Wotawa
Mitglied
1983 hörte ich sie zum ersten Mal. In Mittelamerika.
Ich war ein junger zorniger Mann, den Kopf voll politischer Flausen, als mir ein Freund anbot, mit einer Gruppe gleichgesinnter Dummköpfe drei Monate nach Nicaragua zu reisen. »Internationale Erntebrigaden« nannte sich das Projekt – Dutzende junger, politisch verblendeter Idealisten, die sich bereit erklärten, in das, vom jahrelangen Bürgerkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogene Land zu reisen, um dort entweder auf den Zuckerrohrfeldern oder den Kaffeeplantagen freiwillig zu arbeiten. Aus Gründen der internationalen Solidarität, wie man uns weismachte. Ich sagte zu, Idiot der ich war, aber nach wie vor gilt: Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit vierzig noch immer einer ist, kein Hirn.
Nach einer Woche politischer Indoktrination im halb zerstörten Managua wurden wir an die Grenze zu Honduras gebracht, wo wir in einer Kaffeeplantage zehn Stunden pro Tag arbeiteten und die Nächte in Hängematten verbrachten. Streng bewacht von einer weiteren Gruppe internationaler Hitzköpfe, deren politische Zuverlässigkeit sich daran zeigte, dass sie mit Gewehren aus Restbeständen der ostdeutschen Volksarmee bewaffnet waren. Zu unserem Schutz vor den Contras, die immer wieder über die Grenze kamen, um die Campesinos zu überfallen und die Ernte zu vernichten.
Es war die vorletzte Nacht. Ich konnte nicht schlafen, obwohl ich todmüde war. Die Moskitos, die Geräusche des Urwaldes, an die ich mich nie gewöhnen konnte, der Zuckerrohrschnaps, der mir den Magen verätzte und sicher auch Sarah, die rothaarige irische Studentin, mit der ich mein Lager teilte, hielten mich wach. Also ging ich ein Stück bis zum Rande des Dschungels, als ein gellender Schrei die Ruhe der Nacht zerfetzte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er war so schneidend, dass ich für einen Moment dachte, mir fliegt die Schädeldecke weg.
Ich lief zurück in das Lager, dort war alles ruhig, einer der beiden wachhabenden Soldaten schlief, vom zweiten war nichts zu sehen. Zitternd kam ich in den Verschlag zurück, den ich mir mit Sarah teilte. Die war wach und sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an.
»Du hast es also auch gehört?«, fragte ich.
Sie sah sie mich überrascht an. »Du etwa auch?«
»Ja, aber wir sind anscheinend die Einzigen«, antwortete ich, »denn der Rest des Lagers dürfte nichts davon mitbekommen haben.«
Sarah war so bleich geworden, dass ich im Schein der Gaslampe nicht mal eine von den hunderten Sommersprossen in ihrem Gesicht erkennen konnte.
»Was war das? Irgendein wildes Tier?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, kein Tier. Es war eine Banshee.«
»Eine was?«
»Eine Banshee, eine Todesfee.«
»So ein Quatsch!«, rief ich aus, »Wer glaubt denn an solche Ammenmärchen?«
»Du«, antwortete sie trocken.
»Nie im Leben! Ich bin Agnostiker, wie jeder anständige Linke.«
»Wenn du sie gehört hast, dann glaubst du an sie«, behauptete Sarah weiter, »mehr noch, du bist einer von uns. In deinen Adern fließt keltisches Blut. Hast du Verwandte in Irland oder Schottland?«
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte ich barsch, »und jetzt lass mich in Ruhe mit diesem bürgerlich-mystischen Humbug.«
Am nächsten Tag fand man den zweiten Wachmann mit durchschnittener Kehle am Rande das Lagers. Es war Thomas O’Sullivan, ein Genosse aus Dublin.
Sarah und ich sprachen erst wieder über den Vorfall, als wir im Flugzeug zurück nach Europa saßen. Was denn eine Banshee sei, hatte ich sie gefragt, denn jene Nacht, ließ mich nicht mehr in Ruhe. Und nicht, weil einer von uns tot war, damit war ja zu rechnen, wenn man in einem Bürgerkriegsland Held spielte, sondern wegen dieses markerschütternden Schreis.
Banshees, so erzählte mir Sarah, seien mystische Wesen, Geisterfrauen, Feen nicht unähnlich, deren Erscheinen den Tod eines Menschen ankündigte, die aber auch die Körper und Kleider gefallener Kämpfer noch am Schlachtfeld reinigten.
Ich erinnerte mich, dass an der Uniform O’Sullivans, kein Tropfen Blut war, obwohl seine Kehle durchgeschnitten wurde. Dem deutschen Medizinstudenten, der unser Sanitäter war, schien das nicht aufzufallen und auch der Militärarzt der sandinistischen Soldaten verlor kein Wort darüber.
»Allerdings könnten sie nur von Menschen gehört werden, die keltisches Blut ins sich tragen«, fuhr Sarah fort und sah mich lange an. »Deine Vorfahren kommen aus Irland oder Schottland. Wie meine!«
Ich antwortete nicht mehr darauf. Mir war das Ganze zuwider und ich wollte mit dem esoterischen Schwachsinn nichts zu tun haben. Aber Sarah hatte Recht: Ich war das Ergebnis eines Urlaubsflirts meiner Mutter, die Anfang der sechziger Jahre einige Wochen auf der Isle of Man in der Irischen See verbracht hatte.
Sarah und ich trennten uns in London, wissend das wir einander vermutlich nie wieder sehen würden. Als wir uns ein letztes Mal umarmten, sagte sie: »Wenn du der Banshee nochmal begegnest, und das wirst du, mo dheartháir, mo ghrá geal, dann sieh ihr niemals in die Augen!« Dann ging sie.
Zurück in Wien begann ich ein Medizinstudium und beendete es sogar, entgegen allen Prophezeiungen meiner Mutter. Ich begann mich von den politischen Ideen meiner wilden Zeit zu distanzieren und ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Medizin hatte mich gepackt und ich liebte meinen Beruf. Besonders als ich die Gelegenheit bekam für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten. Dort trafen meine Ideale einer menschlicheren Gesellschaft auf eine sinnvolle Tätigkeit. Die gruselige Story in Nicaragua verdrängte ich in meinem Hinterstübchen. Aber dort blieb sie nicht.
Ich hörte den Schrei der Banshee wieder. 1996 in Kroatien, als ein Jeep der UNO-Hilfstruppen von einer Landmine zerfetzt wurde und die drei Insassen darin starben. Der Fahrer hieß Kevin MacLaughlin, anders als alle anderen Opfer, war an seiner Kleidung kein Blut zu finden. 1999 vor der Schlacht um Grosny, an der sich auf russischer Seite eine Gruppe Söldner aus dem Commonwealth beteiligte – darunter ein Steven Finnigan aus Kilkenny. 2003 im Irakkrieg, nahe Umm Kasr, jener Hafenstadt, die die Briten im Alleingang einnahmen. Mike O’Hara, und Sean Vonn, hießen die beiden Jungs, die ich aus einem Panzer holte. 2008 in Afghanistan, vier Krankenschwestern aus Edinburgh, 2011 in Syrien einen Kollegen der Ärzte ohne Grenzen aus Londonderry und 2015 einen Berater der US-Army bei der saudi-arabischen Militärintervention im Jemen. Kein Ire, nein, aber sein Urgroßvater war hundert Jahre zuvor aus Galway in die Staaten gezogen. Und alle unbefleckt und sauber, als stünden sie in ihrer Galauniform vor einem General.
Die Schreie der Banshee waren am Anfang schlimmer als jene der verletzten Soldaten und Zivilisten, die ich in den Lazaretten versorgte. Und sicher trugen sie einen großen Anteil daran, dass mein Haar schon früh ergraute. Aber als ich zu akzeptieren begann, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen gestern und morgen, zwischen mir und den anderen gab, als mein dialektisch und wissenschaftlich geschultes Gehirn zu verstehen vermochte, legte sich das Grauen vor dem Schrei der Todesbotin. Mehr noch, es schien mir vertraut, ja fast zuversichtlich zu klingen, dass auch ich eines Tages im Angesicht meines Todes, wenn er denn auf einem Schlachtfeld stattfinden sollte, gewaschen und gesalbt, geküsst und betrauert wurde, und meine Seele von meiner Banshee in die Anderswelt geleitet werden würde.
Und dann kam ich 2023 in den Sudan. Der Auftrag war einfach – ich sollte die Logistik zum Aufbau eines Lazarettes leiten, das war bereits seit über zehn Jahren meine Hauptbeschäftigung. Das und junge Ärzte auf den Einsatz vorzubereiten. Wenn das mal stehen würde, wäre ich entlassen und könnte wieder nach Hause. Im Oktober würde ich sechzig sein und dann in Rente gehen und mich nur mehr Dingen widmen, die nichts mit Krieg und Tod zu tun hatten.
Es war der achte Tag meines Einsatzes, als ich ihren Schrei hörte, der letzte, den sie mich hören ließ. In der Wüste, knapp vor al-Faschir. Im Umkreis von dreihundert Kilometer waren keine europäischen Truppen oder Söldner, nichts. Einfach niemand. Ich legte meinem Fahrer die Hand auf die Schulter und bat ihn stehen zu bleiben. »Du bist nicht zufällig Ire oder Schotte?«, fragte ich scherzend den Sudanesen. Er verstand kein Wort. Ich lachte. »Gut, fahr weiter.«
Es schien, als würde ich mich in einem Standbild befinden. Der Fahrer sah mich an, als wäre ich nicht da. Ich ihn ebenfalls. Ich wollte etwas sagen, aber da kam kein Ton aus meiner Kehle. Vor uns auf der Straße stand eine Frau, eine Frau, die nicht hierher passte. Die keinen Tschador trug, sondern ein weißes langes Hemd. Die keine langen schwarzen Haare hinter einer hohen braunen Stirn hatte, sondern rote Locken. Und Sommersprossen. Hunderte.
»Was in aller Götter Namen!«, rief ich aus und sprang aus dem Jeep.
Und noch einmal hörte ich ihren Schrei, während hinter mir der Jeep detonierte.
Dann lag ich im Sand und spürte, wie mein Kopf hochgehoben wurde und Sarah mir das Blut aus dem Gesicht wusch.
Ich war ein junger zorniger Mann, den Kopf voll politischer Flausen, als mir ein Freund anbot, mit einer Gruppe gleichgesinnter Dummköpfe drei Monate nach Nicaragua zu reisen. »Internationale Erntebrigaden« nannte sich das Projekt – Dutzende junger, politisch verblendeter Idealisten, die sich bereit erklärten, in das, vom jahrelangen Bürgerkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogene Land zu reisen, um dort entweder auf den Zuckerrohrfeldern oder den Kaffeeplantagen freiwillig zu arbeiten. Aus Gründen der internationalen Solidarität, wie man uns weismachte. Ich sagte zu, Idiot der ich war, aber nach wie vor gilt: Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit vierzig noch immer einer ist, kein Hirn.
Nach einer Woche politischer Indoktrination im halb zerstörten Managua wurden wir an die Grenze zu Honduras gebracht, wo wir in einer Kaffeeplantage zehn Stunden pro Tag arbeiteten und die Nächte in Hängematten verbrachten. Streng bewacht von einer weiteren Gruppe internationaler Hitzköpfe, deren politische Zuverlässigkeit sich daran zeigte, dass sie mit Gewehren aus Restbeständen der ostdeutschen Volksarmee bewaffnet waren. Zu unserem Schutz vor den Contras, die immer wieder über die Grenze kamen, um die Campesinos zu überfallen und die Ernte zu vernichten.
Es war die vorletzte Nacht. Ich konnte nicht schlafen, obwohl ich todmüde war. Die Moskitos, die Geräusche des Urwaldes, an die ich mich nie gewöhnen konnte, der Zuckerrohrschnaps, der mir den Magen verätzte und sicher auch Sarah, die rothaarige irische Studentin, mit der ich mein Lager teilte, hielten mich wach. Also ging ich ein Stück bis zum Rande des Dschungels, als ein gellender Schrei die Ruhe der Nacht zerfetzte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er war so schneidend, dass ich für einen Moment dachte, mir fliegt die Schädeldecke weg.
Ich lief zurück in das Lager, dort war alles ruhig, einer der beiden wachhabenden Soldaten schlief, vom zweiten war nichts zu sehen. Zitternd kam ich in den Verschlag zurück, den ich mir mit Sarah teilte. Die war wach und sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an.
»Du hast es also auch gehört?«, fragte ich.
Sie sah sie mich überrascht an. »Du etwa auch?«
»Ja, aber wir sind anscheinend die Einzigen«, antwortete ich, »denn der Rest des Lagers dürfte nichts davon mitbekommen haben.«
Sarah war so bleich geworden, dass ich im Schein der Gaslampe nicht mal eine von den hunderten Sommersprossen in ihrem Gesicht erkennen konnte.
»Was war das? Irgendein wildes Tier?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, kein Tier. Es war eine Banshee.«
»Eine was?«
»Eine Banshee, eine Todesfee.«
»So ein Quatsch!«, rief ich aus, »Wer glaubt denn an solche Ammenmärchen?«
»Du«, antwortete sie trocken.
»Nie im Leben! Ich bin Agnostiker, wie jeder anständige Linke.«
»Wenn du sie gehört hast, dann glaubst du an sie«, behauptete Sarah weiter, »mehr noch, du bist einer von uns. In deinen Adern fließt keltisches Blut. Hast du Verwandte in Irland oder Schottland?«
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte ich barsch, »und jetzt lass mich in Ruhe mit diesem bürgerlich-mystischen Humbug.«
Am nächsten Tag fand man den zweiten Wachmann mit durchschnittener Kehle am Rande das Lagers. Es war Thomas O’Sullivan, ein Genosse aus Dublin.
Sarah und ich sprachen erst wieder über den Vorfall, als wir im Flugzeug zurück nach Europa saßen. Was denn eine Banshee sei, hatte ich sie gefragt, denn jene Nacht, ließ mich nicht mehr in Ruhe. Und nicht, weil einer von uns tot war, damit war ja zu rechnen, wenn man in einem Bürgerkriegsland Held spielte, sondern wegen dieses markerschütternden Schreis.
Banshees, so erzählte mir Sarah, seien mystische Wesen, Geisterfrauen, Feen nicht unähnlich, deren Erscheinen den Tod eines Menschen ankündigte, die aber auch die Körper und Kleider gefallener Kämpfer noch am Schlachtfeld reinigten.
Ich erinnerte mich, dass an der Uniform O’Sullivans, kein Tropfen Blut war, obwohl seine Kehle durchgeschnitten wurde. Dem deutschen Medizinstudenten, der unser Sanitäter war, schien das nicht aufzufallen und auch der Militärarzt der sandinistischen Soldaten verlor kein Wort darüber.
»Allerdings könnten sie nur von Menschen gehört werden, die keltisches Blut ins sich tragen«, fuhr Sarah fort und sah mich lange an. »Deine Vorfahren kommen aus Irland oder Schottland. Wie meine!«
Ich antwortete nicht mehr darauf. Mir war das Ganze zuwider und ich wollte mit dem esoterischen Schwachsinn nichts zu tun haben. Aber Sarah hatte Recht: Ich war das Ergebnis eines Urlaubsflirts meiner Mutter, die Anfang der sechziger Jahre einige Wochen auf der Isle of Man in der Irischen See verbracht hatte.
Sarah und ich trennten uns in London, wissend das wir einander vermutlich nie wieder sehen würden. Als wir uns ein letztes Mal umarmten, sagte sie: »Wenn du der Banshee nochmal begegnest, und das wirst du, mo dheartháir, mo ghrá geal, dann sieh ihr niemals in die Augen!« Dann ging sie.
Zurück in Wien begann ich ein Medizinstudium und beendete es sogar, entgegen allen Prophezeiungen meiner Mutter. Ich begann mich von den politischen Ideen meiner wilden Zeit zu distanzieren und ein halbwegs normales Leben zu führen. Die Medizin hatte mich gepackt und ich liebte meinen Beruf. Besonders als ich die Gelegenheit bekam für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten. Dort trafen meine Ideale einer menschlicheren Gesellschaft auf eine sinnvolle Tätigkeit. Die gruselige Story in Nicaragua verdrängte ich in meinem Hinterstübchen. Aber dort blieb sie nicht.
Ich hörte den Schrei der Banshee wieder. 1996 in Kroatien, als ein Jeep der UNO-Hilfstruppen von einer Landmine zerfetzt wurde und die drei Insassen darin starben. Der Fahrer hieß Kevin MacLaughlin, anders als alle anderen Opfer, war an seiner Kleidung kein Blut zu finden. 1999 vor der Schlacht um Grosny, an der sich auf russischer Seite eine Gruppe Söldner aus dem Commonwealth beteiligte – darunter ein Steven Finnigan aus Kilkenny. 2003 im Irakkrieg, nahe Umm Kasr, jener Hafenstadt, die die Briten im Alleingang einnahmen. Mike O’Hara, und Sean Vonn, hießen die beiden Jungs, die ich aus einem Panzer holte. 2008 in Afghanistan, vier Krankenschwestern aus Edinburgh, 2011 in Syrien einen Kollegen der Ärzte ohne Grenzen aus Londonderry und 2015 einen Berater der US-Army bei der saudi-arabischen Militärintervention im Jemen. Kein Ire, nein, aber sein Urgroßvater war hundert Jahre zuvor aus Galway in die Staaten gezogen. Und alle unbefleckt und sauber, als stünden sie in ihrer Galauniform vor einem General.
Die Schreie der Banshee waren am Anfang schlimmer als jene der verletzten Soldaten und Zivilisten, die ich in den Lazaretten versorgte. Und sicher trugen sie einen großen Anteil daran, dass mein Haar schon früh ergraute. Aber als ich zu akzeptieren begann, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen gestern und morgen, zwischen mir und den anderen gab, als mein dialektisch und wissenschaftlich geschultes Gehirn zu verstehen vermochte, legte sich das Grauen vor dem Schrei der Todesbotin. Mehr noch, es schien mir vertraut, ja fast zuversichtlich zu klingen, dass auch ich eines Tages im Angesicht meines Todes, wenn er denn auf einem Schlachtfeld stattfinden sollte, gewaschen und gesalbt, geküsst und betrauert wurde, und meine Seele von meiner Banshee in die Anderswelt geleitet werden würde.
Und dann kam ich 2023 in den Sudan. Der Auftrag war einfach – ich sollte die Logistik zum Aufbau eines Lazarettes leiten, das war bereits seit über zehn Jahren meine Hauptbeschäftigung. Das und junge Ärzte auf den Einsatz vorzubereiten. Wenn das mal stehen würde, wäre ich entlassen und könnte wieder nach Hause. Im Oktober würde ich sechzig sein und dann in Rente gehen und mich nur mehr Dingen widmen, die nichts mit Krieg und Tod zu tun hatten.
Es war der achte Tag meines Einsatzes, als ich ihren Schrei hörte, der letzte, den sie mich hören ließ. In der Wüste, knapp vor al-Faschir. Im Umkreis von dreihundert Kilometer waren keine europäischen Truppen oder Söldner, nichts. Einfach niemand. Ich legte meinem Fahrer die Hand auf die Schulter und bat ihn stehen zu bleiben. »Du bist nicht zufällig Ire oder Schotte?«, fragte ich scherzend den Sudanesen. Er verstand kein Wort. Ich lachte. »Gut, fahr weiter.«
Es schien, als würde ich mich in einem Standbild befinden. Der Fahrer sah mich an, als wäre ich nicht da. Ich ihn ebenfalls. Ich wollte etwas sagen, aber da kam kein Ton aus meiner Kehle. Vor uns auf der Straße stand eine Frau, eine Frau, die nicht hierher passte. Die keinen Tschador trug, sondern ein weißes langes Hemd. Die keine langen schwarzen Haare hinter einer hohen braunen Stirn hatte, sondern rote Locken. Und Sommersprossen. Hunderte.
»Was in aller Götter Namen!«, rief ich aus und sprang aus dem Jeep.
Und noch einmal hörte ich ihren Schrei, während hinter mir der Jeep detonierte.
Dann lag ich im Sand und spürte, wie mein Kopf hochgehoben wurde und Sarah mir das Blut aus dem Gesicht wusch.
Zuletzt bearbeitet: