manchmal denke ich, dass ganze Leben ist ein einziges Stockholmsyndrom. Man versucht andauernd sich mit allen zu arrangieren und so zu sein, wie man denkt, dass sie einen haben wollen. „Sie versuchen auch immer, es jedem Recht zu machen“, hat der Psychofritze zu mir gesagt. Er hatte mich durchschaut. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, ein müder Typ mit Strickjacke, die an den Ellenbogen Lederflicken hatte. Das scheint ja die Dienstkleidung für Psychologen zu sein, denn auch Fraisier von „Cheers“ lief immer so rum.
Ich hatte eigentlich den Eindruck, er interessiert sich gar nicht für mich. Er schrieb immer mit dem Bleistiftstummel etwas auf einen Zettel. Was wohl? Das ist total verrückt bin?
Mit der Schreiberei ist es ja noch belämmerter. Ständig versucht man sich bei jemandem einzuschmeicheln, den man gar nicht kennt, imaginäre Leser zu umgarnen.
Wenn ich an ihn denke, dann erwische ich mich dabei, wie ich wieder in mein altes Ich zurückfalle und mich unwillkürlich bemühe, die zu sein, die ich damals sein wollte. Dann übermannt mich wieder der Anspruch, den ich mal hatte: Gut drauf zu sein. Was immer das auch ist. So gut drauf, wie meiner Meinung nach irgendwelche Typen, denen ich gefallen wollte, mich haben wollten. Das will ich heute schon lange nicht mehr.
Momentan liege ich nur noch im Bett, werde immer dicker und lass mir vom Lieferservice Sahnepuddings liefern. Bald passe ich nicht mehr durch die Tür durch, und die Feuerwehr muss mich durch das Fenster abseilen. So stand es mal in der BZ über eine Frau.
Ich habe natürlich übertrieben, aber ich wollte damit bloß rüberbringen, dass ich das „Gut drauf sein“ wirklich völlig an den Nagel gehängt habe.
Meine Freundin aus der Pfalz, die selber essgestört ist, kennt sie. Ich find, wenn sie schon auf Totalverweigerung geht, und es ist ja schon frech, dass sie einfach ganze Torten isst, wo doch schon jedes Kind weiß, dass man schlank sein muss, um dem Mann zu gefallen, und dass man den Männern gefällt, ist überlebensnotwendig, dann hätte sie es wenigstens so machen können wie die Schwester von diesem berühmten Amidichter, wie hieß er noch gleich, ach ja, es war Alice James, ihr Bruder ist Henry James, die auch einfach nicht mehr aus dem Bett aufstand, und deren Tagebuchaufzeichnungen ein Stützpfeiler des Feminismus sind. Leider gibt es sie nicht auf Deutsch. Ich wurde auf sie aufmerksam, weil die Theatergruppe Ratten 07 mal ein Stück, das von ihr handelt, inzenierte.*
Als mit uns Schluss war, hatte ich das Gefühl, dass er dachte: "So jemanden wie mich bekommst du niemals wieder". Er hatte nicht so ganz unrecht. Im Grunde hatte er geahnt, dass ich ihn liebte, und dass es mit dem Anderen sowieso nicht lange gut gehen würde. Er durchschaute mich und kannte mich besser als ich mich selber.
Manchmal denke ich, ein Grund dafür, dass ich mich von ihm zu lösen versuchte, war vielleicht auch, dass sich mein Selbsterhaltungstrieb meldete, da ich instinktiv Angst hatte, dass seine starke Persönlichkeit mich plattmachen würde wie eine Briefmarke. Er war sehr dominierend. Manchmal kam es mir so vor, als wenn er mich im Grunde nicht für voll nahm.
Als ich seine Mutter kennenlernte, wurde mir klar, wie er zu seinem starken Ich gekommen war. Sie betete ihn, der ihr auch sehr ähnlich sah, an. Mich beachtete sie übrigens gar nicht. Sie, die drei Söhne im heiratsfähigen Alter hatte, hatte schon viele Mädels kommen und gehen sehen. "Das wird auch nicht die Letzte sein", dachte sie bestimmt.
Ich vor Jahren einmal zu einer Freundin, als ich ihr von unserem Wiedersehen an diesem Ostern 90, dem ersten nach der Wende, erzählte: „Und dann habe ich mich einfach an die Straße gestellt, während er noch schlief und bin nach Berlin getrampt. „Du bist verrückt, sagte sie mit Bewunderung in der Stimme und lachte. So lustig ist das aber gar nicht gewesen. Ganz im Gegenteil.
Irgendwas an ihrem Tonfall machte mir klar, dass sie oberflächlich war. Ich sah plötzlich das Ende unser Freundschaft voraus.
So kam es dann auch. Irgendwann hatte sie wohl beschlossen, dass sie mich nicht mehr braucht. Auch wenn man so etwas vorher ahnt, steht man doch noch lange nicht drüber, wenn es eintrifft, und es ist trotzdem bitter, wenn man bei einem zufälligen Treffen mit fadenscheinigen Argumenten stehen gelassen wird, und diejenige, mit der man früher über Gott und die Welt gelacht hat, einen am Telefon abwimmelt.
Eigentlich dachte ich, dass aus ihr, einer sehr intelligenten Powerlesbe, mal was ganz Tolles wird. Sie war eine der interessantesten Frauen, die mir je über den Weg gelaufen sind. Schließlich sind nicht umsonst die ganzen berühmten Schriftstellerinnen und Musikerinnen Lesben, wie auch Mary MacLane, die feministische Werke verfasste. Kaum merken sie, dass sie auf Frauen stehen, fangen sie an zu schriftstellern oder zu musizieren. Natürlich nicht alle.
Wahrscheinlich wollte sie aber nur ein ganz normales Leben führen, und es zog sie ins Kleinbürgerliche. Die freimütige Frau, die kennengelernt habe, das war nur mal so´ne Phase.
Sie war ein Fan härterer Töne, wie viele Lesben.
Ich glaube, wenn sie ein Mann gewesen wäre, wäre sie so geworden wie dieser Metaller, den ich mal auf einem Konzert beobachtet habe. Es spielte gerade die beste Band, als seine Freundin, die wohl kein Fan war, zu ihm sagte: „Lass uns abhauen“. Er, ein freundlicher, intelligent wirkender Typ Ende Dreißig, wollte eigentlich bleiben, das sah man, aber er wollte keinen Ärger und folgte ihr ergeben. Er stand unter dem Pantoffel. Das schwebte ihr auch vor als ultimative Glücksvorstellung.
Während der Beziehung mit ihm habe ich über die Liebe zwei Dinge gelernt: Man kann in jemanden verliebt sein, ohne dass man was davon weiß. Womit ich M. meine und die verdrängte Zuneigung zu ihm. Wegen ihm nahm sogar die Bibel und schlug sie auf gut Glück auf und landete ausgerechnet beim Hohelied Salomons.
Die Bibel ist ein verzaubertes Buch. Du kannst sie an einer x-beliebigen Stelle aufschlagen, und was da steht, trifft auf dich zu. Vielleicht hat die Magie sich über die vielen Jahrhunderte eingeschlichen, in denen Leute sich hilfesuchend über das Buch beugten und jedes einzelne Wort des Gelesenen mit den Lippen nachformten. Oft in Extremsituationen wie kurz vor dem Fallbeil. Im Gegenzug haben sich ihre imaginären Spuren in den Seiten eingeprägt. Das Phänomen der Rückkopplung ist aufgetreten, und aus dem Buch sprechen die Stimmen der längst zu Staub zerfallenen Menschen zu einem, die im Laufe der Zeit die tausende Jahre alten Schriftzeichen mit den Augen begierig in sich aufsogen.
Falls es jemanden interessiert, wie ich im religionsabstinenten Osten zu einer Bibel gekommen bin.
Die hatte mir eine geschenkt, mit der ich im Arbeiterwohnheim zusammenwohnte. Ich hatte in der Küche mit ihr abgewaschen, und plötzlich langte sie mir eine. Das konnte man ihr nicht übelnehmen, da sie im Kinderheim aufgewachsen war. Statt, dass ich über den Dingen stand, schlug ich zurück. Ihre Brille fiel zu Boden und die dicken Gläser lösten sich. Zum Glück konnte man das reparieren. Als Versöhnungsgeschenk gab sie mir die Bibel. „Die haben mir die Nonnen im Kinderheim geschenkt“.
Und das Andere, was ich über die Liebe lernte: Man kann zwei auf einmal lieben.
Wieder zurück zu meiner Geschichte.
Zum letzten Mal hatte ich ihn nach dem Bob Dylan Konzert im Treptower Park gesehen, als er mit zwei Kumpels vor meiner Tür stand. Frühmorgens fuhr ihr Zug.
Zwei Jahre später begegneten wir uns wieder. Es war kurz nach Mauerfall. Ostern Neunzig. Kumpels schleppten mich zu einem Konzert außerhalb von Berlin. Wie fuhren mit dem Zug dorthin. Der Ort war legendär.
Dieser bekannte Bluesertreff in der Nähe der Stahlstadt wurde nur ein Jahr nach der Wende auch zu einem Lost Place. Das Gebäude verfiel und musste kürzlich abgerissen werden. Dort hatte sich seit den Siebzigern die musikbegeisterte Jugend der Gegend getroffen. Die meisten von ihnen lernten oder arbeiteten im Stahl.
An dem Abend, bei dem Konzert, das in der Nähe seiner Stadt war, und bei dem wir uns zufällig nach langer Zeit über den Weg liefen, hat er mich einfach geschnappt, als er meiner ansichtig wurde - ich hatte keine Chance, er war über eins neunzig - durch den Saal getragen und zu Presspappe zerdrückt, während der Sänger der Band „Lay, Lady, Lay, Lay across my big brass bed … Why wait you any longer for the one you love/ When he’s standing in front of you“, sang. Der Song kam im selben Jahr raus, in dem das Woodstockfestival stattfand.
Als im Frühjahr 90 die ersten Häuser in Friedrichshain von Autonomen aus Kreuzberg besetzt wurden und Cafés aufmachten, fiel eins sofort auf. Wir hörten ganz andere Musik in unserem sozialistischen Lager als die im Westen und waren noch in den Sechzigern bei Janis und Jimi. Auch ein bisschen in den Siebzigern. Aber nur der Anfang. 71,72 lasse ich noch gelten. Was danach kam, interessierte mich nicht so sehr.
In der Tschechei war die Hippiewelle ebenfalls noch lebendig, viel lebendiger als in der DDR. Bei uns ebbte das schon vor Mauerfall langsam ab. Im Westen dagegen war sie praktisch nicht mehr existent.
In den Neunzigern traf ich dort in Prag mal auf eine große Gruppe Jungen und Mädchen, alle angezogen wie Crosby-Still-Nash and Young auf dem Woodstockfestival. Sie kamen von einem Konzert im Kongresszentrum. Ein weißes Ufo, was in einem Park gelandet war. In einer Kneipe in der Altstadt von Prag sangen abends alle Bob Dylan Songs zur Gitarre. Ich kam mir vor wie in der DDR in den Achtzigern. Jetzt, im Berlin nach der Wiedervereinigung, sind mit einmal alle Dylan Fans verschwunden.
Mir hat mal ein Mädchen erzählt, wie ihre Tochter zu ihrem Namen kam. Da war sie sechzehn. Es war nach einer Fete. Alle schliefen. Sie wusste seit kurzer Zeit, dass sie ein Kind erwartete. Da sah sie, dass jemand oben an die Decke über ihr in großen Lettern Janis Joplin rangeschrieben hatte. Das nahm sie als Zeichen. Sie dachte: „So soll meine Tochter heißen“.
Ich war ein beinharter Stones und Scherben Fan. Die waren dort bei den Autonomen längst out. Ständig liefen die Dead Kennedys. Waren gerade Anfang der Neunziger total angesagt. Sie nervten mich. Das hielt mich trotzdem nicht davon ab mir von dem hinter dem Tresen, eine Kassette überspielen zu lassen.
Man wollte ja nicht als ewig Gestrige gelten. „Kannst du mir die CD aufnehmen?“, fragte ich ihn. Er machte es doch tatsächlich. Ich musste ihm aber extra eine Maxell Kassette geben, normalerweise habe ich immer die im Zehnerpack von Aldi genommen, damit er sich seine Anlage nicht an Billigteilen verdirbt.
Jetzt sollen die Kumpel ja nur noch über Anwalt miteinander reden, hat Jello Biafra mal im Fernsehen erzählt. „Schadet euch gar nichts“, dachte ich. Das ist die Rache dafür, dass ihr meine Gehörgänge immer so malträtiert habt.
Aber wieder zu mir und meinem ehemaligen Freund.
Der, der mir gerade nach zwei Jahren eben erst wiederbegegnet war, behandelte meinen Körper wie den einer Puppe, zuerst versuchte ich noch, mich zu befreien, aber gerade in dem Moment, als wir nach Bier anstanden, und er, der hinter mir stand, mich packte, sich gegen meinen Körper presste und mich in dem Gewühle mit den Rippen brutal gegen den hölzernen Tresen stieß, wurde mir plötzlich bewusst, dass mir das gefiel, und dass ich ihn liebe, und ich überhaupt nirgendwo anders mehr hin möchte.
So wie in Crónica de una muerte anunciada, mein Lieblingsbuch von Garcia Marquez, der gegen ihren Willen verheirateten Braut plötzlich klar wird, dass sie ihren Mann liebt. Aber ich glaube, sie lagen dabei im Bett. Der Roman soll übrigens auf einer wahren Geschichte beruhen. Eine Professorin hat darüber nachgeforscht und eine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben.
Nach dreißig Jahren wurden ihr Mann und die Braut, die er in der Hochzeitsnacht zurückgeschickt hatte, weil sie keine Jungfrau mehr war, doch noch ein Paar. Sie nahm ihn zurück, nachdem er ihr das angetan hatte. Sinngemäß schrieb die Wissenschaftlerin Nadia Celis: „Liebe ist der Artefakt in diesen patriarchalen Gesellschaften, der garantiert, dass die Frauen ihre eigene Selbstständigkeit und Wünsche unterdrücken und sich noch glücklich fühlen dabei.“
Eigentlich hätte Angela Vicario, die verschmähte Braut, ja zu einer Vorkämpferin für die Rechte der Frau werden müssen, zu einer Rebellin gegen die Männergesellschaft. Nichts dergleichen geschah. Sie wurde, wenn auch mit Hindernissen, eine stinknormale Ehefrau. Total angepasst. Sie weigerte sich auch mit der Autorin zu reden.
Ich habe mich immer gefragt, warum ihr frisch Angetrauter, sie eigentlich wieder zu ihren Eltern zurückgeschickt hat und nicht einfach darüber weggesehen hat, dass sie nicht mehr virgin intacta war. Schließlich hatte auch er schon seine „Erfahrungen“ gemacht. Der Grund war seine männliche Ehre. Es hätte geschehen können, dass sein Vorgänger im Dorf damit prahlt. Damit wäre sein Ansehen erschüttert gewesen.
Last uns nach dem kurzen Exkurs über kolumbianische Literatur wieder zum Ausgangspunkt, dem Gasthof in Sachsen, in dem das Blueskonzert war, zurückkehren.
Eine halbe Palette Bier goss er mir übrigens auch noch über mich rüber. „Entschuldigung“, murmelte er schuldbewusst. „Ach, nicht so schlimm“, wehrte ich ab. Dabei war ich pitschnass. Aber das war mir völlig egal in dem Moment.
Ich war in Gedanken ganz woanders und völlig beschäftigt mit meiner wiedergefundenen Liebe, ich plante sogar, mit ihm nach Bayern auszuwandern, wo er seit kurzem arbeitete, da entspann sich plötzlich um mich herum eine Prügelei. Zutreffender wäre Saalschlacht. Sie hatte wohl auch etwas mit der Zeit damals zu tun.
Es war das erste Ostern nach der Wende. Jeder spürte, Veränderungen lagen in der Luft. Eine Welt ging gerade unter. Eine neue war noch nicht da. Bald würden die ersten Betriebe schließen, das Stahlwerk als erstes, und die Stasiakten geöffnet werden. Unsere Bluesszene, der ich und mein Freund angehörten, war sehr davon durchsetzt. Ehemals gute Kumpels würden nie wieder miteinander reden.
Massenhaft würde die Jugend wegen Arbeit in den Westen gehen. Sein Vater, seine Brüder und viele von seinen Kumpels waren schon dort. Sein jüngster Bruder hatte schon ein feuerrotes Westauto. Sogar das alte Wirtshaus, wo wir waren, würde schon in einem Jahr schließen. Diese Vorahnung erzeugte eine Spannung, die sich in einer Massenschlägerei entlud.
Eine bekannte Schlagersängerin von uns, ausgerechnet sie ging mir unter den ganzen Schlagerfuzzis am meisten auf den Sack – der Horror hat einen Namen, auf ihrer Internetseite steht: das ist Lebenslust, Freude am Gesang und an der Show. Ihre Herzlichkeit, ihr Charme und ihre ... , das lässt ja schon Schlimmes befürchten - hat mal in einer TV-Sendung das Treffendste über die Wende gesagt, was ich je gehört habe: „Wir alle haben einen Identitätsverlust erlitten.“ Diese Frau galt als die Intellektuelle unter den Schlagersägern. Vielleicht war sie das auch. Dann muss sie ja mächtig unter ihrer Zwiegespaltenheit gelitten haben, denn die Texte ihrer Songs waren das Verlogenste überhaupt. Das durchschaute sie bestimmt. Es ist schon schwierig, wenn man den Quatsch, den man macht, selber nicht ernst nehmen kann.
Irgendeiner hatte die Prügelei angezettelt, und mit einmal schlug jeder auf jeden ein. Ich traute meinen Augen nicht. Der, der da wie von Sinnen einen zierlichen Sechzehnjährigen rhythmisch mit dem Kopf gegen das dicke Rohr hämmerte, das in dem offenen Graben vor dem Haus lag - Die Bauarbeiter waren wohl ins Wochenende gegangen und hatten ihre halbfertige Arbeit liegenlassen – konnte nicht er sein. „Scheißpunk“, rief er noch, als seine Kumpels ihn endlich von dem Burschen, der fast noch ein Kind war, weggezerrt hatten. „Dabei ist er doch selber so´ne Art Punk“, dachte ich.
Da hatte er sich den Schwächsten rausgepickt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte ihn überschätzt. Er hatte seine Aggressionen nicht im Griff. Er versuchte Frustrationen mit Gewalt abzubauen. Und ich hatte ihn immer für stark gehalten.
Der Junge, den er mit dem Kopf gegen das Rohr geschlagen hatte, sah vollkommen verstört aus. Er verstand die Welt nicht mehr. Da kommt er mit seiner Freundin in eine vermeintliche Oase der Freiheit, der private Gasthof, in dem das Konzert stattfand, war eine bekannte Hippiehochburg in Sachsen, heute wie gesagt auch ein Lost Places, und dann wird er ausgerechnet da verkloppt.
Bei mir, die alles mit ansah, kamen unliebsame Erinnerungen an die Zeiten hoch, als ich von meiner Mutter ständig verprügelt wurde. Genauso wie er jetzt wie von Sinnen auf sein schwächeres Opfer einschlug, trat und schlug sie mit demselben irren Ausdruck in den Augen, den er jetzt auch hatte, auf mich ein.
„Was mache ich eigentlich hier?“, fragte ich mich. Ich fragte ihn, ob ich an seiner Neigung zur Gewalt auch irgendwie mit Schuld trage, weil ich ihn enttäuscht habe. Er erwiderte nichts darauf.
Das Ganze war für mich ein Alptraum und erinnerte mich an ein Buch, welches ich mal gelesen hatte. Die Handlung spielt im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Serbien. Eine Frau wird mit einem sehr viel Jüngeren, fast noch ein Knabe, vermählt. Es entwickelt sich mit den Jahren eine gute Beziehung zwischen den Beiden. Als er zum Manne heranwächst, wird er so wie die anderen Männer, ein unbeherrschter, aggressiver Macho, verliert sein Interesse an ihr und schlägt sie und seine Untergebenen.* Scheinbar war mein Ex genauso.
Damals in Serbien hatten die Frauen ja gar nichts zu sagen. Ihr Schicksal war in der Hand der Männer. Ob das heute da anders ist? Habe ich ein Glück, dass ich nicht in solchen patriarchalen Strukturen aufwachsen musste.
Vielleicht sollte ich das Buch meiner jugoslawischen Freundin geben. Sie ist aber eine Bosnierin. Besonders seit dem Jugoslawienkrieg herrscht zwischen den beiden Völkern, die dieselbe Sprache sprechen und Jahrhunderte nebeneinander gelebt haben, Feindschaft. „Selbst hier in Berlin ist es für Serben und Bosnier nicht möglich zu heiraten“, hat sie mir erzählt. „Dafür ist der Graben viel zu tief.“
Er ist jemand, der bei Problemen mit körperlicher Gewalt reagiert. Ein ehrlicher Faustkampf zwischen Gleichrangigen geht noch an, aber nicht das mit dem kleinen Punk. Ein schmales Handtuch. Er hätte ihn totschlagen können, wenn die Anderen nicht dazwischengegangen wären. Nie hätte ich vermutete, dass jemand, der so intelligent ist, seine Aggressionen so wenig im Griff hat. Im Grunde hatte ich keine Ahnung von Männern, wurde mir klar. So, als wenn du dich plötzlich in Shanghai wiederfindest, aber nie ein Wort Chinesisch gelernt hast.
Ich war völlig ratlos und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. „Ich habe vom Leben gar keine Ahnung“, warf ich mir vor, „sondern kenne alles nur aus Büchern.“ Auch jetzt, bei dem Anblick der prügelnden Männer, fallen mir in einer Tour nur Stellen aus Büchern oder Filmen ein. Vielleicht liegt das auch an dem eklatanten Mangel an Leuten in meiner Kindheit und Jugend, die mir etwas vorgelebt haben, an dem ich mich orientieren konnte, ein positives Vorbild gegeben haben, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als in den Regalen der Bibliothek, wo die Werke der Weltliteratur standen, danach zu suchen.
Nur ein einziges Mal hatte ich eine Frau getroffen, die, so wie ich, ihren Kopf gestopft voll mit Büchern trug. Ein Punkermädchen, das mir mal während einer Spätschicht bei Narva, einem Großbetrieb, wo wir beide tageweise aushalfen, am Band gegenübersaß und mir Geschichten erzählte, die sie gelesen hatte.
Ich freute mich über die Schwester im Geiste und dachte, ich habe eine Freundin gefunden. Aber ihr ging es wohl nicht genauso, denn sie ging ihrer Wege, ohne ein Wiedersehen zu verabreden. Ich habe sie nie mehr getroffen.
Ich machte mir den Vorwurf, menschlich unfähig zu sein. Ich glaube, dass ich da etwas nicht mitgekriegt hatte. Hatte vielleicht mit meiner vaterlosen Kindheit und meiner gewalttätigen Mutter zu tun. Solche Defizite werden sichtbar, wenn es darauf ankommt, und man Farbe bekennen muss. So wie in der Liebe. Übrigens M., der Freund von meinem Ex, war auch ohne Vater großgeworden. Vielleicht verband uns das. Trotz totaler emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit oder gerade deswegen hatte ich einen Hang zu Mitgefühl entwickelt.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, er übernahm sich. Er wollte das Oberhaupt seiner Familie sein und fühlte sich für seine Brüder verantwortlich. Die hatten ebenfalls bei der Massenschlägerei kräftig mitgemischt. Ich spürte, dass er sich in eine Rolle hineinzufügen versuchte, die ihn überforderte. Das machte ihn aggressiv. Diese Situation erinnerte mich an einen Film des italienischen Neorealismus: „Rocco und seine Brüder“, wo es ebenfalls sehr brutal zugeht, und wo die Fäuste fliegen. Die Titelfigur empfindet sich ebenfalls als Oberhaupt der Familie.
Aus einem kann mir keiner einen Vorwurf machen, nämlich dass ich mich mit zwischenmenschlichen Beziehungen nicht auskannte. Es gab nur meine Mutter und mich, mit der ich ständig stritt, und von der ich außerdem als Kind heftig geprügelt wurde. Mehr war da nicht. Mit unserem Desaster hatte ich mich abgefunden. Dadurch konnte ich leider auch keinerlei Fingerspitzengefühl entwickeln, was das andere Geschlecht angeht.
Da hatten Freundinnen, die vielleicht auch nicht gerade schöner waren als ich, mir viel voraus, da sie mit Männern in der Familie aufgewachsen waren.
Wenn ich mir etwas nicht vorstellen kann dann, wie es ist, wenn man Geschwister hat. Genauso ging es übrigens Bukowski auch.
Ich und seine Brüder, die sich übrigens alle ziemlich ähnlich sahen, mochten uns sofort. Sein jüngster Bruder wollte uns unbedingt wieder vereinen. „Du liebst ihn immer noch“, erkannte er hellsichtig.
Mir fiel eine Story, die ich mal gelesen habe, wo eine Frau einen Fischer heiratet, der auf See bleibt, ein. Danach seinen Bruder, dem es genauso ergeht. Dann ist der Jüngste der Brüder dran.
Vielleicht hätte seine Familie meine werden können. Aber ich weiß nicht, ob man bei mir noch etwas geradebiegen konnte. Irgendwie war ich nicht so der family-Typ. Mir stand der Sinn nach Blues und mit Kumpels durch die Gegend ziehen. Auf irgendwelche Geburtstagsfeiern und Silberhochzeiten hatte ich keinen Bock. Für ihn spielte die Familie dagegen eine große Rolle.
Er, eigentlich ein sensibler, introvertierter Typ, wollte perfekt sein, und den harten Mann raushängen lassen, so wie seiner Meinung die Gesellschaft es von ihm erwartete. „Stell dir mal vor, ich bin im Puff gewesen“, erzählte er mir. Kurz nach Mauerfall hatten er und seine Kumpels in einem Betrieb in Bayern Arbeit gefunden. Ich war geschockt. Ihn mir in einem dieser Etablissements vorzustellen, war mir zu viel. Außerdem hatte er das gar nicht nötig, so gut wie er aussah. Ein Kollege hatte ihn gefragt, ob er mitkommt. Er hatte nur an der Bar auf den gewartet. Sagte er jedenfalls. „Ein Bier neunundzwanzig Glocken“, erzählte er mir schockiert.
Er sagte auch zu mir: „Ich hab gemerkt, dass du dich in M. verliebt hast.“ Warum hat er dann bloß solchen Wert darauf gelegt, dass M. Immer mit uns zusammen war. Wollte er das provozieren? Wir waren ja praktisch ständig zu dritt. Ihm, der schwer oder eher gar nicht zu durchschauen war, war alles zuzutrauen.
Liebe ist Fantasie. Wenn du jemanden liebst, ist er, jedenfalls mir geht das so, ist er aus Bildern von vielen zusammengesetzt, die dir irgendwann begegnet sind und sei es in einem Film. Die Gesichter auf der Kinoleinwand prägen sich besonders tief ein. Ich hatte in meiner Kindheit mal „Die Kraniche ziehen“ gesehen, ein sowjetischer Film, wo einer in den Krieg zieht und seine Liebste zurücklässt. So wie Boris stellte ich mir meinen Zukünftigen vor.
Ich hatte ihn immer für eine starke Persönlichkeit gehalten.
Na ja, vielleicht nicht gerade für so unbeugsam wie Albin Köbis, ein Held von mir. Das ist der, der den Kieler Matrosenaufstand angeführt hat. Ich kannte sein Bild aus dem Geschichtsbuch. Aber doch zumindestens für einen, der ein aufrechtes Gemüt besaß und sich nicht anpasst, der immer die Schwächeren verteidigt hat, der nie mitgemacht hat, wenn sie in der Schule jemanden gemobbt haben. Ganz im Gegenteil, er hat sich noch vor den Ärmsten gestellt und hat ihn verteidigt.
Nun wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte, und er nicht der Starke ist, für den ich ihn gehalten habe.
Ich entschied mich trotzdem, bei ihm zu bleiben und verabschiedete mich von meinen Freunden, die ohne mich nach Hause fuhren.
Eigentlich wollte er gar nicht wirklich, dass ich noch da blieb nach dem Konzert. Er hätte es lieber gesehen, dass ich mit den Anderen, mit denen ich gekommen war, wieder mit nach Berlin gefahren wäre. Es war ein Fehler, dass ich mich aufgedrängt hatte. Das war seine Heimatstadt. Hier war er klar im Vorteil. Ich fühlte mich fehl am Platz. Ich saß in der Zwickmühle. Wo sollte ich hin? Mein Freunde waren schon weitergezogen.
Ich glaube, er wollte sich auch ein bisschen an mir rächen, indem er mich hinhielt und so tat, als wenn das mit uns wieder was werden könnte. In Wirklichkeit wollte er das längst nicht mehr.
Mein Verstand sagte mir, dass er mich nicht mehr liebt. Wir hatten uns über zwei Jahre nicht mehr gesehen, und er hatte mir nicht verziehen, dass ich mich damals in einen Berliner verliebt hatte. M. Übrigens, auch ein Freund von ihm. Ich wollte in dieser Stadt bleiben, und M. verkörperte Berlin für mich. Schon damals war mir klargeworden, dass ich eigentlich alle beide liebe.
Er, der damals gekämpft hatte um unsere Beziehung und wollte, dass ich zu ihm ziehe, war durch mit der Liebe zu mir. "Liebe ist kein haltbares Gefühl", ist ein Zitat aus der "Recherche", hegte aber noch freundschaftliche Gefühle.
Deshalb hatte er mich auch mitgenommen, während meine Berliner Truppe, mit denen ich bei dem Konzert war, nach Hause fuhr. War wohl nur die alte Gewohnheit.
Eigentlich hatte ich da nichts zu suchen. So richtig klar, dass ich dort nicht hingehöre, wurde mir, als wir beide zusammen mit ein paar Kumpels und den beiden Brüdern von ihm, auf dem Platz vor dem Kulturhaus der Stahlwerker, das neben dem Bahnhof war, im Kreis auf dem Boden saßen. Im Hintergrund waren die Türme des Stahlwerks zu sehen. Sie sind schon vor langer Zeit gesprengt wordern. Das Werk, von dem die ganze Stadt lebte, wurde kurz nach der Wende abgewickelt.
Auch ein kleines Mädchen war dabei, dass mir erzählte, dass sie eine Weile mit ihm zusammen gewesen war. Sie war oft Zeugin seiner Gewaltausbrüche geworden, als sie noch seine Freundin war. Ich dagegen kannte diese Seite vom ihm nicht.
Sie war erst fünfzehn. Sie war gerade, im Zuge der Wende, aus dem Jugendwerkhof, der aufgelöst wurde, entlassen worden.
Zum Glück. „Warum haben sie ein so nettes Mädchen bloß eingesperrt?“, fragte ich mich. Sie kam aus einer desolaten Familie. Ihre Mutter alleinerziehend mit vier Töchtern. Nicht ein Stiefväter, der kein Alkoholiker war. Ich kam mir richtig schuldig vor. Vielleicht hatte ich mich da in etwas hineingedrängt. Sie war nicht eifersüchtig. Aber ich. „Eine von uns ist zuviel“, dachte ich.
Aber an ihr lag das aber gar nicht, dass es mit uns nichts mehr wurde. Bei mir und ihm war einfach die Luft raus. Er führte ein männliches Leben und brauchte weder sie noch mich.
Heute ist sie auch in Berlin und hat erwachsene Kinder. Wir sind uns in einer Hausbesetzerkneipe wieder über den Weg gelaufen. Wenn wir uns treffen, reden wir über unseren gemeinsamen Ex. Obwohl es verwunderlich ist, mit den Freundinnen von Männern, mit denen ich zusammen war, und die vor mir oder nach mir mit ihnen eine Beziehung hatten, verstehe ich mich immer ganz super. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir uns ähnlich sind. „Ihr Mann schlägt sie“, erzählte mir mal jemand.
Und dann gab es da noch eine Dritte, hatte er erzählt. Sie war auch eine Weile mit ihm zusammen gewesen und hatte gefordert, dass er sie heiratet. Weil er nicht wollte, hatte sie sich einem Anderen zugewandt. Das bereute er nun sehr.
Die Nacht verbrachten wir im Haus seines Kumpels. Er stellte drei Stühle zusammen, ich setzte mich auf den ersten, und er bettete seinen Kopf in meinen Schoss.
Noch nie waren wir uns so nahe gewesen auch nicht, als wir noch ein Paar waren.
Diese Nacht, in der sein Kopf auf meinem Schoss lag, und ich seinen vertrauten Geruch spürte, war unser Abschied. Wir sahen uns danach nie wieder. Ich stand frühmorgens auf, er schlief noch und stellte mich an die Straße, um nach Dresden und von dort nach Hause zu trampen.
Meine Mutter war im Buchclub 69 zu DDR-Zeiten. Einmal im Monat schickten sie ein neues Buch. Darunter haufenweise sowjetische Romane. Mir fiel die Geschichte ein, die am Beginn des Großen Vaterländischen Krieges spielt. Er ist Soldat und seine große Liebe, die er vom Schulhof kannte, schreibt ihm, dass sie ihn wegen eines Anderen verläßt.
Jahre später, der Krieg ist aus, merkt sie, die inzwischen auch wieder allein ist, dass sie einen Fehler gemacht hat, und will zu ihm zurückkehren. Er aber ist lange über sie hinweg und in eine Andere verliebt, die aber nicht frei ist. Eine gewisse Xenia.
Sie verbringen die Nacht in einem Bett, aber er rührt sie nicht an. Monate später hört er, dass sie sich das Leben genommen hat. „Sie gehörte zu den Frauen, die ihr Existensrecht über den Mann definieren. Wenn das nicht klappt, ist es das für sie gewesen“, denke ich. „Warum die bloß immer so tun, als wäre die Liebe eine geheimnisvolle Krankheit, gegen die man, wenn man von ihr befallen ist, nichts machen kann. Wenn es die Opfer nicht vollkommen entschärft, sieht man sie Jahre später runtergekommen, mit eingefallenen Zügen neben einer Schnapsflasche auf einer Parkbank hocken“, geht es mir durch den Kopf.
So sollte es mir nicht ergehen. Dagegen musste ich etwas unternehmen.
Oder die andere belastende Story, die ich mal bei Projekt Gutenberg gelesen habe. Die Braut wartet getreulich, bis er mit dem Studium fertig ist. Er verliebt sich in eine Andere und heiratet. Die Verlassene trägt alles mit Fassung und wird zu einer sogenannten alten Jungfer, da keiner mehr eine sitzengelassene Frau über Mitte Zwanzig heiratet. Später, als er Witwer mit vier Kindern ist, da ist sie über Vierzig – was jetzt kommt, wissen wir alle. So wollen sie uns haben. Selbstverleugnung ist angesagt. Wenn sie uns nicht mehr brauchen, gehen wir ohne aufzumucken, ist unser Typ wieder gefragt …
Damals, wenn man keinen abgekriegt hat, ist man ja glatt verhungert.
Bei den Bluesern aus dem Osten wurde für eine Frau ohne Mann dann oft ist ihr Platz in der Clique wakelig, und sie kann sich nicht mehr halten. Im Umgang der Geschlechter miteinander ahmen junge Leute wohl einfach ihre Elterngeneration nach. Da machten auch die Hippies, als die wir uns ja verstanden, keinen Unterschied. Warum war ich die Einzige, die das nicht gut fand?
Viele Frauen, die sich der Hippiebewegung bei uns anschlossen, rieben sich besonders an der Situation ihrer Mutter in der Gesellschaft. So wie ich auch. Unter ihren Schlägen und Tritten, die auf mich einprasselten, als ich ein Kind war, und die wohl ein Racheakt an meinem abwesenden Vater, den ich nie gesehen hatte, waren, wurde mir klar, dass es nicht ihre Schuld war, dass sie so geworden war, sondern die der Gesellschaft, in der der Mann das Sagen hat. Kein Wunder, dass ich alles völlig anders machen wollte als sie,
Vielleicht ist unsere Hippierebellion, bei uns in Ostdeutschland die langlebigste und größte Jugendrevolte, die sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, daran gescheitert - nach der Wende löste sie sich praktisch auf - , dass wir es nicht mal in den Griff bekamen, unsere eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen zu revolutionieren. Worunter ich unter anderem die Gleichberechtigung der Frau verstehe.
Die Straßen in Dresden waren menschenleer. Es war ja Ostermorgen. Jemand dachte an mich, fühlte ich. Es war aber die richtige Entscheidung, lieber einen endgültigen Schnitt zu machen, als ewig noch in Briefwechsel zu treten. Jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, sind wir uns nach kurzer Zeit wieder in die Arme gefallen.
Oder als Schulter zum Ausheulen zu dienen, wenn er Ärger mit seiner Freundin hatte und plötzlich vor meiner Tür stand. Darauf hatte ich Null Bock. Wenn ich das gemacht hätte, wäre ich ihm schnell langweilig geworden. Dann zerschnitt ich das Band lieber völlig.
Viele Mädels, die ich kannte, dachten da ganz anders und schlüpfen in genau die Rolle, die ich beschrieben habe, oder mussten es, um anerkannt zu werden. Da war Selbstverleugnung gefragt. Eigentlich zeichnete viele von uns ja ein Hang zum Sadomasochismus aus. Hatte bestimmt mit der Kindheit zu tun, denn viele hatten Mißbrauchserlebnisse hinter sich oder wie ich körperliche Gewalt.
In einer Art Selbsterniedrigung, in ihrer Rolle als dienstbare Geister, die Männern den Rücken stärkten, oft wurden sie danach stehen gelassen, fanden sie wohl insgeheim eine Genugtuung. Ein Ausbruchversuch wurde so zum Einbruch. So schräge Sprüche, wie das hier gerade, habe ich übrigens noch nie bei einer Frau gehört.
Das trauten sie sich nicht. Aufmüpfigkeit wurde mit Ausgrenzung bestraft. Eigentlich war es eine enge, kleinbürgerliche Welt, in der wir uns bewegten. Ohne es zu wollen, die Blues-und Hippiebewegung wollte ja mit Überkommenem brechen, hatten wir unbewusst die Moralvorstellungen unserer Eltern übernommen.
In solche Fußtapfen zu treten, es genauso zu machen wie die anderen Girls in meinem Umkreis, hatte ich absolut keinen Bock. Ich hatte keine Lust mich in die Reihe der willigen Frauen einzureihen. Man könnte mir jetzt vorwerfen: „Du hast nicht gekämpft um ihn.“ Ich darauf: “Was ist das denn? Darunter versteht man doch nur, dass man bereit ist, es in Kauf zu nehmen, sich total zum Heinz zu machen.“ Ich hatte mich schon oft genug blamiert, das musste nicht noch einmal mehr sein. „Ich werde kein dienstbarer Geist“, dachte ich. „Den Gefallen tue ich euch nicht.“
Er schlug eigentlich den normalen Weg ein, den vor ihm viele Kumpels von mir gegangen waren. Nach einer heftigen Jugendphase, schon mit zwölf war er von seinem älteren Bruder zu Konzerten mitgenommen worden, ließ er es jetzt mit Anfang Zwanzig ruhiger angehen.
Wahrscheinlich hatte es sich bald erledigt mit Blues und Haligali. Aus ihm würde in Bälde ein normaler junger Mann werden, der sich noch gern an die wilden Zeiten erinnerte. Und ich hatte eigentlich angenommen, dass er mal der King von seiner ganzen Gegend werden würde. Trotz seiner Intelligenz war er sehr kleinbürgerlich. Wahrscheinlich war ich in seinen Augen, mit meinen 27, auch auf dem besten Wege, als sitzengeblieben zu gelten, und er dachte, dass er wahrscheinlich ein Strohhalm für mich war, den ich ergreifen wollte.
Aber trotzdem er langsam ins Kleinbürgerliche reinrutschte, trotzdem er nicht der war, für den ich ihn gehalten hatte, trotz seiner Verwandlung aus einem tiefgründigen, zu vielfältigen Hoffnungen Anlaß gebenden zu einem witzigen, gutaussehenden, aber leider einem, der mit dem, den ich gekannt hatte, nicht mehr viel zu tun hatte, Mann, und obwohl ich Zeugin seiner Gewaltausbrüche geworden war, liebte ich ihn. Aber er mich nicht mehr.
Zum Schluß ein Zitat von Mary MacLane, einer amerikanischen Feministin.
„Aber ich bin noch zu jung, um an Frieden zu denken. Friede ist nicht, was ich will. Friede ist was für Vierzig- oder Fünfzigjährige. Ich warte auf meine Erfahrung. Ich erwarte die Ankunft des Teufels.“
*Hadschi Gajka verheiratet sein Mädchen
Der Film „Closer“, das ist der, wo Jude Law denkt, dass Natalie Portmann ihm verziehen hat, dass er was mit Julia Roberts hatte - am Ende hat er ganz schön blöd dagestanden - lief kürzlich im Fernsehen, und manches davon kam mir sehr bekannt vor.
Eigentlich fand ich ihn gar nicht so gut, aber er war zwischen den immergleichen Kriminalfilmen, die sie jetzt in einer Tour zeigen, wie eine grüne Oase in der Wüste. Und mit der letztgenannten Actrice hatte ich vorher noch nie einen Film gesehen, der mir gefiel. Immer nur solche blöden Beziehungskomödien. Ich weiß nicht, was alle an ihr finden.
Der Film geisterte mir ewig im Kopf herum und brachte mich auf die Idee, über uns zu schreiben.
Einmal, als meine S-Bahn gerade anfuhr, sah ich auf dem Bahnsteig, der draußen an mir vorbeiglitt, einen Jungen und ein Mädchen sitzen. Eigentlich saß nur er, und sie stand vor der Bank. Beide um die Achtzehn. Der Junge erinnerte mich an ihn, und das Mädchen sah mit ihren langen Haaren aus wie ich damals. Bloß, dass ich zu der Zeit, als wir zusammen waren, älter war als sie. „Das sind ja ich und er“, dachte ich. „Macht es bloß nicht genauso wie wir“.
Er war siebzehn, als wir uns begegneten. Davon ahnte ich nichts, da er älter aussah.
Als sein Kumpel einmal zu mir sagte: „Ist ja ungerecht. Mich fragen sie immer nach dem Ausweis, obwohl ich volljährig bin. Er dagegen ist erst siebzehn und bekommt überall Bier“, war ich geschockt. Ich hätte ihn auf zweiundzwanzig geschätzt.
Das Thema Alter mieden wir beide in der nächsten Zeit. Er hatte wohl Angst, dass ich Schluss mache, wenn ich erfahre, wie alt er ist. Und mir ging es umgekehrt genauso, denn ich wurde im Gegensatz zu ihm, der viel erwachsener wirkte als seine Freunde, immer für jünger gehalten.
„Nicht noch eine Liebesgeschichte“, werden jetzt viele denken und sich genervt ab - und anderem zuwenden. „Muss das sein?“ Mein Argument: „Was wohl interessiert viele Leute unter den Werken berühmter Autoren der Vergangenheit am meisten? Was hat die Zeiten überdauert? Was von ihren Sachen wird heute noch am häufigsten gelesen.
Leute, unterschätzt bloß nicht die Love Storys! Noch heute sind unter „uralten Schinken“ bei amazon viele Rezensionen. Turgenjews: Erste Liebe; Fitzgerald: Der große Gatsby; Eine blassblaue Frauenschrift von Franz Werfel; Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig sind da gute Beispiele. Über letztere, die ich mal als Lesung im Radio gehört habe, bin ich gar nicht drüber weg gekommen.
Und dann sind die großen Liebesgeschichten der Literaturgeschichte ja meist solche, die schlecht ausgehen. Wen reißt es schon vom Hocker, wenn alles seinen Gang geht. Liebesbeziehungen werfen ein Schlaglicht auf die Gesellschaft, da sie sehr fragil und extrem abhängig von äußeren Umständen sind.
Auch von den großen Romanen, die sich eigentlich um andere Themen drehen, haben sich die jeweiligen Lovestorys bei mir am tiefsten eingeprägt. Aus „Krieg und Frieden“ die zwischen Natascha und Fürst Andrej. Er hat ja schließlich auch ein Auge zugedrückt und Natascha verziehen, als sie mit einem Anderen durchbrennen wollte.
Aber ich will nicht vom Thema abschweifen, sondern von Anfang an erzählen.
Sieben Jahre Altersunterschied war ungewöhnlich.
Alle gaben der Beziehung keine Chance. Auch M, ein Berliner Kumpel von ihm, der jetzt, da ich die Freundin von seinem Kumpel war, bei mir aus- und einging. M war übrigens vier Jahre älter als er.
Ich sollte mich darauf vorbereiten, dass er, der alles noch vor sich hat, über kurz oder lang seiner Wege geht. Ich hatte eigentlich immer gedacht, dass sich unter uns unangepasste Geister tummeln. Stattdessen traf ich auf finsterstes Spießertum. Mit so einer latenten Frauenfeindlichkeit hatte ich gar nicht gerechnet in diesen Kreisen.
Er war übrigens aus einer anderen Stadt, und wir sahen uns selten. Sein Herz hing an dieser Stadt, die vom Stahlriesen lebte. Nach dessen Abwicklung Anfang Neunzig verlor sie ein Drittel ihrer Einwohner. Dort hatte er in der Volleyballmannschaft gespielt, war mit seinem Vater ins Stadion zur werkseigenen Fußballmannschaft gegangen, die in der DDR-Oberliga war. Heute ist das Stadion ein lost place.
Ich mochte seine Großzügigkeit. Sogar, als er noch in der Lehre war, bezahlte er immer alles für mich, wenn wir irgendwo waren. Er konnte sich das leisten, da sie Zuschläge bekamen, wenn sie auf Montage waren. Manchmal, wenn er bei mir war, bestand er sogar darauf, mir Geld dazulassen. "Du wirst immer dünner", sagte er.
Mir fiel auf, dass er einen ausgeprägten Hang zur falschen Sentimentalität besaß. Irgendwie passte das nicht zu seiner Jugend. Damals ahnte ich wohl schon, dass Sentimentalität mit Brutalität zusammenhängt.
Kopfzerbrechen bereitete mir auch sein Musikgeschmack. Obwohl er in der Bluesszene seiner Heimatstadt in Sachsen, schon mit zwölf Jahren hatte ihn sein Bruder mitgenommen, groß geworden war, mochte er rührseligen Scheiß. Metal, wofür ich ein Faible hatte, hasste er geradezu.
Sein Kumpel M, den ich schon lange aus Berlin vom Sehen kannte, begann sich für mich zu interessieren. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass zwei so gutaussehende Typen gleichzeitig was von mir wollten. Natürlich ging das gar nicht, da sie Freunde waren. Ich liebte alle beide. Alles endete im Desaster, und ich stand wie Buridans Esel da, mit leeren Händen.
In unseren Hippiekreisen, im Grunde genommen männliche Netzwerke, kamen verlassene Frauen oder überhaupt Frauen ohne Mann in dieselbe Misere, dieselbe beengende Situation rein wie eine bürgerliche Ehefrau.
Sowohl die eine wie die andere war gesellschaftlich isoliert, wenn die Kontakte von ihrem Mann wegfielen, da die Freunde meist seine Freunde waren. Sogar Anita Pallenberg wurde nicht mehr bei Feten von den Rolling Stones reingelassen, als mit Keith Schluss war. Sie fiel in ein tiefes Loch und versank in Drogen. Das las ich in in einer Biografie über sie. „Freundin von ´nem Rockstar ist auch nicht die Lösung“, dachte ich bei mir.
Ich finde übrigens, dass Anita die wichtigste Frau für die Stones war. Jedenfalls haben sie in der Zeit, als sie bei ihnen mitgemischt hat, ihre beste Musik gemacht. Warum bloß hat sie nichts darüber geschrieben.
Ihre weibliche Sicht auf die Dinge hätte viele interessiert. Ich vermute, dass sie was unterschrieben hat, dass ihr das untersagte. Wenn sie sich nicht dran hielt, hätten sie ihr den Geldhahn zugedreht, und sie konnte ja schlecht in London zum Welfare Office gehen. Ich habe den Film „Mord und Totschlag“ von Schlöndorff gesehen und fand, dass sie eine begabte Schauspielerin war, mehr drauf hatte, als nur die Freundin von … zu sein. Warum ich mir darüber so den Kopf zerbreche? Hier spricht ein beinharter Stonesfan.
Andauernd will ich jemandem gefallen. Manchmal denke ich, dass ganze Leben ist ein einziges Stockholmsyndrom. Man versucht andauernd sich mit allen zu arrangieren und so zu sein, wie man denkt, dass sie einen haben wollen. „Sie versuchen auch immer, es jedem Recht zu machen“, hat der Psychofritze zu mir gesagt. Er hatte mich durchschaut. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, ein müder Typ mit Strickjacke, die an den Ellenbogen Lederflicken hatte. Das scheint ja die Dienstkleidung für Psychologen zu sein, denn auch Fraisier von „Cheers“ lief immer so rum.
Ich hatte eigentlich den Eindruck, er interessiert sich gar nicht für mich. Er schrieb immer mit dem Bleistiftstummel etwas auf einen Zettel. Was wohl? Das ist total verrückt bin?
Mit der Schreiberei ist es ja noch belämmerter. Ständig versucht man sich bei jemandem einzuschmeicheln, den man gar nicht kennt, imaginäre Leser zu umgarnen.
Wenn ich an ihn denke, dann erwische ich mich dabei, wie ich wieder in mein altes Ich zurückfalle und mich unwillkürlich bemühe, die zu sein, die ich damals sein wollte. Dann übermannt mich wieder der Anspruch, den ich mal hatte: Gut drauf zu sein. Was immer das auch ist. So gut drauf, wie meiner Meinung nach irgendwelche Typen, denen ich gefallen wollte, mich haben wollten. Das will ich heute schon lange nicht mehr.
Momentan liege ich nur noch im Bett, werde immer dicker und lass mir vom Lieferservice Sahnepuddings liefern. Bald passe ich nicht mehr durch die Tür durch, und die Feuerwehr muss mich durch das Fenster abseilen. So stand es mal in der BZ über eine Frau.
Ich habe natürlich übertrieben, aber ich wollte damit bloß rüberbringen, dass ich das „Gut drauf sein“ wirklich völlig an den Nagel gehängt habe.
Meine Freundin aus der Pfalz, die selber essgestört ist, kennt sie. Ich find, wenn sie schon auf Totalverweigerung geht, und es ist ja schon frech, dass sie einfach ganze Torten isst, wo doch schon jedes Kind weiß, dass man schlank sein muss, um dem Mann zu gefallen, und dass man den Männern gefällt, ist überlebensnotwendig, dann hätte sie es wenigstens so machen können wie die Schwester von diesem berühmten Amidichter, wie hieß er noch gleich, ach ja, es war Alice James, ihr Bruder ist Henry James, die auch einfach nicht mehr aus dem Bett aufstand, und deren Tagebuchaufzeichnungen ein Stützpfeiler des Feminismus sind. Leider gibt es sie nicht auf Deutsch. Ich wurde auf sie aufmerksam, weil die Theatergruppe Ratten 07 mal ein Stück, das von ihr handelt, inzenierte.*
Als mit uns Schluss war, hatte ich das Gefühl, dass er dachte: "So jemanden wie mich bekommst du niemals wieder". Er hatte nicht so ganz unrecht. Im Grunde hatte er geahnt, dass ich ihn liebte, und dass es mit dem Anderen sowieso nicht lange gut gehen würde. Er durchschaute mich und kannte mich besser als ich mich selber.
Manchmal denke ich, ein Grund dafür, dass ich mich von ihm zu lösen versuchte, war vielleicht auch, dass sich mein Selbsterhaltungstrieb meldete, da ich instinktiv Angst hatte, dass seine starke Persönlichkeit mich plattmachen würde wie eine Briefmarke. Er war sehr dominierend. Manchmal kam es mir so vor, als wenn er mich im Grunde nicht für voll nahm.
Als ich seine Mutter kennenlernte, wurde mir klar, wie er zu seinem starken Ich gekommen war. Sie betete ihn, der ihr auch sehr ähnlich sah, an. Mich beachtete sie übrigens gar nicht. Sie, die drei Söhne im heiratsfähigen Alter hatte, hatte schon viele Mädels kommen und gehen sehen. "Das wird auch nicht die Letzte sein", dachte sie bestimmt.
Ich vor Jahren einmal zu einer Freundin, als ich ihr von unserem Wiedersehen an diesem Ostern 90, dem ersten nach der Wende, erzählte: „Und dann habe ich mich einfach an die Straße gestellt, während er noch schlief und bin nach Berlin getrampt. „Du bist verrückt, sagte sie mit Bewunderung in der Stimme und lachte. So lustig ist das aber gar nicht gewesen. Ganz im Gegenteil.
Irgendwas an ihrem Tonfall machte mir klar, dass sie oberflächlich war. Ich sah plötzlich das Ende unser Freundschaft voraus.
So kam es dann auch. Irgendwann hatte sie wohl beschlossen, dass sie mich nicht mehr braucht. Auch wenn man so etwas vorher ahnt, steht man doch noch lange nicht drüber, wenn es eintrifft, und es ist trotzdem bitter, wenn man bei einem zufälligen Treffen mit fadenscheinigen Argumenten stehen gelassen wird, und diejenige, mit der man früher über Gott und die Welt gelacht hat, einen am Telefon abwimmelt.
Eigentlich dachte ich, dass aus ihr, einer sehr intelligenten Powerlesbe, mal was ganz Tolles wird. Sie war eine der interessantesten Frauen, die mir je über den Weg gelaufen sind. Schließlich sind nicht umsonst die ganzen berühmten Schriftstellerinnen und Musikerinnen Lesben, wie auch Mary MacLane, die feministische Werke verfasste. Kaum merken sie, dass sie auf Frauen stehen, fangen sie an zu schriftstellern oder zu musizieren. Natürlich nicht alle.
Wahrscheinlich wollte sie aber nur ein ganz normales Leben führen, und es zog sie ins Kleinbürgerliche. Die freimütige Frau, die kennengelernt habe, das war nur mal so´ne Phase.
Sie war ein Fan härterer Töne, wie viele Lesben.
Ich glaube, wenn sie ein Mann gewesen wäre, wäre sie so geworden wie dieser Metaller, den ich mal auf einem Konzert beobachtet habe. Es spielte gerade die beste Band, als seine Freundin, die wohl kein Fan war, zu ihm sagte: „Lass uns abhauen“. Er, ein freundlicher, intelligent wirkender Typ Ende Dreißig, wollte eigentlich bleiben, das sah man, aber er wollte keinen Ärger und folgte ihr ergeben. Er stand unter dem Pantoffel. Das schwebte ihr auch vor als ultimative Glücksvorstellung.
Während der Beziehung mit ihm habe ich über die Liebe zwei Dinge gelernt: Man kann in jemanden verliebt sein, ohne dass man was davon weiß. Womit ich M. meine und die verdrängte Zuneigung zu ihm. Wegen ihm nahm sogar die Bibel und schlug sie auf gut Glück auf und landete ausgerechnet beim Hohelied Salomons.
Die Bibel ist ein verzaubertes Buch. Du kannst sie an einer x-beliebigen Stelle aufschlagen, und was da steht, trifft auf dich zu. Vielleicht hat die Magie sich über die vielen Jahrhunderte eingeschlichen, in denen Leute sich hilfesuchend über das Buch beugten und jedes einzelne Wort des Gelesenen mit den Lippen nachformten. Oft in Extremsituationen wie kurz vor dem Fallbeil. Im Gegenzug haben sich ihre imaginären Spuren in den Seiten eingeprägt. Das Phänomen der Rückkopplung ist aufgetreten, und aus dem Buch sprechen die Stimmen der längst zu Staub zerfallenen Menschen zu einem, die im Laufe der Zeit die tausende Jahre alten Schriftzeichen mit den Augen begierig in sich aufsogen.
Falls es jemanden interessiert, wie ich im religionsabstinenten Osten zu einer Bibel gekommen bin.
Die hatte mir eine geschenkt, mit der ich im Arbeiterwohnheim zusammenwohnte. Ich hatte in der Küche mit ihr abgewaschen, und plötzlich langte sie mir eine. Das konnte man ihr nicht übelnehmen, da sie im Kinderheim aufgewachsen war. Statt, dass ich über den Dingen stand, schlug ich zurück. Ihre Brille fiel zu Boden und die dicken Gläser lösten sich. Zum Glück konnte man das reparieren. Als Versöhnungsgeschenk gab sie mir die Bibel. „Die haben mir die Nonnen im Kinderheim geschenkt“.
Und das Andere, was ich über die Liebe lernte: Man kann zwei auf einmal lieben.
Wieder zurück zu meiner Geschichte.
Zum letzten Mal hatte ich ihn nach dem Bob Dylan Konzert im Treptower Park gesehen, als er mit zwei Kumpels vor meiner Tür stand. Frühmorgens fuhr ihr Zug.
Zwei Jahre später begegneten wir uns wieder. Es war kurz nach Mauerfall. Ostern Neunzig. Kumpels schleppten mich zu einem Konzert außerhalb von Berlin. Wie fuhren mit dem Zug dorthin. Der Ort war legendär.
Dieser bekannte Bluesertreff in der Nähe der Stahlstadt wurde nur ein Jahr nach der Wende auch zu einem Lost Place. Das Gebäude verfiel und musste kürzlich abgerissen werden. Dort hatte sich seit den Siebzigern die musikbegeisterte Jugend der Gegend getroffen. Die meisten von ihnen lernten oder arbeiteten im Stahl.
An dem Abend, bei dem Konzert, das in der Nähe seiner Stadt war, und bei dem wir uns zufällig nach langer Zeit über den Weg liefen, hat er mich einfach geschnappt, als er meiner ansichtig wurde - ich hatte keine Chance, er war über eins neunzig - durch den Saal getragen und zu Presspappe zerdrückt, während der Sänger der Band „Lay, Lady, Lay, Lay across my big brass bed … Why wait you any longer for the one you love/ When he’s standing in front of you“, sang. Der Song kam im selben Jahr raus, in dem das Woodstockfestival stattfand.
Als im Frühjahr 90 die ersten Häuser in Friedrichshain von Autonomen aus Kreuzberg besetzt wurden und Cafés aufmachten, fiel eins sofort auf. Wir hörten ganz andere Musik in unserem sozialistischen Lager als die im Westen und waren noch in den Sechzigern bei Janis und Jimi. Auch ein bisschen in den Siebzigern. Aber nur der Anfang. 71,72 lasse ich noch gelten. Was danach kam, interessierte mich nicht so sehr.
In der Tschechei war die Hippiewelle ebenfalls noch lebendig, viel lebendiger als in der DDR. Bei uns ebbte das schon vor Mauerfall langsam ab. Im Westen dagegen war sie praktisch nicht mehr existent.
In den Neunzigern traf ich dort in Prag mal auf eine große Gruppe Jungen und Mädchen, alle angezogen wie Crosby-Still-Nash and Young auf dem Woodstockfestival. Sie kamen von einem Konzert im Kongresszentrum. Ein weißes Ufo, was in einem Park gelandet war. In einer Kneipe in der Altstadt von Prag sangen abends alle Bob Dylan Songs zur Gitarre. Ich kam mir vor wie in der DDR in den Achtzigern. Jetzt, im Berlin nach der Wiedervereinigung, sind mit einmal alle Dylan Fans verschwunden.
Mir hat mal ein Mädchen erzählt, wie ihre Tochter zu ihrem Namen kam. Da war sie sechzehn. Es war nach einer Fete. Alle schliefen. Sie wusste seit kurzer Zeit, dass sie ein Kind erwartete. Da sah sie, dass jemand oben an die Decke über ihr in großen Lettern Janis Joplin rangeschrieben hatte. Das nahm sie als Zeichen. Sie dachte: „So soll meine Tochter heißen“.
Ich war ein beinharter Stones und Scherben Fan. Die waren dort bei den Autonomen längst out. Ständig liefen die Dead Kennedys. Waren gerade Anfang der Neunziger total angesagt. Sie nervten mich. Das hielt mich trotzdem nicht davon ab mir von dem hinter dem Tresen, eine Kassette überspielen zu lassen.
Man wollte ja nicht als ewig Gestrige gelten. „Kannst du mir die CD aufnehmen?“, fragte ich ihn. Er machte es doch tatsächlich. Ich musste ihm aber extra eine Maxell Kassette geben, normalerweise habe ich immer die im Zehnerpack von Aldi genommen, damit er sich seine Anlage nicht an Billigteilen verdirbt.
Jetzt sollen die Kumpel ja nur noch über Anwalt miteinander reden, hat Jello Biafra mal im Fernsehen erzählt. „Schadet euch gar nichts“, dachte ich. Das ist die Rache dafür, dass ihr meine Gehörgänge immer so malträtiert habt.
Aber wieder zu mir und meinem ehemaligen Freund.
Der, der mir gerade nach zwei Jahren eben erst wiederbegegnet war, behandelte meinen Körper wie den einer Puppe, zuerst versuchte ich noch, mich zu befreien, aber gerade in dem Moment, als wir nach Bier anstanden, und er, der hinter mir stand, mich packte, sich gegen meinen Körper presste und mich in dem Gewühle mit den Rippen brutal gegen den hölzernen Tresen stieß, wurde mir plötzlich bewusst, dass mir das gefiel, und dass ich ihn liebe, und ich überhaupt nirgendwo anders mehr hin möchte.
So wie in Crónica de una muerte anunciada, mein Lieblingsbuch von Garcia Marquez, der gegen ihren Willen verheirateten Braut plötzlich klar wird, dass sie ihren Mann liebt. Aber ich glaube, sie lagen dabei im Bett. Der Roman soll übrigens auf einer wahren Geschichte beruhen. Eine Professorin hat darüber nachgeforscht und eine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben.
Nach dreißig Jahren wurden ihr Mann und die Braut, die er in der Hochzeitsnacht zurückgeschickt hatte, weil sie keine Jungfrau mehr war, doch noch ein Paar. Sie nahm ihn zurück, nachdem er ihr das angetan hatte. Sinngemäß schrieb die Wissenschaftlerin Nadia Celis: „Liebe ist der Artefakt in diesen patriarchalen Gesellschaften, der garantiert, dass die Frauen ihre eigene Selbstständigkeit und Wünsche unterdrücken und sich noch glücklich fühlen dabei.“
Eigentlich hätte Angela Vicario, die verschmähte Braut, ja zu einer Vorkämpferin für die Rechte der Frau werden müssen, zu einer Rebellin gegen die Männergesellschaft. Nichts dergleichen geschah. Sie wurde, wenn auch mit Hindernissen, eine stinknormale Ehefrau. Total angepasst. Sie weigerte sich auch mit der Autorin zu reden.
Ich habe mich immer gefragt, warum ihr frisch Angetrauter, sie eigentlich wieder zu ihren Eltern zurückgeschickt hat und nicht einfach darüber weggesehen hat, dass sie nicht mehr virgin intacta war. Schließlich hatte auch er schon seine „Erfahrungen“ gemacht. Der Grund war seine männliche Ehre. Es hätte geschehen können, dass sein Vorgänger im Dorf damit prahlt. Damit wäre sein Ansehen erschüttert gewesen.
Last uns nach dem kurzen Exkurs über kolumbianische Literatur wieder zum Ausgangspunkt, dem Gasthof in Sachsen, in dem das Blueskonzert war, zurückkehren.
Eine halbe Palette Bier goss er mir übrigens auch noch über mich rüber. „Entschuldigung“, murmelte er schuldbewusst. „Ach, nicht so schlimm“, wehrte ich ab. Dabei war ich pitschnass. Aber das war mir völlig egal in dem Moment.
Ich war in Gedanken ganz woanders und völlig beschäftigt mit meiner wiedergefundenen Liebe, ich plante sogar, mit ihm nach Bayern auszuwandern, wo er seit kurzem arbeitete, da entspann sich plötzlich um mich herum eine Prügelei. Zutreffender wäre Saalschlacht. Sie hatte wohl auch etwas mit der Zeit damals zu tun.
Es war das erste Ostern nach der Wende. Jeder spürte, Veränderungen lagen in der Luft. Eine Welt ging gerade unter. Eine neue war noch nicht da. Bald würden die ersten Betriebe schließen, das Stahlwerk als erstes, und die Stasiakten geöffnet werden. Unsere Bluesszene, der ich und mein Freund angehörten, war sehr davon durchsetzt. Ehemals gute Kumpels würden nie wieder miteinander reden.
Massenhaft würde die Jugend wegen Arbeit in den Westen gehen. Sein Vater, seine Brüder und viele von seinen Kumpels waren schon dort. Sein jüngster Bruder hatte schon ein feuerrotes Westauto. Sogar das alte Wirtshaus, wo wir waren, würde schon in einem Jahr schließen. Diese Vorahnung erzeugte eine Spannung, die sich in einer Massenschlägerei entlud.
Eine bekannte Schlagersängerin von uns, ausgerechnet sie ging mir unter den ganzen Schlagerfuzzis am meisten auf den Sack – der Horror hat einen Namen, auf ihrer Internetseite steht: das ist Lebenslust, Freude am Gesang und an der Show. Ihre Herzlichkeit, ihr Charme und ihre ... , das lässt ja schon Schlimmes befürchten - hat mal in einer TV-Sendung das Treffendste über die Wende gesagt, was ich je gehört habe: „Wir alle haben einen Identitätsverlust erlitten.“ Diese Frau galt als die Intellektuelle unter den Schlagersägern. Vielleicht war sie das auch. Dann muss sie ja mächtig unter ihrer Zwiegespaltenheit gelitten haben, denn die Texte ihrer Songs waren das Verlogenste überhaupt. Das durchschaute sie bestimmt. Es ist schon schwierig, wenn man den Quatsch, den man macht, selber nicht ernst nehmen kann.
Irgendeiner hatte die Prügelei angezettelt, und mit einmal schlug jeder auf jeden ein. Ich traute meinen Augen nicht. Der, der da wie von Sinnen einen zierlichen Sechzehnjährigen rhythmisch mit dem Kopf gegen das dicke Rohr hämmerte, das in dem offenen Graben vor dem Haus lag - Die Bauarbeiter waren wohl ins Wochenende gegangen und hatten ihre halbfertige Arbeit liegenlassen – konnte nicht er sein. „Scheißpunk“, rief er noch, als seine Kumpels ihn endlich von dem Burschen, der fast noch ein Kind war, weggezerrt hatten. „Dabei ist er doch selber so´ne Art Punk“, dachte ich.
Da hatte er sich den Schwächsten rausgepickt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte ihn überschätzt. Er hatte seine Aggressionen nicht im Griff. Er versuchte Frustrationen mit Gewalt abzubauen. Und ich hatte ihn immer für stark gehalten.
Der Junge, den er mit dem Kopf gegen das Rohr geschlagen hatte, sah vollkommen verstört aus. Er verstand die Welt nicht mehr. Da kommt er mit seiner Freundin in eine vermeintliche Oase der Freiheit, der private Gasthof, in dem das Konzert stattfand, war eine bekannte Hippiehochburg in Sachsen, heute wie gesagt auch ein Lost Places, und dann wird er ausgerechnet da verkloppt.
Bei mir, die alles mit ansah, kamen unliebsame Erinnerungen an die Zeiten hoch, als ich von meiner Mutter ständig verprügelt wurde. Genauso wie er jetzt wie von Sinnen auf sein schwächeres Opfer einschlug, trat und schlug sie mit demselben irren Ausdruck in den Augen, den er jetzt auch hatte, auf mich ein.
„Was mache ich eigentlich hier?“, fragte ich mich. Ich fragte ihn, ob ich an seiner Neigung zur Gewalt auch irgendwie mit Schuld trage, weil ich ihn enttäuscht habe. Er erwiderte nichts darauf.
Das Ganze war für mich ein Alptraum und erinnerte mich an ein Buch, welches ich mal gelesen hatte. Die Handlung spielt im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Serbien. Eine Frau wird mit einem sehr viel Jüngeren, fast noch ein Knabe, vermählt. Es entwickelt sich mit den Jahren eine gute Beziehung zwischen den Beiden. Als er zum Manne heranwächst, wird er so wie die anderen Männer, ein unbeherrschter, aggressiver Macho, verliert sein Interesse an ihr und schlägt sie und seine Untergebenen.* Scheinbar war mein Ex genauso.
Damals in Serbien hatten die Frauen ja gar nichts zu sagen. Ihr Schicksal war in der Hand der Männer. Ob das heute da anders ist? Habe ich ein Glück, dass ich nicht in solchen patriarchalen Strukturen aufwachsen musste.
Vielleicht sollte ich das Buch meiner jugoslawischen Freundin geben. Sie ist aber eine Bosnierin. Besonders seit dem Jugoslawienkrieg herrscht zwischen den beiden Völkern, die dieselbe Sprache sprechen und Jahrhunderte nebeneinander gelebt haben, Feindschaft. „Selbst hier in Berlin ist es für Serben und Bosnier nicht möglich zu heiraten“, hat sie mir erzählt. „Dafür ist der Graben viel zu tief.“
Er ist jemand, der bei Problemen mit körperlicher Gewalt reagiert. Ein ehrlicher Faustkampf zwischen Gleichrangigen geht noch an, aber nicht das mit dem kleinen Punk. Ein schmales Handtuch. Er hätte ihn totschlagen können, wenn die Anderen nicht dazwischengegangen wären. Nie hätte ich vermutete, dass jemand, der so intelligent ist, seine Aggressionen so wenig im Griff hat. Im Grunde hatte ich keine Ahnung von Männern, wurde mir klar. So, als wenn du dich plötzlich in Shanghai wiederfindest, aber nie ein Wort Chinesisch gelernt hast.
Ich war völlig ratlos und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. „Ich habe vom Leben gar keine Ahnung“, warf ich mir vor, „sondern kenne alles nur aus Büchern.“ Auch jetzt, bei dem Anblick der prügelnden Männer, fallen mir in einer Tour nur Stellen aus Büchern oder Filmen ein. Vielleicht liegt das auch an dem eklatanten Mangel an Leuten in meiner Kindheit und Jugend, die mir etwas vorgelebt haben, an dem ich mich orientieren konnte, ein positives Vorbild gegeben haben, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als in den Regalen der Bibliothek, wo die Werke der Weltliteratur standen, danach zu suchen.
Nur ein einziges Mal hatte ich eine Frau getroffen, die, so wie ich, ihren Kopf gestopft voll mit Büchern trug. Ein Punkermädchen, das mir mal während einer Spätschicht bei Narva, einem Großbetrieb, wo wir beide tageweise aushalfen, am Band gegenübersaß und mir Geschichten erzählte, die sie gelesen hatte.
Ich freute mich über die Schwester im Geiste und dachte, ich habe eine Freundin gefunden. Aber ihr ging es wohl nicht genauso, denn sie ging ihrer Wege, ohne ein Wiedersehen zu verabreden. Ich habe sie nie mehr getroffen.
Ich machte mir den Vorwurf, menschlich unfähig zu sein. Ich glaube, dass ich da etwas nicht mitgekriegt hatte. Hatte vielleicht mit meiner vaterlosen Kindheit und meiner gewalttätigen Mutter zu tun. Solche Defizite werden sichtbar, wenn es darauf ankommt, und man Farbe bekennen muss. So wie in der Liebe. Übrigens M., der Freund von meinem Ex, war auch ohne Vater großgeworden. Vielleicht verband uns das. Trotz totaler emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit oder gerade deswegen hatte ich einen Hang zu Mitgefühl entwickelt.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, er übernahm sich. Er wollte das Oberhaupt seiner Familie sein und fühlte sich für seine Brüder verantwortlich. Die hatten ebenfalls bei der Massenschlägerei kräftig mitgemischt. Ich spürte, dass er sich in eine Rolle hineinzufügen versuchte, die ihn überforderte. Das machte ihn aggressiv. Diese Situation erinnerte mich an einen Film des italienischen Neorealismus: „Rocco und seine Brüder“, wo es ebenfalls sehr brutal zugeht, und wo die Fäuste fliegen. Die Titelfigur empfindet sich ebenfalls als Oberhaupt der Familie.
Aus einem kann mir keiner einen Vorwurf machen, nämlich dass ich mich mit zwischenmenschlichen Beziehungen nicht auskannte. Es gab nur meine Mutter und mich, mit der ich ständig stritt, und von der ich außerdem als Kind heftig geprügelt wurde. Mehr war da nicht. Mit unserem Desaster hatte ich mich abgefunden. Dadurch konnte ich leider auch keinerlei Fingerspitzengefühl entwickeln, was das andere Geschlecht angeht.
Da hatten Freundinnen, die vielleicht auch nicht gerade schöner waren als ich, mir viel voraus, da sie mit Männern in der Familie aufgewachsen waren.
Wenn ich mir etwas nicht vorstellen kann dann, wie es ist, wenn man Geschwister hat. Genauso ging es übrigens Bukowski auch.
Ich und seine Brüder, die sich übrigens alle ziemlich ähnlich sahen, mochten uns sofort. Sein jüngster Bruder wollte uns unbedingt wieder vereinen. „Du liebst ihn immer noch“, erkannte er hellsichtig.
Mir fiel eine Story, die ich mal gelesen habe, wo eine Frau einen Fischer heiratet, der auf See bleibt, ein. Danach seinen Bruder, dem es genauso ergeht. Dann ist der Jüngste der Brüder dran.
Vielleicht hätte seine Familie meine werden können. Aber ich weiß nicht, ob man bei mir noch etwas geradebiegen konnte. Irgendwie war ich nicht so der family-Typ. Mir stand der Sinn nach Blues und mit Kumpels durch die Gegend ziehen. Auf irgendwelche Geburtstagsfeiern und Silberhochzeiten hatte ich keinen Bock. Für ihn spielte die Familie dagegen eine große Rolle.
Er, eigentlich ein sensibler, introvertierter Typ, wollte perfekt sein, und den harten Mann raushängen lassen, so wie seiner Meinung die Gesellschaft es von ihm erwartete. „Stell dir mal vor, ich bin im Puff gewesen“, erzählte er mir. Kurz nach Mauerfall hatten er und seine Kumpels in einem Betrieb in Bayern Arbeit gefunden. Ich war geschockt. Ihn mir in einem dieser Etablissements vorzustellen, war mir zu viel. Außerdem hatte er das gar nicht nötig, so gut wie er aussah. Ein Kollege hatte ihn gefragt, ob er mitkommt. Er hatte nur an der Bar auf den gewartet. Sagte er jedenfalls. „Ein Bier neunundzwanzig Glocken“, erzählte er mir schockiert.
Er sagte auch zu mir: „Ich hab gemerkt, dass du dich in M. verliebt hast.“ Warum hat er dann bloß solchen Wert darauf gelegt, dass M. Immer mit uns zusammen war. Wollte er das provozieren? Wir waren ja praktisch ständig zu dritt. Ihm, der schwer oder eher gar nicht zu durchschauen war, war alles zuzutrauen.
Liebe ist Fantasie. Wenn du jemanden liebst, ist er, jedenfalls mir geht das so, ist er aus Bildern von vielen zusammengesetzt, die dir irgendwann begegnet sind und sei es in einem Film. Die Gesichter auf der Kinoleinwand prägen sich besonders tief ein. Ich hatte in meiner Kindheit mal „Die Kraniche ziehen“ gesehen, ein sowjetischer Film, wo einer in den Krieg zieht und seine Liebste zurücklässt. So wie Boris stellte ich mir meinen Zukünftigen vor.
Ich hatte ihn immer für eine starke Persönlichkeit gehalten.
Na ja, vielleicht nicht gerade für so unbeugsam wie Albin Köbis, ein Held von mir. Das ist der, der den Kieler Matrosenaufstand angeführt hat. Ich kannte sein Bild aus dem Geschichtsbuch. Aber doch zumindestens für einen, der ein aufrechtes Gemüt besaß und sich nicht anpasst, der immer die Schwächeren verteidigt hat, der nie mitgemacht hat, wenn sie in der Schule jemanden gemobbt haben. Ganz im Gegenteil, er hat sich noch vor den Ärmsten gestellt und hat ihn verteidigt.
Nun wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte, und er nicht der Starke ist, für den ich ihn gehalten habe.
Ich entschied mich trotzdem, bei ihm zu bleiben und verabschiedete mich von meinen Freunden, die ohne mich nach Hause fuhren.
Eigentlich wollte er gar nicht wirklich, dass ich noch da blieb nach dem Konzert. Er hätte es lieber gesehen, dass ich mit den Anderen, mit denen ich gekommen war, wieder mit nach Berlin gefahren wäre. Es war ein Fehler, dass ich mich aufgedrängt hatte. Das war seine Heimatstadt. Hier war er klar im Vorteil. Ich fühlte mich fehl am Platz. Ich saß in der Zwickmühle. Wo sollte ich hin? Mein Freunde waren schon weitergezogen.
Ich glaube, er wollte sich auch ein bisschen an mir rächen, indem er mich hinhielt und so tat, als wenn das mit uns wieder was werden könnte. In Wirklichkeit wollte er das längst nicht mehr.
Mein Verstand sagte mir, dass er mich nicht mehr liebt. Wir hatten uns über zwei Jahre nicht mehr gesehen, und er hatte mir nicht verziehen, dass ich mich damals in einen Berliner verliebt hatte. M. Übrigens, auch ein Freund von ihm. Ich wollte in dieser Stadt bleiben, und M. verkörperte Berlin für mich. Schon damals war mir klargeworden, dass ich eigentlich alle beide liebe.
Er, der damals gekämpft hatte um unsere Beziehung und wollte, dass ich zu ihm ziehe, war durch mit der Liebe zu mir. "Liebe ist kein haltbares Gefühl", ist ein Zitat aus der "Recherche", hegte aber noch freundschaftliche Gefühle.
Deshalb hatte er mich auch mitgenommen, während meine Berliner Truppe, mit denen ich bei dem Konzert war, nach Hause fuhr. War wohl nur die alte Gewohnheit.
Eigentlich hatte ich da nichts zu suchen. So richtig klar, dass ich dort nicht hingehöre, wurde mir, als wir beide zusammen mit ein paar Kumpels und den beiden Brüdern von ihm, auf dem Platz vor dem Kulturhaus der Stahlwerker, das neben dem Bahnhof war, im Kreis auf dem Boden saßen. Im Hintergrund waren die Türme des Stahlwerks zu sehen. Sie sind schon vor langer Zeit gesprengt wordern. Das Werk, von dem die ganze Stadt lebte, wurde kurz nach der Wende abgewickelt.
Auch ein kleines Mädchen war dabei, dass mir erzählte, dass sie eine Weile mit ihm zusammen gewesen war. Sie war oft Zeugin seiner Gewaltausbrüche geworden, als sie noch seine Freundin war. Ich dagegen kannte diese Seite vom ihm nicht.
Sie war erst fünfzehn. Sie war gerade, im Zuge der Wende, aus dem Jugendwerkhof, der aufgelöst wurde, entlassen worden.
Zum Glück. „Warum haben sie ein so nettes Mädchen bloß eingesperrt?“, fragte ich mich. Sie kam aus einer desolaten Familie. Ihre Mutter alleinerziehend mit vier Töchtern. Nicht ein Stiefväter, der kein Alkoholiker war. Ich kam mir richtig schuldig vor. Vielleicht hatte ich mich da in etwas hineingedrängt. Sie war nicht eifersüchtig. Aber ich. „Eine von uns ist zuviel“, dachte ich.
Aber an ihr lag das aber gar nicht, dass es mit uns nichts mehr wurde. Bei mir und ihm war einfach die Luft raus. Er führte ein männliches Leben und brauchte weder sie noch mich.
Heute ist sie auch in Berlin und hat erwachsene Kinder. Wir sind uns in einer Hausbesetzerkneipe wieder über den Weg gelaufen. Wenn wir uns treffen, reden wir über unseren gemeinsamen Ex. Obwohl es verwunderlich ist, mit den Freundinnen von Männern, mit denen ich zusammen war, und die vor mir oder nach mir mit ihnen eine Beziehung hatten, verstehe ich mich immer ganz super. Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir uns ähnlich sind. „Ihr Mann schlägt sie“, erzählte mir mal jemand.
Und dann gab es da noch eine Dritte, hatte er erzählt. Sie war auch eine Weile mit ihm zusammen gewesen und hatte gefordert, dass er sie heiratet. Weil er nicht wollte, hatte sie sich einem Anderen zugewandt. Das bereute er nun sehr.
Die Nacht verbrachten wir im Haus seines Kumpels. Er stellte drei Stühle zusammen, ich setzte mich auf den ersten, und er bettete seinen Kopf in meinen Schoss.
Noch nie waren wir uns so nahe gewesen auch nicht, als wir noch ein Paar waren.
Diese Nacht, in der sein Kopf auf meinem Schoss lag, und ich seinen vertrauten Geruch spürte, war unser Abschied. Wir sahen uns danach nie wieder. Ich stand frühmorgens auf, er schlief noch und stellte mich an die Straße, um nach Dresden und von dort nach Hause zu trampen.
Meine Mutter war im Buchclub 69 zu DDR-Zeiten. Einmal im Monat schickten sie ein neues Buch. Darunter haufenweise sowjetische Romane. Mir fiel die Geschichte ein, die am Beginn des Großen Vaterländischen Krieges spielt. Er ist Soldat und seine große Liebe, die er vom Schulhof kannte, schreibt ihm, dass sie ihn wegen eines Anderen verläßt.
Jahre später, der Krieg ist aus, merkt sie, die inzwischen auch wieder allein ist, dass sie einen Fehler gemacht hat, und will zu ihm zurückkehren. Er aber ist lange über sie hinweg und in eine Andere verliebt, die aber nicht frei ist. Eine gewisse Xenia.
Sie verbringen die Nacht in einem Bett, aber er rührt sie nicht an. Monate später hört er, dass sie sich das Leben genommen hat. „Sie gehörte zu den Frauen, die ihr Existensrecht über den Mann definieren. Wenn das nicht klappt, ist es das für sie gewesen“, denke ich. „Warum die bloß immer so tun, als wäre die Liebe eine geheimnisvolle Krankheit, gegen die man, wenn man von ihr befallen ist, nichts machen kann. Wenn es die Opfer nicht vollkommen entschärft, sieht man sie Jahre später runtergekommen, mit eingefallenen Zügen neben einer Schnapsflasche auf einer Parkbank hocken“, geht es mir durch den Kopf.
So sollte es mir nicht ergehen. Dagegen musste ich etwas unternehmen.
Oder die andere belastende Story, die ich mal bei Projekt Gutenberg gelesen habe. Die Braut wartet getreulich, bis er mit dem Studium fertig ist. Er verliebt sich in eine Andere und heiratet. Die Verlassene trägt alles mit Fassung und wird zu einer sogenannten alten Jungfer, da keiner mehr eine sitzengelassene Frau über Mitte Zwanzig heiratet. Später, als er Witwer mit vier Kindern ist, da ist sie über Vierzig – was jetzt kommt, wissen wir alle. So wollen sie uns haben. Selbstverleugnung ist angesagt. Wenn sie uns nicht mehr brauchen, gehen wir ohne aufzumucken, ist unser Typ wieder gefragt …
Damals, wenn man keinen abgekriegt hat, ist man ja glatt verhungert.
Bei den Bluesern aus dem Osten wurde für eine Frau ohne Mann dann oft ist ihr Platz in der Clique wakelig, und sie kann sich nicht mehr halten. Im Umgang der Geschlechter miteinander ahmen junge Leute wohl einfach ihre Elterngeneration nach. Da machten auch die Hippies, als die wir uns ja verstanden, keinen Unterschied. Warum war ich die Einzige, die das nicht gut fand?
Viele Frauen, die sich der Hippiebewegung bei uns anschlossen, rieben sich besonders an der Situation ihrer Mutter in der Gesellschaft. So wie ich auch. Unter ihren Schlägen und Tritten, die auf mich einprasselten, als ich ein Kind war, und die wohl ein Racheakt an meinem abwesenden Vater, den ich nie gesehen hatte, waren, wurde mir klar, dass es nicht ihre Schuld war, dass sie so geworden war, sondern die der Gesellschaft, in der der Mann das Sagen hat. Kein Wunder, dass ich alles völlig anders machen wollte als sie,
Vielleicht ist unsere Hippierebellion, bei uns in Ostdeutschland die langlebigste und größte Jugendrevolte, die sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte, daran gescheitert - nach der Wende löste sie sich praktisch auf - , dass wir es nicht mal in den Griff bekamen, unsere eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen zu revolutionieren. Worunter ich unter anderem die Gleichberechtigung der Frau verstehe.
Die Straßen in Dresden waren menschenleer. Es war ja Ostermorgen. Jemand dachte an mich, fühlte ich. Es war aber die richtige Entscheidung, lieber einen endgültigen Schnitt zu machen, als ewig noch in Briefwechsel zu treten. Jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, sind wir uns nach kurzer Zeit wieder in die Arme gefallen.
Oder als Schulter zum Ausheulen zu dienen, wenn er Ärger mit seiner Freundin hatte und plötzlich vor meiner Tür stand. Darauf hatte ich Null Bock. Wenn ich das gemacht hätte, wäre ich ihm schnell langweilig geworden. Dann zerschnitt ich das Band lieber völlig.
Viele Mädels, die ich kannte, dachten da ganz anders und schlüpfen in genau die Rolle, die ich beschrieben habe, oder mussten es, um anerkannt zu werden. Da war Selbstverleugnung gefragt. Eigentlich zeichnete viele von uns ja ein Hang zum Sadomasochismus aus. Hatte bestimmt mit der Kindheit zu tun, denn viele hatten Mißbrauchserlebnisse hinter sich oder wie ich körperliche Gewalt.
In einer Art Selbsterniedrigung, in ihrer Rolle als dienstbare Geister, die Männern den Rücken stärkten, oft wurden sie danach stehen gelassen, fanden sie wohl insgeheim eine Genugtuung. Ein Ausbruchversuch wurde so zum Einbruch. So schräge Sprüche, wie das hier gerade, habe ich übrigens noch nie bei einer Frau gehört.
Das trauten sie sich nicht. Aufmüpfigkeit wurde mit Ausgrenzung bestraft. Eigentlich war es eine enge, kleinbürgerliche Welt, in der wir uns bewegten. Ohne es zu wollen, die Blues-und Hippiebewegung wollte ja mit Überkommenem brechen, hatten wir unbewusst die Moralvorstellungen unserer Eltern übernommen.
In solche Fußtapfen zu treten, es genauso zu machen wie die anderen Girls in meinem Umkreis, hatte ich absolut keinen Bock. Ich hatte keine Lust mich in die Reihe der willigen Frauen einzureihen. Man könnte mir jetzt vorwerfen: „Du hast nicht gekämpft um ihn.“ Ich darauf: “Was ist das denn? Darunter versteht man doch nur, dass man bereit ist, es in Kauf zu nehmen, sich total zum Heinz zu machen.“ Ich hatte mich schon oft genug blamiert, das musste nicht noch einmal mehr sein. „Ich werde kein dienstbarer Geist“, dachte ich. „Den Gefallen tue ich euch nicht.“
Er schlug eigentlich den normalen Weg ein, den vor ihm viele Kumpels von mir gegangen waren. Nach einer heftigen Jugendphase, schon mit zwölf war er von seinem älteren Bruder zu Konzerten mitgenommen worden, ließ er es jetzt mit Anfang Zwanzig ruhiger angehen.
Wahrscheinlich hatte es sich bald erledigt mit Blues und Haligali. Aus ihm würde in Bälde ein normaler junger Mann werden, der sich noch gern an die wilden Zeiten erinnerte. Und ich hatte eigentlich angenommen, dass er mal der King von seiner ganzen Gegend werden würde. Trotz seiner Intelligenz war er sehr kleinbürgerlich. Wahrscheinlich war ich in seinen Augen, mit meinen 27, auch auf dem besten Wege, als sitzengeblieben zu gelten, und er dachte, dass er wahrscheinlich ein Strohhalm für mich war, den ich ergreifen wollte.
Aber trotzdem er langsam ins Kleinbürgerliche reinrutschte, trotzdem er nicht der war, für den ich ihn gehalten hatte, trotz seiner Verwandlung aus einem tiefgründigen, zu vielfältigen Hoffnungen Anlaß gebenden zu einem witzigen, gutaussehenden, aber leider einem, der mit dem, den ich gekannt hatte, nicht mehr viel zu tun hatte, Mann, und obwohl ich Zeugin seiner Gewaltausbrüche geworden war, liebte ich ihn. Aber er mich nicht mehr.
Zum Schluß ein Zitat von Mary MacLane, einer amerikanischen Feministin.
„Aber ich bin noch zu jung, um an Frieden zu denken. Friede ist nicht, was ich will. Friede ist was für Vierzig- oder Fünfzigjährige. Ich warte auf meine Erfahrung. Ich erwarte die Ankunft des Teufels.“
*Hadschi Gajka verheiratet sein Mädchen
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