Schreibroutinen entwickeln und andere Selbstoptimierungsversuche

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Papiertiger

Mitglied
Schreiben und Lesen scheinen vor allem Interessen von Frauen zu sein. So kommt es mir vor, wenn ich nach Wörtern wie „Schreibroutine“, „Schreibtipps“ oder „Schreibroutine“ suchen. Dann kommen Videoclips, in denen erst mal geraten wird, es sich richtig schön kuschelig, warm und gemütlich zu machen, einen Tee zu trinken und Kerzen anzuzünden. Ich überlege dann kurz, ob ich versehentlich auf den falschen Link geklickt und eigentlich nach „Tipps bei Strom- und Heizungsausfall“ gesucht oder eine Werbung von Giotto anschaue. Aber nein, diese Dinge scheinen den Damen tatsächlich wichtig zu sein. Wäre man ganz schlimm sarkastisch könnte man sagen: „Genau so lesen sich deren Texte dann bestimmt auch“. Aber das wäre eher der Neid, der aus mir spricht, denn immerhin haben diese Menschen tatsächlich etwas produziert statt nur davon zu phantasieren oder zu reden. Dennoch merke ich zweierlei: zum einen sind Männer und Frauen viel ähnlicher als es uns manche Medien und Menschen mit faden Vorurteilen einreden wollen, in manchen Details sind wir aber schon verschieden. So konnte ich bisher mehr hilfreiche Schreibtipps von Autoren wie Jonathan Franzen, Stephen King und Ray Bradburry mitnehmen als von aktuellen Videoclip-Schriftstellerinnen. Gut finde ich etwa dies: Für Ruhe und Ungestörtheit sorgen und eine klare Zeitvorgabe setzen. Das hilft mir tatsächlich. Der warme Tee und das Kuschelambiente ist mir ebenso egal wie ein hoffnungslos überfüllter Schreibtisch, denn ich blende alles Unwichtige aus, wenn ich erst Mal im Schreibfluss bin. Schreiben sollte dann so sein wie Lesen bzw. das Anschauen ein richtig spannenden Films. Der Regisseur des Westerns „High Noon“, Fred Zinnemann beschrieb das, sinngemäß, sehr anschaulich so: Ich beginne damit einen Film zu gucken, stecke mir eine Zigarette in den Mund und tauche ganz in diese Welt ein. Am Ende des Films bemerke ich dann, dass ich vergesse hatte die Zigarette anzuzünden.

Ich mag Rituale. Ich bin etwas manisch auf der Suche nach Tipps und betreibe die Selbstoptimierung etwas arg verzweifelt und komplett falsch: denn ich sauge wahllos Tipp für Tipp ganz unterschiedlicher Menschen auf, ohne mir wirklich die Zeit zu nehmen, etwas auszuprobieren, umzusetzen und so lange zu üben bis ich beurteilen kann, ob es mir etwas bringt oder nicht.

Eines meiner Rituale ist es mir den Timer meines Telefons auf 30 Minuten zu stellen, mir ein Thema zu wählen und dann so lange zu schreiben bis mir Iggy Azalea ihren Song „Work“ vorrappt. 30 Minuten ist eine gute Zeit, in der viele Rituale gut tun, wie ein Bummel über den Weihnachtsmarkt. Wären es weniger Minuten würde das Gefühl bleiben, eigentlich gar nichts gesehen zu haben. Bliebe man über 30 Minuten bemerkte man, dass es gar nicht so spannend ist im Gedrängel anderen Leuten beim Essen und Trinken zuzusehen.

Na, vielleicht ist der Vergleich doch etwas arg schief, denn nach 30 Minuten schreiben kommt idealerweise das Gefühl auf, sich gerade erst „warm“ geschrieben zu haben und das ganz ohne Tee und Kuschelsocken. Und letztlich gilt: erlaubt ist, was gefällt und das, was funktioniert. Ist die Zeit schon rum, Iggy? Ich habe das Gefühl gar nichts Gehaltvolles geschrieben zu haben, eher das Äquivalent zu Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. Leere Kalorien, aber irgendwie auch ganz süß. Nur auf Dauer muss mehr Substanz her, etwas nahrhaftes. Mann, oh Mann, noch 3:27 Minuten über. Darf ich noch jemanden grüßen? Oder soll ich noch eine überraschende Wendung oder eine Knaller-Pointe einbauen? Wäre ich ein Influencer würde ich jetzt noch die 30-Minuten-Schreib-App empfehlen, ohne die ich heute nicht der wäre, der ich bin: ein seltsamer Kauz.
 
G

Gelöschtes Mitglied 22239

Gast
Dann kommen Videoclips, in denen erst mal geraten wird, es sich richtig schön kuschelig, warm und gemütlich zu machen, einen Tee zu trinken und Kerzen anzuzünden.
:-D :-D :-D Spitzensatz!

wir leben in einer gefühlsduseligen Welt, dabei sollte ein Buch mehr sein als so etwas wie ein wohltuendes Bad im Winter nach einem langen Spaziergang im Schnee!

grüsse
J
 

revilo

Mitglied
Spanendes Thema.....also: ich nagele mir Spiegeleier an die Wand, höre regelmäßig Franz Beckenbauers Mega-Song "Gute Freunde" und stelle den Timer des Backofens auf ne halbe Minute...........wenn ich dann nichts brauchbares auf die Reihe bekommen habe, begehe ich kollektiven Selbstmord und fange am nächsten Tag wieder von vorne an.........

LG Oliver
 

Papiertiger

Mitglied
:-D :-D :-D Spitzensatz!

wir leben in einer gefühlsduseligen Welt, dabei sollte ein Buch mehr sein als so etwas wie ein wohltuendes Bad im Winter nach einem langen Spaziergang im Schnee!

grüsse
J
Na ja. Das eine muss das andere nicht ausschließen. Ernst Jünger soll als Schreibritual ein Glas Champagner getrunken und tadellos gekleidet an der Schreibmaschine gesessen haben - letztlich ist das aber eher nebensächlich und zaubert auch keine guten Texten aufs Papier. Sitzfleisch schlägt Duftkerzen.
 

Papiertiger

Mitglied
Spanendes Thema.....also: ich nagele mir Spiegeleier an die Wand, höre regelmäßig Franz Beckenbauers Mega-Song "Gute Freunde" und stelle den Timer des Backofens auf ne halbe Minute...........wenn ich dann nichts brauchbares auf die Reihe bekommen habe, begehe ich kollektiven Selbstmord und fange am nächsten Tag wieder von vorne an.........

LG Oliver
Was immer hilft, ist erlaubt. :cool:
 

wolf999

Mitglied
Früher hatte ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt und geschrieben und recherchiert. Plötzlich ging das nicht mehr. Ich saß am Schreibtisch und habe alles Mögliche gemacht (TV gesehen, Nase gebohrt, Fingernägel geschnitten, mit dem Handy gespielt), um nicht schreiben zu müssen. Schreibblockade.
Da viel mir das Buch von James Clear „1% Methode, minimale Veränderung, maximale Wirkung“ in die Hände. Viele praktische Tipps, wie man seine Gewohnheiten auf einfache Art ändern kann. Ich habe viel daraus gelernt.
 



 
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