Russische Seele

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Russische Seele
Fritz ist melancholisch! Ja, Fritz trägt tatsächlich jenen deutschesten aller Namen. „Fritz and Krauts“, eine alte Formel für das Deutschtum schlecht hin, hatte etwas mit ihm zu tun. Nein, er ist nicht begeistert darüber, daß seine Eltern ihm diesen Namen gegeben haben; aber sein Großvater hieß nun mal so und seit es in seiner Geburtsurkunde steht heißt auch er offiziell Gottfried, kurz Fritz. Seit seiner Taufe ist er sogar ein rheinisch-katholischer Fritz, aber das macht es auch nicht schlimmer. Seinen Frieden mit Gott zu machen hat ja auch seine Vorteile. Für gewöhnlich steht man ja erst kurz vor dem Ableben vor dieser Aufgabe, aber da kann es ja sicher nicht schaden, wenn man die Erledigung der Aufgabe schon im Namen trägt. Jedenfalls ist Fritz heute melancholisch. Es hat mit dem Wetter zu tun, natürlich, aber auch mit der Erde und den Nachbarinnen; aber immer der Reihe nach. Es ist Sommer. Für den westlichsten Zipfel von Deutschland sogar ein relativ guter. Deshalb ist auch die Ernte üppig und gar nicht so deutsch wie die Erde oder sein Name. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen der Geschmack der Menschen, auch der Deutschen. Fritz hat geerntet, unmittelbar nach dem Sommergewitter. Schon nach fünf Minuten Regen war die Luft voller Erdgeruch. Außerdem schluckte der Regen die Wärme, es wurde angenehm. Kaum war es trocken und der Himmel ließ am Horizont blaue Fetzen erkennen, machte Fritz sich an die Ernte. Ganz deutsch fing er an: Kartoffeln, Kohl, Kohlrabi, Zwiebeln, Möhren. Doch auch Tomaten dann, Zuchini, Majoran, Thymian, Basilikum, Liebstöckel, Bohnenkraut. Morgen kauft er eine ordentliche Beinscheibe und dann gibt es eine herrliche „Quer-durch-den-Garten“ oder neudeutsch „Minestrone“. Wahrscheinlich reichen die Kräuter auch noch für eine Pesto; schöne Grüße vom Mittelmeer. Das Fahrrad trägt Fritz nach Hause. Die Ernte macht Durst. Fritz hat den Durst gelöscht, kaum daß er die Scholle verlassen hatte. Nicht nur Deutsch hat er den Durst gelöscht, sogar bayrisch, mit Weißbier. Nein, ich gebe Fritz recht, im Sommer, wenn man Durst hat und ein Kulturgetränk zu sich nehmen will, dann gibt es neben Weißbier nicht sehr viele Alternativen. Jedenfalls hat es an dem alten Holztisch unter der Laube sehr gut geschmeckt. Die erste Flasche und die zweite auch. Und weil kurz nach der Ernte schon der nächste Regenschauer kam und er eh warten mußte, hat er dann auch noch einen Wodka dazu genommen, denn der ist gut für die Seele, auch für die deutsche. Jetzt ist es gut, daß das Fahrrad Fritz trägt, denn die Ernte wiegt und eine gepflegte Seele alleine bringt die Ernte nicht ein. Auch bleibt dem Fritz so Zeit zum träumen auf dem Heimweg. Der Kontakt mit der Erde und ihren Früchten pflanzt in ihm nämlich immer so ein Gefühl, daß er ans Träumen kommt. Nichts konkretes träumt er, es ist mehr so ein Gefühl, das sich in ihm breit macht. So eine Mischung aus Heimat und Sehnsucht und Zufriedenheit und Optimismus und Vergangenheitsschmerz. Es ist eine süße Melancholie.
Ausgerechnet jetzt, da er mit diesem Gefühl nach Hause kommt und seine vegetablen Schätze in der Küche ausbreitet, sogar ein paar Sonnenblumen sind dabei, hört er in der Nähe einen weiblichen Gesang. Er öffnet das Fenster und lauscht. Es kommt aus der Wohnung der Nachbarn, von den Russen. Die Männer sind, wie so oft, wahrscheinlich nicht da, denn er hört nur die Stimmen der Frauen. Die singen laut und wehmütig. Fritz glaubt die Sehnsucht nach der Heimat zu hören, auch wenn es keines der slawischen Wörter versteht. Drei verschiedene Stimmen hört er heraus, während er am Fenster steht und lauscht. Dann ist das Lied zu Ende und die Frauen lachen und sprechen ein wenig. Dann klingt ein anderes Lied an. Versonnen steht Fritz am Fenster und hört zu und seufzt. Die singenden Russinnen, wie Nahrung für seine Melancholie. Schließlich ist es unerträglich schön. Er schnappt sich die Wodkaflasche aus dem Kühlfach und geht die Treppe hinunter. An der Wohnung der Russen hält er an und drückt nach einer Sekunde des Zögerns auf die Klingel. Das Singen verstummt. Dann erscheint die Russin, deren Name an der Klingel steht, an der Tür, die sie scheu nur einen Spalt weit öffnet. Fragend sieht sie Fritz an. „Doswedanje,“, radebrechert Fritz, „ich höre ihrem Gesang schon eine Weile zu und ich dachte mir, sie hätten vielleicht ein bißchen Durst von der Singerei.“ Damit schwenkt er die Wodkaflasche in Augenhöhe. Hinter der Nachbarin tauchen jetzt noch zwei weitere neugierige Gesichter auf und es kommt zu einer kurzen, Fritz unverständlichen, Diskussion. Dann öffnet die Nachbarin die Tür und macht eine einladende Handbewegung. Fritz geht mit den Frauen zusammen in die Küche. Dort sieht es anders aus, als seine harmonie- und klischeesüchtige Melancholie es ihm in den Kopf gesetzt hat. Er hatte einen Küchentisch voller Lebensmittel erwartet, doch auf dem Tisch stehen nur Aschenbecher mit ausgedrückten Zigarettenstummeln darin. Fritz setzt sich auf den angewiesenen Platz und zwei Frauen setzen sich ebenfalls an den Tisch. Die Hausfrau holt Gläser aus dem Schrank. Auch dieser entspricht nicht Fritz' Idealvorstellungen: Kunststoff statt Holz. Die Gläser kommen klirrend auf dem Tisch zu stehen und Fritz füllt sie. Die Frauen lachen. Nur die Nachbarin versteht ein bißchen Deutsch, ihre beiden Freundinnen sind auf ihre Übersetzungen angewiesen, wenn Fritz etwas sagt. Fritz lobt den Gesang während er einschenkt und obwohl alle am Tisch sitzenden Personen das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet haben dürften, kommt Fritz die Szene sehr alt, sehr archaisch vor. Fritz hebt sein Glas. „Nastrowje“, ruft er heiter. Die Frauen stimmen ein, die Gläser werden geleert und Fritz schenkt nach.
Später weiß er nicht mehr, wie oft das so ging. Nach einer Weile haben die Frauen jedenfalls wieder gesungen und die Nachbarin hat ihm von der russischen Heimat erzählt. Sie seien Deutsche, natürlich, aber ihre Wurzeln hätten sich in russischer Erde gebildet. Ob er das verstehen könne, wollte die Frau von ihm wissen. Fritz bejahte ohne einen Moment des Zögerns. Wenn er das verstehen konnte, dann heute, wo die Luft noch voll vom Geruch der feuchten Erde war und an seinen Fingern noch das Aroma der geernteten Kräuter haftete. Die Frauen schienen froh über seine Antwort zu sein, denn sie lächelten. Erst die Nachbarin und nach der Übersetzung auch die beiden anderen. Wieder wurde gesungen und getrunken, schließlich auch getanzt. Zwischendurch gab es Schmalzbrote und irgendwann lag die Flasche offen auf dem Tisch. Nach dem Regen des Tages kroch nun am Abend die Hitze wieder aus dem Boden und nicht nur in Fritz Kopf wurde es schwül. Eine sexuelle Spannung kam auf. Die Frauen kicherten und Fritz bemühte sich um Haltung. Dann reißt der Erinnerungsfaden ab.
Jetzt liegt Fritz auf seinem Sofa. Draußen ist es hell und heiß. Fritz hat Kopfweh und keine Ahnung, wie er in seine Wohnung gekommen ist. Er denkt an die Russinnen und fragt sich, was er wohl alles nicht weiß von ihnen und von der letzten Nacht. Dann schleppt er sich ins Bad und nimmt ein deutsches Aspirin und spült es mit viel Wasser aus den französischen Alpen runter. Er nimmt die Flasche mit und stellt sie neben das Sofa, auf das er sich wieder legt. Dann denkt er noch, daß er trotz seines so deutschen Namens eine russische Seele hat und schläft ein.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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