Rudolphs perfekte Welt

VeraL

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Erik, das Rentier, konnte es nicht glauben. Er war in New York. In einem schicken Hotel mit Blick auf den verschneiten Central Park und die glitzernden Lichter der Hochhäuser. Vor zwei Tagen hatte er gedacht, dass er nicht an der großen Weihnachtsparade teilnehmen würde. Er hatte sich bei einem Skiunfall das Geweih verbogen und sollte zu Hause bleiben, weil nur makellose Rentiere bei der Parade Santas Schlitten ziehen durften. Aber dann hatte er Santa Claus das Leben gerettet und der hatte ihm einen Ehrenplatz angeboten. Jetzt lag er im wohlig temperierten Whirlpool seiner Suite und futterte feinste Marzipankartoffeln. Alles war perfekt. Da hörte er einen grellen Schrei aus der Nachbarsuite.

Erik sprang aus dem Whirlpool, wickelte sich notdürftig ein Handtuch um und rannte zur Verbindungstür. Um die nassen Flecken, die er auf den kostbaren Teppichen hinterließ, kümmerte er sich nicht. Dieser Schrei hatte mindestens nach einem Mord geklungen. Ein niedergemetzeltes Rentier einen Tag vor der großen Parade? Das war ein Fall für Erik, den Retter von Santa. Er stieß die Tür auf. Aus dem Bad des Apartments hörte er lautes Jammern.
»Ich bin schon da, wo ist die Leiche?«
Comet stand mit einem Glätteisen in der Hand da und schaute ihn entsetzt an. »Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Guck dir an, was passiert ist. Das ist das Ende. Ich wünschte, ich wäre die Leiche.«
Erik war verwirrt. »Ich seh nix. Warum schreist du denn wie am Spieß?«
Comet drehte sich um: »Guck, da!«
Erik musste sich das Lachen verkneifen. Comet drehte sich um. Sein Fell, das makellos geglättet und shampooniert war, hatte auf der Hinterseite ein dickes Brandloch.
Comet schluchzte. »Ich hab nur kurz nicht aufgepasst, da ist mir das Glätteisen zu heiß geworden.«
»Ach, ist doch nicht so schlimm, du kannst mit Cupid die Plätze tauschen. Dann ist die Stelle innen und wird keinem auffallen.«
»Bist du verrückt. So lässt Rudolph mich niemals mitmachen. Wenn er das sieht, sperrt er mich für alle Paraden, weil ich nicht würdig bin. Du kennst ihn doch.«
Da musste Erik dem weinendem Rentier leider recht geben. Rudolph war das berühmteste Rentier. Er hatte eine auffallend rote Nase, auf die vor Jahren ein amerikanischer Sänger aufmerksam geworden war. Der hatte ihm eine traurige Kindheit angedichtet und daraus ein Lied gemacht. Ewig lange hatten alle immer nur Rudolph sehen wollen. Doch jetzt leuchtete seine Nase nicht mehr. Er war in die Jahre gekommen und hatte sich einen Glögg-Bauch angetrunken. Seinen Frust ließ er an den anderen Rentieren aus. Er war als Santas rechte Hand für die Paraden zuständig und schikanierte die anderen mit gnadenlosen Regeln.
Comet rollte sich auf dem Bett zusammen. »Sag Rudolph, dass ich eine Grippe hab. Dann hab ich vielleicht nächstes Jahr eine Chance.«

Erik trabte zurück in seine Suite und trocknete sich ab. Dabei überlegte er. Ob jemand mit Rudolph reden könnte? Er sicher nicht. Rudolph war nicht gut auf ihn zu sprechen, weil er trotz stumpfen Fells, des verbogenen Geweihs und einer dank der Marzipankartoffeln nicht mehr so idealen Figur bei der Parade dabei sein durfte. Dasher und Dancer könnten ihm helfen. Die beiden waren die Lieblinge des Chefrentiers. Er ließ sie immer vorne laufen.

In dem Apartment, das die beiden sich teilten, roch es nach Geweihpolitur. Dancer stand vor dem Spiegel und verteilte mit einem Mikrofasertuch das fiese Zeug auf seinem Geweih. Dasher lag auf einer Yogamatte und machte Pilates. Erik war etwas neidisch. So hoch wie Dasher hatte er sein Bein nie bekommen. Keiner der beiden beachtete ihn.
»Hey, Jungs, was geht? Wollt ihr eine Marzipankartoffel? Die sind köstlich.«
Dasher verhedderte sich vor Schreck in seinem Theraband. »Bist du verrückt? Ich esse ausschließlich rohes Gemüse. Und drei Tage vor der Parade trinke ich nur lauwarmes Wasser. Im Fernsehen sieht man jedes Gramm zuviel und außerdem sind Süßigkeiten nicht gut für die Haut.«
»Ach komm, ihr habt doch Fell, wen interessiert eure Haut? Die sieht doch keiner.«
Dasher und Dancer wiederholten gleichzeitig Rudolphs Credo: »Wahre Schönheit lebt von Perfektion.«
Dancer gab einen weiteren Schuss Politur auf sein Tuch. »Was willst du eigentlich?«
Erik steckte die Marzipankartoffeln wieder ein. »Es geht um Comet. Ihm ist ein kleines Missgeschick mit dem Glätteisen passiert und ich wollte fragen, ob ihr Rudolph überreden könnt, damit er trotzdem mitmachen darf. Ehrlich, die verbrannte Stelle sieht man kaum.«
Dancer sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Er hat sich das Fell verbrannt? Oh Gott, Rudolph hat uns so oft vor den Dingern gewarnt. Da ist er selbst schuld. Die ganze Arbeit umsonst. Tragisch.«
Dasher verbog sich wieder auf der Yogamatte. »Das ist furchtbar für Comet. Aber da wirst du bei Rudolph auf Granit beißen.«

Auf dem Weg zu seiner Suite kippte Erik sich vor lauter Frust die restlichen Marzipankartoffeln in den Mund. Diese verblendeten Sturköpfe. Die hatte Rudolph einer Gehirnwäsche unterzogen. Hinter einer Tür hörte er ein lautes Kichern, das direkt von anderen Stimmen zum Schweigen gebracht wurde. Ohne zu Klopfen stieß er die Tür auf. Die drei Rentiere auf dem Sofa starrten ihn verschreckt an und versteckten etwas hinter ihrem Rücken. Ihre Nasen waren auffällig rot.
»Trinkt ihr hier etwa heimlich Glögg, oder was?«
Donner versuchte, alles abzustreiten, aber Blitzen und Prancer kicherten und schwenkten die Flasche. »Willst du ein Glas?«
Zu viert machten sie es sich im Pool gemütlich und Erik erzählte, was Comet passiert war.
Die anderen nicken verständnisvoll, aber Donner sagte: »Tja, was sollen wir gegen Rudolph machen? Er hat Santas vollstes Vertrauen. Und selbst, wenn Comet auf der anderen Seite fliegt. Stellt euch vor, jemand macht ein Foto von der Stelle im Fell und stellt es ins Internet.«
Alle vier schnappten entsetzt nach Luft.
Erik schenkte sich ein Glas ein. »Ich habe einen Plan, aber ihr müsst mir helfen und die anderen überreden.«

Als Rudolph am nächsten Morgen vor der Parade seine Rentiere inspizieren wollte, bekam er Schnappatmung. »Was ist mit euch passiert? Seid ihr verrückt geworden?«
Dasher und Dancer sahen wie immer tadellos aus, aber Comet stand tapfer außen und hatte ein rotes Herz aus Lippenstift um die verbrannte Stelle gezogen. Blitzen trug einen bunten Schal, weil er sich nicht erkälten wollte. Prancer und Donner hatten einen leichten Bauchansatz, weil sie gestern das Buffet geplündert hatten. Cupid hatte auf die künstlichen Wimpern verzichtet und Vixen trug sein Fell lockig statt geglättet. Niemand sah perfekt aus.
Erik sagte: »Tja, wenn du uns nicht mitnehmen willst, bleiben wir hier und schauen uns die Parade im Fernsehen an. Erklär das mal Santa.«
Rudolph schrie so laut, dass den vorderen Rentieren die Spucke ins Gesicht flog: »Alle werden euch auslachen. Ich werde euch bestrafen. Ich werde …«
In dem Moment betrat Santa den Raum und alle verstummten. Selbst Rudolph nahm Haltung an. Santa ging an den Rentieren vorbei und streichelte jedes Einzelne. Vor Comets Herzbrandfleck blieb er einen Moment nachdenklich stehen. »Ihr seht wunderbar aus, meine Süßen. Ihr strahlt ja noch mehr als sonst. Die Kinder werden begeistert sein. Und nun hopp!«
 



 
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