Rückkehr

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An einem Freitagabend in der Bar eines Hamburger Hotels, irgendwo zwischen der Speicherstadt und dem Hauptbahnhof. Das gediegene Interieur dieses Nachtlokals verstärkt die behagliche Atmosphäre, die dezente Hintergrundmusik rundet dieses Ambiente ab. Verhaltenes Lachen und moderate Stimmengeräusche der wenigen Gäste erlauben es, sich in gedämpfter Lautstärke zu unterhalten, so wie es Oswaldo Buñuel aus Montevideo gerade tut. Er ist in ein Gespräch mit der Bardame Martina vertieft.

Der ältere Herr aus Uruguay weilt zum ersten Mal seit fast vierzig Jahren wieder in seiner deutschen Heimat, er ist der Einladung zum fünfzigsten Jahrestag der Schulentlassung gefolgt. Für ihn, früher Oswald Bünder, ist es die erste Teilnahme an solch einem Ehemaligentreffen. Auf dem Wege einer aufwändigen Internetrecherche hat eine frühere Mitschülerin seine Anschrift in seiner mittlerweile nicht mehr ganz so neuen Heimat Uruguay ermittelt. Dies war vor einigen Jahrzehnten nicht einmal seinem damaligen Arbeitgeber, den Angehörigen oder den deutschen Behörden gelungen, wohl deswegen, weil damals nur simplere Technik zur Verfügung stand. Es lag aber auch kein polizeilicher Fahndungsdruck vor; Oswald galt ganz einfach als verschollen. Sein letzter bekannter Aufenthalt war allerdings auch nicht Montevideo in Uruguay gewesen, sondern ein Hotel in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Hier war er während einer Geschäftsreise abgestiegen, und verschwand, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben. Wenige Tage vor diesem Ereignis hatte Oswald in Buenos Aires die junge Witwe und Tochter eines Schuhhändlers in Montevideo, Olivia Moreno, kennengelernt und sich in diese verliebt. Er folgte seinem Gefühl und dieser attraktiven Frau in deren Heimat und ließ sein vorheriges Leben hinter sich, komplett, einfach so.

Dass diese Verbindung dann viele Jahre bestanden hatte, war ungewöhnlich für Oswald. Frühere Beziehungen, keine länger als wenige Monate anhaltend, waren stets seitens seiner Partnerinnen beendet worden; der Grund war immer der gleiche: Oswald Bünder hatte ein emotionales Problem, er konnte seine innersten Gefühle gegenüber seinen Partnerinnen nicht ausdrücken, er blieb gefühlsmäßig verschlossen. Mit Olivia war es anders, seine affektive Unzulänglichkeit war hier nie ein Thema. Das Ende ihrer Beziehung hatte andere Gründe, sie hatten sich ganz einfach entliebt.

In den Jahren bis zu seinem Ruhestand hatte Oswaldo Buñuel die materielle Grundlage für ein entspanntes Leben geschaffen. Häufig ging er dabei seinem Hobby nach, Hochseeangeln vor der Küste des Seebades Punta del Este. Das Ferienhaus dort wurde sein seelischer Ankerplatz. Hier fand er Muße zum Lesen und vor allem zum Nachdenken. Er ertappte sich häufig dabei, Fragen zu beantworten, die nie gestellt worden waren. Zum Beispiel, wo in seinem Leben er falsch abgebogen sein könnte? Er fand zwar Anhaltspunkte auf Kipppunkte in seiner Vita, konnte jedoch keine möglichen anderen Optionen seines Lebenswegs realistisch zu Ende denken, dafür reichte seine Fantasie nicht aus. So wandte Oswaldo sich der Philosophie zu und hoffte, hier hypothetische Ansätze zum besseren Verständnis seines Daseins zu finden. Und an solch einem grüblerischen Tag erreichte ihn eine Einladung zu einem Schülertreffen nach Hamburg. Er zögerte. Seine seltenen nostalgischen Anwandlungen hatten sich nie auf die Schulzeit bezogen, an die hatte er lediglich verschwommene Erinnerungen. Oswald Bünder war ein guter, aber unauffälliger Schüler gewesen, es gab für ihn keinen Grund, irgendetwas aus dieser Zeit aufzuarbeiten. Dennoch sagte er zu und reiste nach Deutschland. Diese Einladung hatte ein bislang verborgenes Verlangen zur Anknüpfung an sein früheres Leben erweckt.

Das Treffen mit den ehemaligen Schulkameraden verlief wie er es erwartet hatte. Es war ein netter Tag gewesen, nett im Sinne von freundlich, belanglos. Den Rest des Abends verbrachte er dann in der Cocktailbar seines Hotels. Das Gespräch mit der Bardame Martina, einer attraktiven Brunette im mittleren Alter, verlief wesentlich inspirierter als die Gespräche bei dem Treffen, wo es meist um die Frage, „Weißt Du noch?“, gegangen war. Mit einer ihm unbekannten Leichtigkeit unterhielt er sich in der Bar, ohne in die Peinlichkeit zu geraten, für einen einsamen, auf der Suche nach einem Abenteuer für eine Nacht befindlichen alten Mann gehalten zu werden. Doch ohne jede Absicht wandelte sich das Verhältnis zwischen den beiden in Richtung Zuneigung. Sie waren sich näher gekommen und spürten von Anbeginn an eine zugewandte Vertrautheit. So verließen Oswaldo und Martina nach deren Dienstschluss gemeinsam das Hotel, um die Nacht bei ihr Zuhause zu verbringen. Martina folgte dabei der Direktive, sich nicht privat mit Hotelgästen auf deren Zimmer zu treffen. Den Ort gemeinsam per Taxi zu verlassen, wollte sie ebenfalls vermeiden, und so trafen sie sich in kurzer Distanz vom Hotel entfernt.

Als sie beide zum nahen Taxistand gehen wollten, wurden sie durch Hilferufe einer Frau aufgeschreckt. Sie sahen, dass diese von zwei Gestalten in gewalttätiger Absicht bedrängt wurde. Oswaldo eilte dort hin und bevor er in irgendeiner Weise einschreiten konnte, erhielt er einen Faustschlag mitten ins Gesicht und ging blutend zu Boden. Die herangeeilte Martina wurde von einem der Täter zu Boden gestoßen und prallte mit dem Hinterkopf auf einen Fahrradständer. Sie blieb bewusstlos dort liegen. Später in der Notaufnahme einer Klinik, Oswaldo war gerade frisch versorgt worden, kam eine Pflegekraft auf ihn zu und fragte, in welchem Familienverhältnis er zu der Verletzten, Martina Missmut, stünde. Er hätte schon fast mit, Bekannter, geantwortet, als ihm bei Nennung des Familiennamens ein Hitzestrom den Nacken heraufschoss. Es war der Name Missmut, ein extrem seltener, den er zuvor lediglich ein einziges Mal gehört hatte, bei einer engen Freundin früherer Tage, Marianne Missmut, die sich hochdramatisch und für ihn unvorhersehbar von ihm getrennt hatte. Und dann diese irrational spontane Vertrautheit mit Martina. Oswaldo wurde schwindelig bei dem Gedanken, möglicherweise nur einen Faustschlag weit davon entfernt gewesen zu sein, einen Inzest mit seiner leiblichen Tochter vollzogen zu haben.
 



 
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