Schaukel-Liese

Versteckt hinter dem Zaun und der nicht allzu hohen Hecke liegt der kleine Spielplatz. Ein Sandkasten, eine Schaukel, mehr ist es nicht.
Beinah täglich führen mich meine Alltagswege hier vorbei. Dass auf dem Spielplatz gespielt würde, hätte ich noch nie bemerkt. Im zugehörigen Mehrparteienhaus dürften wohl kaum Kinder, zumindest keine sonderlich spielfreudigen wohnen.

So ein leichtfüßiger Tag ist es, dass man eigentlich keinen Sinn hat für kiesige Pflichtwege. Viel lieber will man sein Haupt auf krümeliges Moos betten und in der Sonne am schnittigen Grün der Erde schnuppern, dem Bachgemurmel antworten, vielleicht sich ans Ufer setzen und einen Apfel verspeisen.
Ein Tag mit Singvögeln im Kastanienbaum, der seine Blüten schon kerzengerade aufgerichtet hat; vor mir der Flanierweg mit grünbewachsenem Baldachin, die Sonne blinzelt herein: Ein Bild wie gemacht für eine Bierwerbung oder sonst was.
‚Knietsch-knatsch‘ quietscht die Schaukel, als ich mich dem Spielplatz nähere. Ein ungewohntes Geräusch.

Noch bin ich ein gutes Stück weg und der Zaun, die Hecke verbergen mir das meiste. Allerdings schon von hier fällt mein Blick auf ein dürres kleines Beinpaar, welches auf der Schaukel durch die Lüfte fliegt.
Ausstrecken, Schwung holen.
Vor-zurück: die klassische Schaukelbewegung, die einem den warmen Frühsommerwind um den Körper sausen lässt. Man fühlt sich leicht und fliegend und wenn man dabei den Kopf in den Nacken wirft, dreht sich die Welt noch viel eindrucksvoller. Hoch und höher schaukeln, bis es einen aushebt und man für Millisekunden in der Luft zu stehen scheint – an meine Kindertage erinnere ich mich gut.
Derweil die schaukelnden Beine direkt voraus stecken in hellorangefarbenen Hosen; eben ganz so, wie Kinder sie gerne tragen, an den Füßen weiße Sneakers mit ein bisschen Rosa drin, nicht mehr ganz sauber. Mädchenbeine, klare Sache. Eine Schaukel-Liese.
Seltsam nur, dass diese Schaukel-Liese so ganz alleine schaukelt, ganz ohne Kinderfreund und ohne Aufsichtsperson, das wundert mich schon.
Müssten Kinderbeine jetzt nicht eigentlich in der Schule sein? - frage ich mich mit Blick auf die vormittägliche Uhrzeit.
Ich scanne die Schaukelpfosten schon mal mit den Augen ab und erwarte mir, einen trotzig hingeworfenen Schulranzen zu sehen, aber ist keiner da. Es ist sehr still, kein Lachen, kein spaßiges Lärmen übertönt den Vogelgesang in den Bäumen.
Ob das Kind mit der Schultasche auf dem Rücken schaukelt? Wütend vielleicht?
‚Knietsch-knatsch.‘
Von meiner Perspektive aus erkenne ich zunächst nur die Vorwärts-Bewegung, wenn die orangefarbenen Beine sich ausstrecken.
Ganz sicher bin ich mir, dass ich es hier mit einem Schulschwänzerkind zu tun habe. Wir werden sehen.
Lauter wird das ‚Knietsch-knatsch‘, ich komme rasch näher. Eine Neugier hat mich gepackt.
Gleich bin ich auf Augenhöhe mit dem Spielplatz, gleich werde ich einen Blick erhaschen auf die obere, die andere Hälfte und werde mit wissendem Blick und verschmitzt augenzwinkernd…

Weißes Haar habe ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet.
Und doch: Der weißhaarige Kopf pendelt fröhlich hin und her. Er lächelt sehr echt. Faltiges, knautschiges Lächeln.
Ganz selbstvergessen ist die alte Frau, wie sie sich zurückfallen lässt, um neuen Schwung zu holen, die orangefarbenen Beine resolut angezogen hinauf zum Schaukelsitz, sogleich wieder energisch ausgestreckt.
Kein Enkel, kein Aufpass-Kind bei ihr. Sie ist ganz für sich - und so schaukelt sie: ‚Knietsch-knatsch.‘
Indes meine Schritte, die ich längst schon verlangsamt hatte, knirschen auf dem Kiesweg einen brummenden Bass. Sie verraten mich.
Jetzt hat sie mich, jetzt haben wir uns gegenseitig entdeckt.
Jetzt sieht mir die weißhaarige Schaukel-Liese ins Gesicht, und ich ihr, das macht alles kaputt.

Außer uns niemand, weit und breit.
Ich allein habe sie ertappt und sie schämt sich sofort, ich weiß es.
Zwar lächelt die Frau auch weiterhin sehr tapfer, betont gleichgültig, und auch ich gebe mir Mühe, munter zurückzulächeln, aber das Selbstvergessene, das Selbstverständliche ist mit einem Schlag aus den schunkelnden Augen verschwunden. Ein schneller, verschämter Schatten huscht wie ein abgefeimter Dieb übers knautschige Gesicht. Auch die Körperhaltung ändert sich und die alte Dame sitzt nun eher krampfig auf der Schaukel; wie etwas, das man versehentlich dort abgestellt hat. Etwas, das nicht wirklich sein soll.
Altes, dummes Mädchen.

Es geht recht schnell.
Bloß Sekunden dauert die ganze Sache, unsere Begegnung, die vielleicht gar keiner Erwähnung wert ist - und doch reichen die Worte nicht.
Bei meinem Weggehen ist ‚Knietsch-knatsch‘ nur noch das mechanische Geräusch eines Spielgeräts, das mal wieder geölt werden muss.
 



 
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