Schatten der Vergangenheit

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Aniella

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1.
Die Tränen, die ich beim Begräbnis meiner Mutter weinte, waren echt gewesen. Auch wenn niemand ahnte, dass ich nicht um Mama geweint hatte, sondern mit meinen sechs Jahren das erste Mal in meinem Leben grenzenlos erleichtert gewesen war.
Tante Elsbeth zog zu mir und in den nächsten zehn Jahren musste ich nie wieder in den Keller.
Meine Tante war meine letzte lebende Verwandte. Ich kannte sie vorher nicht, war aber nicht traurig, dass sie keine gefühlsduseligen Reden über Mama verschwendete.
Mit Mama brachte ich nur Schläge und den gruseligen Keller in Verbindung. Wenn ich im Keller vor Angst weinte oder schrie, gab es Schläge. Also blieb ich still, ich wollte ein tapferer Junge sein.
Manchmal durfte ich in unseren Garten. Die Haustür blieb zu, bis sie mich abends hineinrief.
Ich liebte unseren Garten.
Eigentlich war es nur ein Hinterhof, der mir mit wenigen Büschen und Bäumen Natur vermittelte. Ich suchte und fand genügend Tiere und Insekten, die ich beobachten konnte und die mir die Zeit vertrieben. Die Gesellschaft von anderen Kindern vermisste ich nie.
Mama starb, ehe ich in die Schule kam.
Von da an normalisierte sich mein Leben und die Schrecken der ersten Jahre verblassten nach und nach. Nur meine Angst vor dem Keller blieb.
Bis heute.
Der Morgen verlief wie gewohnt, aber als ich durch den Flur ging, zog mich die Kellertür magisch an. Ich verspürte den erschreckenden Wunsch, sie zu öffnen, obwohl mich allein der Gedanke zutiefst abstieß. Der Schlüssel steckte und ich erwischte mich dabei, dass ich die Hand ausstreckte, um ihn im Schloss zu drehen.
Tante Elsbeth rettete mich.
»Dein Frühstücksbrot liegt in der Küche. Ich leg mich nochmal hin, die Nacht war schrecklich.« Sie schlurfte an mir vorbei und ich dachte mir nichts dabei, weil sie das ab und zu mal tat. Ich holte mein Brot und verschwand, ehe ich es mir anders überlegte. Das merkwürdige Gefühl, das mich den ganzen Tag über verfolgte, versuchte ich, stoisch zu ignorieren.
Der Schultag lenkte mich ab und erst auf dem Heimweg erinnerte ich mich an den Morgen.
Als ich die Tür öffnete, empfing mich eine sonderbare Stille.
Es zog auch kein Essensgeruch durch den Flur. Tante Elsbeth kochte jeden Tag und wenn ich von der Schule kam, stand es fertig auf dem Tisch. Heute nicht.
Besorgt stellte ich meinen Ranzen ab und rannte hinauf, klopfte an ihre Zimmertür. Keine Antwort. Ich öffnete mit flauem Gefühl im Magen die Tür.
Meine Tante lag still in ihrem Bett, die Augen in ihrem wachsbleichen Gesicht waren geschlossen. Erschrocken lief ich zu ihr hin und ergriff ihre Hand, die so heiß war, dass ich sie sofort wieder losließ. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig, aber sie lebte.
Ich stürzte hinaus, die Treppe hinunter und rief den Rettungsdienst. Dann holte ich aus der Küche eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch und ging damit zurück zu Tante Elsbeth, um ihr die Stirn zu kühlen.
In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr ich meine Tante mochte, selbst wenn uns nie eine innige Liebe verbunden hatte.
Ich sprach sie leise an. Sie verzog ihr Gesicht, zu einem ihrer seltenen Lächeln und öffnete den Mund. Was sie flüsterte, verstand ich nicht, darum beugte ich mich über sie und hielt mein Ohr direkt an ihre Lippen.
»Mach dir keine Sorgen. Unkraut vergeht nicht.«
Ich lächelte ihr hilflos zu und drückte sanft ihre Hand.
»Du wirst bald wieder gesund. Gleich sind die Sanitäter hier.«
Sie schloss die Augen, gab aber keine Antwort. Es strengte sie wohl zu sehr an. Als es klingelte, schlug sie die Augen wieder auf.
»Da sind sie schon. Ich bin gleich zurück, Tante Elsbeth.«
Ich rannte nach unten, öffnete die Tür und deutete nach oben. Sie verfrachteten sie in den Krankenwagen und nahmen auch mich mit.
Der Nachmittag verging in Hektik und Besorgnis, am Ende machte ich mich auf den Heimweg, in der Gewissheit, dass Tante Elsbeth jetzt mit ihrer Lungenentzündung gut versorgt war.
Zum zweiten Mal an diesem Tage drehte ich den Schlüssel im Schloss und trat ins Haus. Mein Magen knurrte laut und vernehmlich. Ich schaltete in der Küche das Licht an, es dämmerte bereits und der Lichtschein gab mir ein Gefühl der Geborgenheit.
Heute brauchte ich das.
Zum Kochen hatte ich keine Lust, auch wenn garantiert genügend frische Lebensmittel im Hause waren. Ich machte mir rasch ein Klappbrot und nahm es einfach ohne Teller in die Hand. Jedes Klappern in der Küche hörte sich fremd an.
Irgendwas fehlte.
Ich löschte das Licht und ging ins Wohnzimmer, sorgsam darauf bedacht, dass ich keine Krümel unterwegs verlor.
Die Stille empfand ich als so unangenehm, sodass ich den Fernseher einschaltete. Ich war nicht scharf auf Fernsehen, aber der alte Apparat meiner Mutter stand nach wie vor noch hier und wurde selten eingeschaltet.
Es flimmerte eine Reportage über wilde Tiere in Afrika über den Bildschirm, aber die bunten Bilder liefen vor meinen Augen ab, ohne dass sie mir bewusst wurden und auch die Worte erreichten nicht mein Bewusstsein. Ich sah ganz andere Dinge vor meinem inneren Auge.
Die Tür zum Keller erschien mir so deutlich, als wenn ich nur die Hand ausstrecken müsste, um sie zu öffnen. Ich zwang meinen Blick auf die Löwen im Fernsehen, aber sie konnten meine innere Unruhe nicht bezwingen. Ich schob den letzten Bissen in den Mund und stand auf.
Es zog mich in den Flur.

2.
Vom Wohnzimmer aus starrte mir die Kellertür herausfordernd entgegen, die Klinke und der Schlüssel im Schloss darunter erschienen mir überdeutlich und ließen die graue Holzverkleidung daneben verschwimmen. Wie ein Magnet zog es mich an, gleichzeitig stellten sich meine Nackenhaare auf und ich verkrampfte. Himmel - ich war sechzehn in der Zwischenzeit! Kein Grundschüler mehr. Trotzdem hatte ich eine unbestimmte Angst in mir. Doch alle Gegenwehr war zwecklos, ich bewegte mich vermeintlich ohne mein Zutun auf die Tür zu.
Mein Arm zitterte, aber ich langte nach dem Schlüssel, drehte ihn und die andere Hand drückte die Klinke hinunter. Die Tür sprang quietschend auf.
Kalte, vermoderte Luft strömte mir entgegen aus der bösartigen Düsterkeit, gleichzeitig kam der automatische Griff zur Taschenlampe, die neben der Tür hing. Ich schaltete sie ein und der Lichtschein traf auf die steinernen Trittflächen, die sich in der Dunkelheit verloren, weil der Strahl der Lampe von der Schwärze verschluckt wurde.
Stufe um Stufe stieg ich hinab in die feuchte Kälte, die mir gleichzeitig vertraut und furchterregend vorkam. Das Licht fiel am Ende der Treppe auf die Wand, deren einzelne, unverputzte Steine kaum noch von Fugenmasse festgehalten wurden, daher fast schwebend wirkten. Mein Blick folgte dem Lichtstrahl durch den Gang, von dessen Seiten drei Türen abgingen. Eine rechts, eine links und eine genau gegenüber. Es handelte sich um einfache Holztüren, lediglich mit einem großen, verrosteten Riegel zugehalten. Für meine damalige Größe waren die Riegel an den Türen verdammt hoch angebracht, darum hatte ich Wochen gebraucht, um sie zu verschieben. Hinter der linken Tür verbarg sich ein Vorratsraum für Gemüse, Kartoffeln und Konserven. Das einzige und winzige Fenster gab es in der Waschküche, alle anderen Verschläge lagen in totaler Finsternis. In meiner Erinnerung waren der Gang und die Räume viel größer gewesen. Heute wirkten sie auf mich wie eine überdimensionale Puppenstube, nur nicht gemütlich, sondern immer noch so Furcht einflößend wie damals.
Es raschelte aus einer Ecke. Hastig leuchtete ich sofort in die Richtung, konnte aber keine der verhassten Ratten sehen. Es war still, nur mein Herzschlag hämmerte dröhnend laut in meiner Brust. Ich leuchtete in den Vorratsraum, ging dann aber weiter zur nächsten Tür und schob den Riegel zur Seite.
Die Waschküche versuchte ich zu ignorieren. Das war der Raum, den ich am meisten fürchtete. Die Rumpelkammer, die sich hinter der soeben geöffneten Tür befand, hatte einen faszinierenden Eindruck auf mich gemacht. Natürlich erst, als ich mir eine Taschenlampe mit in den Keller schmuggeln konnte. Wenn meine Mutter das jemals herausgefunden hätte - ich wollte mir nicht Mal jetzt darüber Gedanken machen, was sie mit mir angestellt hätte.
Mit meinem Zeigefinger schob ich die Tür auf, sie quietschte in ihren Angeln erbärmlich wie Kreide auf einer Tafel und ich musste schlucken.
Ich schickte das Licht über den gehorteten Krempel vor mir.
Alte Lampen und Bilder, die angelehnt an einem antiquarischen Schaukelstuhl auf dem Boden standen und ich konnte mich erinnern, was darauf abgebildet war. Eine grellbunt beklebte offene Kiste befand sich in der Ecke und war vollgepackt mit Tüchern oder Kleidung, die genauso vergammelt und feucht wirkten, wie alles an diesem Ort. Ich tastete mich durch das Gerümpel, vorsichtig zwischen gestapelten Büchern und Schachteln, die auf dem Boden herumlagen und standen, und kämpfte mich bis zu einem Sofa, bei dem die Sprungfedern hinausragten, wie mahnende, rostige Zeigefinger.
Unschlüssig stand ich davor. Ich drehte mich an der Stelle und riss dabei eine antike Stehlampe mit, die ich im letzten Moment festhalten konnte, damit sie nicht auf den Boden krachte. Eine dicke Spinne krabbelte blitzschnell über meinen Arm und ich schüttelte sie voller Panik ab, sodass die Stehlampe wieder bedenklich ins Schwanken geriet, sich dann endlich beruhigte. Das Krabbeltier war weg und verschwand in einer der Kisten, wie mir der Lichtstrahl zeigte, den ich ihm hinterherschickte. Ich atmete auf und wandte mich wieder der Kiste zu.
Meine Hand schob sich nach vorne und das Kissen zur Seite, bis ein altes Schwarz-Weiß-Foto zum Vorschein kam. Ich nahm es vorsichtig heraus, um mir die Personen darauf im Licht der Taschenlampe näher anzusehen, da ertönte das gefürchtete Heulen aus der altbekannten Richtung und ich stieß vor Schreck gegen die Stehlampe und ließ die Taschenlampe fallen. Bei dem Poltern zuckte ich ein weiteres Mal zusammen und blickte entsetzt auf das zuckende Licht, bis es zur Ruhe kam. Erst da wagte ich, die Leuchte aufzunehmen. Ich schob das Bild in meine Hemdtasche und trat den Rückzug an. Das Jammern klang gedämpft durch die geschlossene Waschküchentür und wurde lauter je näher ich dem Raum kam.
Zögernd stand ich endlich davor, da verstummte das Greinen genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Damals erklang es auch nie lange. Aber immer wieder, sodass ich bei jedem Geräusch zusammenfuhr und versuchte, mich noch weiter in die entfernteste Ecke zu drücken. Ich war zwar in der Zwischenzeit erwachsen geworden, aber meine Angst vor der Waschküche mit den seltsamen Geräuschen darin, hielt sich hartnäckig.
Damit wollte ich nun Schluss machen, meine weichen Knie ignorieren und eiskalt die Tür öffnen.
Vage konnte ich mich erinnern, dass rechts neben der Tür ein riesiger Kupferbottich stand, in dem ein großes Waschbrett am Rande hing. Gegenüber war das winzige Fenster, aber da es jetzt Abend war, würde heute kein Licht hereinfallen. Genauso dunkel wie der übrige Keller musste ich achtgeben, dass ich nicht in den großen Abfluss auf der Erde stolperte und mich womöglich in den überall gespannten Wäscheleinen verheddern würde. Ich lenkte mich mit diesen Überlegungen ab, damit ich nicht an das Geräusch denken musste, aber es half nicht viel.
Trotzdem nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schob den Riegel zur Seite. Ich drückte die Tür langsam auf und leuchtete gleichzeitig hinein, bis der Strahl der Lampe auf dem Abfluss zitternd liegen blieb.
Aus dem dreckigen Sieb ertönte plötzlich ein eindringliches Wimmern, was mir postwendend eine Gänsehaut bescherte. Um ein Haar ließ ich die Taschenlampe fallen. Eisern umklammerte ich sie und zwang mich auf den Auslauf zuzugehen, obwohl mir mein eigener Schatten Angst machte. Ich stand davor und starrte durch die Löcher, die mit allerlei mistigen Fusseln gespickt waren. Reste von Wasser glitzerten mir entgegen, aber wo zum Teufel kam dieses Jammern her? Ich suchte etwas, womit ich das Sieb herausholen konnte und fand einen alten Pinsel, mit dessen Stiel mir das auch gelang. Das Sieb schepperte laut über den Boden und blieb irgendwo im Dunkeln liegen. Das Wimmern hörte auf. In dem Moment sah ich es. Auf dem glitzernden Wasser in der Vertiefung blickten mir zwei Augen entgegen, ein durchscheinendes Kindergesicht erschien darum und es schien zu einem kleinen Jungen zu gehören.
Und er sah aus - wie ich!
Das kann doch nicht sein, fuhr es mir durch den Kopf und ich zuckte zurück. Ich konnte nicht widerstehen, ich musste es noch einmal sehen und rückte ein wenig näher, aber bevor ich hinunterschauen konnte, kam das Gesicht aufgestiegen aus dem Untergrund mitsamt dem Körper des Kindes.
»Du ... du siehst aus wie ich«, flüsterte ich und verbesserte mich sofort. »Wie ich als Kind aussah.«
Mein durchscheinendes Gegenüber lächelte mich an, während ich verblüfft und misstrauisch auf das Wesen guckte.
»Das ist normal. Jedenfalls bei Brüdern.« Jetzt verschwand sein Lächeln und wich einem nachdenklichen, eindringlichen Ausdruck.
Ich schnappte nach Luft.

3.
»Du bist ... ähm, du warst mein Bruder? Ich habe keinen Bruder.«
Jetzt kehrte das Lächeln zurück.
»Glaube es mir, ich bin dein Bruder. Kein Wunder – du warst erst ein paar Monate alt, als ich gestorben bin.« Er schwebte zu dem mächtigen Kupferkessel, der zwei Meter im Durchmesser und bestimmt anderthalb Meter hoch war, und setzte sich auf dessen Rand. Eines seiner durchscheinenden Beine wippte scheinbar fröhlich auf und ab und er grinste so, wie ich es immer getan hatte, wenn ich mich freute.
»Wie lange musste ich auf dich warten! Aber jetzt bist du hier. Nun sollst du alles erfahren und dich entscheiden.«
»Entscheiden? Was -?«
»Später«, unterbrach mich mein Brudergeist. »Ich will dir von meinem Tod erzählen.«
Meine Hände begannen zu zittern, der Strahl der Lampe folgte meinen Bewegungen.
»Wie heißt du? Wenn du mein Bruder bist, will ich dich richtig ansprechen können.«
Komisch, dass ich das wichtiger fand, als die Todesursache, aber nachdem ich in sein - oder mein? Gesicht blicken konnte, wollte ich auch seinen Namen wissen!
»Tobias. Dein Name ist Robert. Willst du wissen, warum Mama dich immer hier eingesperrt hat?«
Ob ich das wissen wollte?
Als Kind hatte ich mich so oft gefragt, warum sie mich bestrafte. Da sie jetzt schon lange tot war, hatte sich das erledigt. Oder nicht? Wollte ich es hören? Wenn ich an die Albträume dachte, lag es auf der Hand. Ich nickte, weil ich mit dem dicken Kloß in meinem Hals keinen Ton herausbringen konnte.
»Ich war drei Jahre alt und du erst ein paar Monate und Mama hatte viel zu tun. Es war Waschtag und ich blieb immer hier unten bei ihr, wenn sie die Wäsche in dem Zuber kochte, umrührte und sie auf dem Waschbrett schrubbte, bis ihre Hände ganz rot waren. Du warst oben in deinem Bettchen und hattest Fieber. Die ganze Nacht hatte sie sich um dich gekümmert, sie war todmüde und erschöpft, aber sie kümmerte sich sofort um die Wäsche, als du geschlafen hast.
Sie passte auf, dass ich nicht zu nah an den Zuber kam, ich spielte mit den Wäscheklammern und unterhielt mich mit Mama. Plötzlich hast du angefangen zu schreien wie verrückt und Mama ließ alles stehen und liegen und rannte zu dir nach oben. Ich wollte erst mitlaufen, dachte aber dann, die Gelegenheit wäre günstig, um mir den Zuber anzusehen, solange ie Mama mit dir beschäftigt war.
Ich schleppte einen Hocker herbei und kletterte hinauf, schaute mir die Wäsche an, die in der Seifenbrühe eingetaucht war. Das Waschbrett sah so schön glänzend aus und ich wollte es anfassen. Dazu musste ich mich herüberbeugen, denn der Hocker stand etwas weg von dem Brett und dann ist es passiert ...«
Er schaute traurig zu mir herüber, ehe er leise weitersprach.
»Ich rutschte ab und fiel hinein in die Lauge, mitten in den Zuber, in diese heiße Brühe und schluckte sofort seifiges Wasser. Ich strampelte wie verrückt, versuchte wieder hochzukommen, aber ich verstrickte mich in der Wäsche, die sich um meine Beine und um Kopf und Hände wickelte und die mich tiefer und tiefer hinunterzog. Ich bin ertrunken, genau hier in dieser Waschküche.«
Betroffen hatte ich seiner Schilderung gelauscht, mein Blick wanderte zu dem riesigen Kübel, der meinem Bruder das Leben gekostet hatte und kämpfte mit den Tränen. Wie oft hatte ich mir eine Familie gewünscht, als ich klein war - und ich hatte die ganze Zeit einen Bruder gehabt und nichts davon geahnt.
Ich schluckte.
»Wieso hat sie mich dann immer hier eingesperrt?« Wut stieg in mir hoch, weil meine, nein unsere Mutter, mich so grausam behandelt hatte.
»Du hast geschrien und sie hat mich hier allein gelassen. Sie hätte mich mitnehmen müssen, das wusste sie auch, aber als sie später herunterkam ... da hat sie dich verflucht, weil du sie weggelockt hast. Natürlich war das nicht so. Aber da du mir so ähnlich siehst, konnte sie deinen Anblick nicht ertragen, weil du sie immer an mich erinnert hast.«
Ich konnte es nicht fassen, obwohl in mir für einen Moment auch ein Schuldgefühl hochkam. Wenn ich still geblieben wäre ...
»Denk nicht mal daran!« Tobias sprang von dem Waschzuber hinunter und kam auf mich zu. Er war für einen Moment aus dem Lichtstrahl verschwunden, tauchte aber gleich wieder unmittelbar vor mir auf.
»Es ist nicht deine Schuld gewesen. Du warst ein Baby. Ich wäre so gern mit dir aufgewachsen, wenn man es genau nimmt war es meine Schuld. Mama hatte mir streng verboten, an den Zuber zu gehen. Aber ich war neugierig und konnte nicht widerstehen ... Heute sollst du wissen, dass ich dir keinen Vorwurf mache. Im Gegenteil - ich will mich bei dir entschuldigen.«
Ich riss meine Augen auf und starrte ihn an.
»Wofür?«, brachte ich mühsam heraus.
»Du musstest so lange leiden für meine Abenteuerlust. Es tut mir unendlich leid, auch weil ich dir nicht helfen konnte. Nur von der Waschküche konnte ich dich fernhalten. Leicht gefallen ist es mir nicht, dich zusätzlich zu erschrecken. Du hast dich ziemlich verängstigt in eine Ecke zurückgezogen. Immer wenn ich versucht habe, dich zu rufen. Als Mama gestorben ist, bist du nicht wiedergekommen.«
Er klang so traurig, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, aber das ging ja nicht, wenn ich nicht durch ihn hindurchgreifen wollte. Dann fiel mir ein, was Tobias gesagt hatte.
»Was meintest du damit, ich müsse mich entscheiden?«, sprach ich meine Frage laut aus. Ich lenkte den Strahl der Taschenlampe von seinem Gesicht weg.
Tobias machte ein ernstes Gesicht.
»Ich bin tot und eigentlich geht man in die dunklen Schatten danach. Ich wollte noch mit dir reden, weil ... wenn du mir nicht vergeben kannst, dann werde ich für ewig als Geist hier bleiben müssen.« Mein Herz schlug dumpf und hart gegen meine Rippen und in meinen Ohren rauschte es. Tränen rannen warm an meinem Gesicht herunter und ich wusste, dass Tobias mich nicht aus den Augen ließ. In meinem Inneren tobten die Gedanken durcheinander. Ich dachte an die Angst, die Albträume und meinen ewigen Hunger. Ich sah Tobias an und seufzte.
»Es ist lange her. Ich ... ich bin nicht böse auf dich! Ich bin froh, dass du dich mir gezeigt hast. Dann ist es jetzt vorbei?«
Die Taschenlampe knackte in meiner Hand. Nun merkte ich erst, wie sehr ich sie umklammert hielt, und lockerte den Griff minimal.
»Meine Stimme hörst du in Zukunft nicht mehr. Wir haben uns getroffen, ich habe dir die Wahrheit gesagt und du hast mir verziehen. Aber ...«
Mich durchfuhr ein Schreck.
»Was aber?«
»Mama.«
»Was ist mit Mama? Sie ist mir egal. Ich will sie nicht hassen, mehr kann sie nicht erwarten, oder?« »Ich verstehe dich schon gut, du brauchst nicht so schreien.«
»Tut mir leid, aber ich will nicht über sie reden.«
»Dann hast du ein Problem. Wie sie sich jetzt verhalten wird, wenn sie allein ist - keine Ahnung. Es ist für dich vielleicht nicht mehr von Belang, aber ich kann dir nicht versprechen, dass es vorbei ist.«
Mir wurde schwindelig und ich schnappte nach Luft. Sollte sich alles wiederholen? Mein Entsetzen schwappte in Wut um und ich schnaubte verächtlich.
»Soll sie kommen. Ich werde mich von ihr nicht kleinkriegen lassen! Ich bin kein hilfloses Kind mehr, sie sollte mich nicht unterschätzen.«
»Sie hat gar keine andere Wahl. Sie trauert um mich, und wenn ich hier verschwinde, ist sie wieder allein an meinem Grab. Dann muss sie sich etwas anderes einfallen lassen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Ob ihr und dir das nun gefällt oder nicht.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Von dieser Seite hatte ich das noch nicht betrachtet. Ich öffnete den Mund und setzte zum Sprechen an, da verschwand Tobias mit einem traurigen Blick in dem Abfluss.
»Pass auf dich auf, kleiner Bruder. Aber vergiss nicht: Mama braucht ebenfalls Vergebung, sonst wird sie keine Ruhe geben.«
»Halt, warte ...«
Zu spät.
Er war fort und ich starrte fassungslos in das Loch.
Was sollte ich jetzt machen?
Plötzlich empfand ich die bekannte Kälte so unangenehm wie damals, und da der Geist das Weite gesucht hatte, drehte ich mich um und ging nach oben.
Ich musste nachdenken und das konnte ich genauso gut im Bett.

4.
Nach einer unruhigen Nacht, in der ich kaum ein Auge zugemacht hatte, wachte ich wie gerädert am Morgen auf. Spontan entschloss ich mich, ins Krankenhaus zu fahren anstatt zur Schule.
Tante Elsbeth lag in ihrem Bett am Fenster und lächelte mir zu, als sie mich erkannte.
»Wie geht es dir?«
Ich griff nach ihrer Hand. Ich fühlte, dass sie noch Fieber hatte.
»Ich bin bald wieder zu Hause, Junge. Mach dir keine Sorgen um mich. Warum bist du nicht in der Schule?«
Ich mochte sie nicht ansehen und spürte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg. »Ich wollte dich besuchen kommen. Ich hab schlecht geschlafen«, schob ich lahm nach.
»Dann muss ich dir wohl eine Entschuldigung schreiben - aber morgen bist du wieder dort, verstanden?« Sie schmunzelte bei ihren Worten und ich atmete erleichtert auf. Zum einen, weil es ihr besser ging und zum anderen, weil sie nicht sauer auf mich war.
Sie sah mich prüfend an.
»Du hast doch etwas auf dem Herzen. Sag es einfach, ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen.«
»Hoffentlich«, nuschelte ich und fühlte mich ertappt. Sie nickte mir aufmunternd zu.
»Ich muss etwas wissen. Von Mama.« Ich konnte sehen, wie sich ihre Miene verschloss, aber sie sagte nichts.
»Ich hatte einen Bruder - wusstest du das?«
Sie nickte nachdenklich.
»Demnach ist es jetzt raus. Wie bist du dahintergekommen?«
Ich zog das Foto hervor, das ich im Keller gefunden hatte und hielt es ihr hin. Sie nahm es, starrte darauf und ihre Hand begann zu zittern.
»Deine Mutter und ich - wir haben uns vor langer Zeit zerstritten. Ich war jung, verliebt und verlobt und sie hat mir den Mann ausgespannt. Ich habe sie nie wiedergesehen. Aber ich wusste, dass sie nicht glücklich geworden ist. Als sie Tobias erwartete, hatte ihr Mann einen tödlichen Unfall. Sie lernte später einen neuen Mann kennen, der verschwand auf Nimmerwiedersehen, weil er keine Bindung wollte. Du wurdest geboren und dann ertrank Tobias. Ich habe ihr nie verziehen, darum ließ ich sie auch damals alleine. Erst als sie tot war ... habe ich mich um dich gekümmert. Sie habe ich gehasst. Aber du konntest nichts dafür und ich sah in dir meinen Sohn, den ich nie hatte. Ich habe nicht einen Tag bereut ...«
»Kanntest du Tobias?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er hat auf mich aufgepasst.«
Sie riss die Augen auf.
»Gestern hat er mich in den Keller gerufen - sozusagen« Sie blickte mich unverwandt an und ich begann, ihr die Geschehnisse des gestrigen Abends zu erzählen. Am Ende sah sie ziemlich blass aus. »Tobias hat recht. Sie wird wiederkommen. Jetzt wo er fort ist. Aber sie wird nicht zu dir kommen, Robert. Ich muss ihr verzeihen. Nicht du.« Ich hörte ihr gefesselt zu wie sie schwieg. Dann fuhr sie fort: »Seit dem Tage ihres Todes hat deine Mama mich in meinen Träumen verfolgt. Ihr hast du es zu verdanken, dass ich damals zu dir gekommen bin und dich aufgezogen habe. Nein, schau mich nicht so verzweifelt an - ich hatte dich von der ersten Sekunde an in mein Herz geschlossen. Aber trotzdem hat sie mich erst zu dir gebracht. Sie hat dich geliebt, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.«
Ich schluckte trocken und schmerzhaft. So schnell konnte ich nicht umdenken, alles prasselte auf mich ein.
»Was willst du tun?« Ich schaute aus dem Fenster, weil ich Angst hatte, in ihr Gesicht zu sehen.
»Lass mir ein paar Tage, bis ich mich erholt habe. Dann werde ich mich ihr stellen. Ich werde zu Tobias‘ Grab gehen.«
Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht.
»Darf ich mitkommen?«
Sie nickte nachdenklich.
»Wir werden Frieden schließen. Für uns alle. Ich bin müde, Robert. Geh heim, aber komm mich morgen wieder besuchen.«
Ich drückte ihr einen sanften Kuss auf die Wange und ging zur Tür. Bevor ich sie hinter mir schloss, sah ich, dass Tante Elsbeth verträumt aus dem Fenster blickte. Ich nahm das Foto aus der Tasche. Meine Mutter hatte lächelnd den Arm um Tobias gelegt, der beschützend ein Baby hielt - mich.
Als das Lächeln meiner Mutter auf dem Bild verschwand und ihr Blick mich durchbohrte, überkam mich ein kalter Schauer.
 

steyrer

Mitglied
Hallo Aniella!

Als das Lächeln meiner Mutter auf dem Bild verschwand und ihr Blick mich durchbohrte, überkam mich ein kalter Schauer.
Mit diesem letzten Satz bekräftigst du den Konflikt, statt ihn aufzulösen und schickst den Leser wieder zurück an den Anfang. Mir gefällt das, andere mögen es vielleicht nicht so sehr, wie etwa Leute, die Bücher wegwerfen, weil sie sie ausgelesen haben.
Der „Brudergeist“ ist, zumindest dem Aussehen nach, ein dreijähriges Kind, das jedoch so vernünftig spricht wie ein älterer Jugendlicher, also ein großer Bruder. Das bewirkt eine starke Verfremdung. Eine lebender Mensch würde damit unheimlich wirken, während ein Geist harmlos erscheint. Vor dem Kellergang sieht der Protagonist passenderweise eine Fernsehsendung mit Löwen. Eben „Hic sunt leones“, also „Hier sind Löwen“ wie auf alten Weltkarten unerforschte Gebiete markiert sind.

Kleinigkeiten:
Ich wollte erst mitlaufen, dachte aber dann, die Gelegenheit wäre günstig, um mir den Zuber anzusehen, solange ie Mama mit dir beschäftigt war.
Hier fehlt ein "w" bei wie. Dieses Wörtchen kann allerdings auch weggelassen werden.

»Was ist mit Mama? Sie ist mir egal. Ich will sie nicht hassen, mehr kann sie nicht erwarten, oder?« »Ich verstehe dich schon gut, du brauchst nicht so schreien.«
Hier fehlt ein Absatz.

Abseits der Dialoge könnten einige Absätze zusammengelegt werden.

Schöne Grüße
steyrer
 
Zuletzt bearbeitet:

Aniella

Mitglied
Hallo @steyrer,

ich danke Dir für Dein Feedback und das Herauspicken der Fehler. Irgendwie findet sich immer wieder etwas. ;-)

Das Ende ist tatsächlich so geplant, dass er denkt, es ist ein Ende in Sicht, aber es scheint dann doch noch nicht so. Muss nicht jedem gefallen, eine einfache Auflösung allein war mir nicht genug.
Den fehlenden Absatz habe ich übersehen, ebenso wie das Wörtchen "wie" – wird ausgebessert, danke. Auch über das Zusammenlegen von Absätzen denke ich nochmal nach, meistens mache ich die, damit ich es selbst besser lesen kann, aber wenn es für andere Leser störend ist, kann ich das sicher noch anpassen.

Ich freue mich sehr über den Besuch hier und Deine Anmerkungen!

LG Aniella
 



 
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