Arno Abendschön
Mitglied
Nun wolle er aber wissen, weshalb sie sich verspätet hätten, sagte Lehmann in der Pause, sie, die allzeit Pünktlichen. War der Himmel eingestürzt, und seine Gattin und er, sie hatten es nicht bemerkt?
Sie standen im Vestibül, im Halbkreis, eine der monströsen Säulen hinter sich. Die Säulen bildeten ihrerseits ein Halbrund; zwischen ihnen gelangte man in den Theatersaal.
„Lieber Gerhard, du wirst es nicht glauben …“ Rudolf hob den linken Arm und beschrieb damit die Gebärde, mit der man den Arm um die Schulter eines Freundes legt. Er beließ es bei der Andeutung und nahm den Arm zurück, bevor dieser den lieben Gerhard erreichen konnte. Offenbar war er durch die Musik stark euphorisiert. Gewöhnlich vermied er derart übertriebene Gesten.
Sankt Jakobus sei schuld. Er schmeiße jetzt mit Steinen. – Andreas nutzte die Gelegenheit, Lehmanns ein Rätsel aufzugeben.
„Wie bitte?!“ – Nie hatte Frau Lehmann auf Mara androgyner gewirkt. Sie besaß eine tiefe, kraftvolle Altmännerstimme. In Dänemark rauchen alte Frauen Zigarren in der Öffentlichkeit. Mara hatte es selbst gesehen.
„Der Turm! Die Ruine!“ rief Rudolf. Mara solle erzählen. Sie sei unter ihnen die mit dem ruhigsten Blut. Er selbst sei noch immer zu erregt. Dass es mit Grünburg so weit gekommen sei. Und wenn Andreas den Mund aufmache, komme es immer nur zynisch oder kryptisch heraus.
Also berichtete Mara: Sie habe wie gewöhnlich eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Vorstellung nach einer Taxe telefoniert. Das Taxi sei rechtzeitig gekommen. Als sie am Luisenplatz in den Westring einbogen, erfuhren sie vom Fahrer, dass der Ring in Richtung Zentrum nur noch einspurig zu befahren sei. Morgens um halb sechs hätten sich nämlich größere Gesteinsbrocken aus der Turmruine von Sankt Jakobus gelöst. Einer habe die Frontscheibe eines Wagens durchschlagen, der Fahrer sei durch das splitternde Glas verletzt worden … „Er ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, Schnittwunden im Gesicht, ist inzwischen schon wieder entlassen. Die Polizei hat die rechte Fahrspur auf dreihundert Metern gesperrt. Einfach durch Schranken abgesperrt. Und wir sind in einen Stau geraten und stecken geblieben. Wir haben zwanzig Minuten bis zum Welfenplatz gebraucht. Der übliche Freitagabendverkehr in die Kinos und ins Theater.“
Lehmanns erfuhren erst jetzt von der Sperrung. Sie wohnten am südlichen Stadtrand. Der Taxichauffeur hätte durch die Gartenstraße ins Zentrum fahren sollen.
„Genau das werde ich am Montag auf dem Weg ins Büro tun“, erklärte Rudolf. Im Übrigen müsse nun endlich etwas mit Sankt Jakobus geschehen, Geldmangel hin oder her. Zu lange berate man schon über die Sanierung, die dringend fällige. Die Stadtverwaltung sei auch in diesem Punkt ineffektiv.
„Ich werde Lachmann morgen anrufen“, sagte Lehmann. Lachmann war der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Rat. „Irgendein Provisorium muss her. Aber will jemand etwas trinken?“
Klares Ablenkungsmanöver, dachte Mara, er will Rudolf keine Gelegenheit geben, sich weiter zu ereifern. Der Verleger gehörte der konkurrierenden großen Partei an, die im Rat in Opposition stand.
„Ich hatte vorhin den Eindruck“ – Rudolf wandte sich an Mara und dämpfte seine Stimme -, du warst nicht immer bei der Sache. Du wirktest auffallend abwesend. Verzeih, dass mein Blick dich manchmal streifte. Sprach es dich so wenig an?“
„O, du irrst dich. Ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich im Geist immer mit der früheren Aufführung verglichen. Aber die hier ist bestimmt nicht schlechter. Ich habe mich wirklich gut amüsiert, bis jetzt.“
Frau Lehmann wollte von Andreas wissen, ob er als verwöhnter Hamburger überhaupt noch Geschmack am hiesigen Theater finden könne. Andreas sah sie nur schweigend an. Die Frau des Sparkassendirektors fuhr fort: „Wir haben hier leider kein Phantom der Oper anzubieten, bloß diese Großherzogin von Gerolstein. Aber wenn ich es sagen darf, ich glaube, sie hält den Vergleich aus.“ Andreas nickte zustimmend.
„Nein, nein, das hier ist viel bessere Kost“, sagte Lehmann. „Wir haben uns doch beide schon lange nicht mehr so gut unterhalten.“ Und Mara dachte: Worüber unterhalten sie sich denn, wenn sie allein sind?
„Nehmt es Andreas nicht übel, wenn er so wenig Begeisterung zeigt. Als Vater muss ich ihn ja entschuldigen, wenn er selbst immerzu schweigt. Was übrigens nicht sehr höflich ist … Seine Neigung geht in eine ganz andere Richtung. Er ist fanatischer Anhänger neuerer Musik. Da kommen wir Übrigen nicht mehr mit. Wir können und wollen es nicht.“
„Neue Musik, was kann das sein, wenn es nicht Das Phantom der Oper ist?“ Frau Lehmann konnte sich nichts Moderneres vorstellen.
„Sagt euch der Begriff Minimal Music etwas?“ – Er tat es nicht, und sie deuteten den für sie beschämenden Sachverhalt mit einer leichten Kopfbewegung an.
„Nun, das ist … Er sollte es selbst erklären, doch ich fürchte, dann ist die Pause vorüber und ihr habt immer noch keinen Begriff davon. John Adams, Philip Glass und Steve Reich, das sind seine Götter. Könnt ihr euch vorstellen, dass er vor Jahren sogar nach Amsterdam flog, bloß um die Oper Nixon in China kennen zu lernen?“
„Eine Oper?!“ Frau Lehmann schien aus der Fassung gebracht.
„Nun, der Enthusiasmus ist bekanntlich zu allem fähig, besonders wenn man noch so jung ist“, sagte Lehmann. „Und dann ist Amsterdam ja auch sonst eine schöne und interessante Stadt.“
„Du irrst dich auch in meinem Fall“ – Andreas öffnete nun doch den Mund und sah seinen Vater an -, „es hat mir überraschend gut gefallen. Es war vollkommen neu für mich. Ich kann es kaum erwarten, dass die Pause zu Ende ist.“
Sie war noch nicht zu Ende. Es kam Bewegung in die kleinen Gruppen. Man vertrat sich ein wenig die Beine, ging einige Schritte hin und her und gruppierte sich neu. Das förderte die Blutzirkulation, eine Wohltat für die Beine, und nebenbei bekam man weitere Bekannte ins Blickfeld, die man von weitem grüßen konnte.
Mara sah nur wenige bekannte Gesichter. Die eifrigen Theatergänger hatten das Stück schon hinter sich. Es kamen jetzt nur noch Nachzügler in die Vorstellungen. Das Stück wird zwar in der nächsten Saison noch auf dem Spielplan stehen, aber man wird dann nicht mehr darüber reden.
„Ah, guten Abend, guten Abend!“ – Der Vikar mit seiner jungen Frau. Er hatte jeden Samstag seine Kolumne im Tageblatt, auf Seite acht oder neun. Mara war erstaunt, ihn hier zu sehen. So leichte Kost, war es nicht zu frivol? Er galt als sozial engagiert und legte Wert darauf, dass man ihn ernst nahm. In seinen Beiträgen brachte er Grünburg die ungelösten Probleme von Hamburg oder von Hannover nahe.
Da, der alte Amtsgerichtsrat, jetzt im Ruhestand. Es gelang ihr nicht, sich ihm bemerkbar zu machen. Sie mochte ihn, doch es beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Er schnitt sie, wo er nur konnte, und kam so gut wie nie zu ihren Abenden. Vielleicht mutmaßte er, dass sie in ihm nur die Hauptperson der amüsanten Nachtischaffäre sähe. Er war seit Jahren in einen Rattenschwanz von Prozessen und disziplinarischen Untersuchungen verwickelt. Er stand unter Verdacht, Dokumente unterdrückt und gefälscht zu haben. Die Sache war schon so gut wie erwiesen, als er folgende Version auftischte: Er habe am Ende eines Mittagessens zu Hause schon wieder an seiner Akte gearbeitet, das Dessert sei aufgetragen worden, Grießpudding mit Blaubeersauce. Seine Ehefrau habe den schon seit der Vorsuppe andauernden Streit mit ihm fortgesetzt, sei tätlich geworden und habe ihn schließlich mit der Süßspeise attackiert und auch die Akte nicht verschont. Man wisse doch, welche Wirkung Blaubeersaft habe. Zwangsläufig habe er retuschieren müssen.
Rechtsanwalt Lang begrüßte sie jetzt alle, indem er jedem die Hand gab und sich dabei betont nachlässig verbeugte; darin lag für Mara jedes Mal viel Unverschämtheit. Er arbeitete häufig für die Sparkasse und kam in Lehmanns Gefolge oft in ihr Haus. Rudolf lud ihn jetzt ausdrücklich noch einmal ein, am nächsten Freitag zu kommen. Er wisse doch, der letzte Schubertabend vor der Sommerpause. Dann gehe es erst im Herbst weiter. Lang sagte zu und kehrte zu seiner Gattin zurück, die in einer benachbarten Gruppe ununterbrochen drauflosredete.
Die Pause ging zu Ende. Ein Teil des Publikums strömte schon in den Saal zurück. Sie ließen sich auch vom Sog erfassen und passierten den Engpass zwischen zwei Säulen. Rudolf ging mit Lehmanns voran, Mara folgte mit Andreas.
Er wollte von ihr wissen, ob die Aufführung hier tatsächlich der berühmten in Hamburg gleichkomme.
Sie hoffe es wenigstens, antwortete Mara. In diesem Augenblick entstand vor ihnen eine Stockung. Jemand kam noch aus dem Saal heraus und zwang das Trio vor ihr zum Auseinandertreten. Sie ließen ihn rechts vorbei. Rudolf ging nun hinter Frau Lehmann. Mara musste kurz stehen bleiben, Andreas trat hinter sie. So bildeten sie vorübergehend eine Art schräger Phalanx.
Mara stutzte: Wer war denn das? Er war Ende zwanzig, untersetzt und trug enge Blue Jeans und eine ärmellose schwarze Lederweste über einem weißen T-Shirt. Das Leibchen schmückte, oberhalb vom deutlichen Bauchansatz, ein aufgedruckter schwarzer Stiefel. Er starrte in Andreas’ Richtung. Als er an ihr vorüberging, glaubte Mara eine seelische Druckwelle zu spüren. Eine groteske Erscheinung – nun, vielleicht nicht grotesker als sie selbst und ihre Begleiter, sie wollte ihm nicht Unrecht tun. Es ging so schnell vorbei, etwas hatte sie soeben berührt; es war ihr nicht einmal unangenehm gewesen, doch war es sehr irritierend und entzog sich bereits dem nachvollziehenden Verstehen.
Sie wandte sich nach Andreas um: „Glaubst du denn, du wirst dich im Einzelnen an diesen Abend heute erinnern?“ – Andreas zögerte nur ein oder zwei Sekunden mit der Antwort, und währenddessen sah sie, wie er den Fremden mit den Augen festnagelte. Es war ein aufs höchste alarmierter Blick, der ein Äußerstes an Zurückweisung enthielt und noch etwas darüber hinaus: Teilnahme vielleicht? Er sagte: „Vielleicht ja, vielleicht nein. Kann man das wissen, solange man noch jung ist?“
Rudolf war einen Schritt hinter ihr, als sie zu den Balkonlogen hinaufgingen. Andreas hielt etwas Abstand von ihnen.
„Mara, welche Steigerung mag uns der letzte Akt noch bringen?“ – Der Verleger als Hüter des Wortes: Fast immer sprach er druckfertig. Halten wir noch eine Weile an den Formen fest … Sie drückte seine Hand.
Tatsächlich wurde der dritte Akt eine Enttäuschung für sie. Der Handlungsbogen hatte seinen Höhepunkt schon im zweiten erreicht, mit dem Antrag der Großherzogin und dessen Zurückweisung durch Fritz. Dieses herrliche Duett des Begehrens und des Verzichts: Sagt ihr, dass ich nicht unempfindlich … Sagen will ich es …Davon mussten sie nun wieder herunter. Das Stück war falsch konstruiert, es war zu realistisch für eine Operette. War ihr das damals in Hamburg nicht aufgefallen?
Wie sagte jetzt Baron Grog:
… und so hat man von frühester Jugend an mich gelehrt,
Eine gewisse Kälte zur Schau zu tragen.
Konnte sie das nicht auch von sich sagen? Baron Grog, ein interessanter Charakter, war längst verheiratet. Fritz durfte Wanda nehmen, die bescheidene Blume am Wegesrand. Er durfte zurück in sein Dorf, es kam ihr wie ein halbes Müssen vor. Und die Großherzogin musste, ja musste nun doch ihren Prinzen Paul heiraten und resignierte:
Wenn man nicht haben kann, was man liebt …
Liebt man, was man hat!
Das war ja eine Desillusionsoperette, vielleicht auch nicht schlecht. Nur leider bemühte sich die Musik, diesen Charakter zu überspielen, mit einem bunten Wechsel schönster Offenbachscher Einfälle, und der Regisseur tat alles, die Tendenz zum Positiven zu verstärken. So viele Tanzszenen, so viele Kostüme, Uniformen, Massenauftritte. Gehopse und Trallala.
Lehmanns äußerten sich überschwänglich, als sie zusammen hinuntergingen und an der Garderobe anstanden. „Wunderbar, ein Triumph der leichten Muse in Grünburg“, sagte Rudolf. – „Ja, sehr schön, es war sehr schön gewesen.“ Andreas schwieg wie gewöhnlich, seine Augen strahlten, die Wangen glühten, geistvoll und lebendig. Er war jetzt sehr schön. Wenn es zutraf, dass er für das eigene Geschlecht empfänglich war, überlegte sie, dann dürfte der Abend sich für ihn gelohnt haben, rein visuell natürlich nur.
Sie standen im Vestibül, im Halbkreis, eine der monströsen Säulen hinter sich. Die Säulen bildeten ihrerseits ein Halbrund; zwischen ihnen gelangte man in den Theatersaal.
„Lieber Gerhard, du wirst es nicht glauben …“ Rudolf hob den linken Arm und beschrieb damit die Gebärde, mit der man den Arm um die Schulter eines Freundes legt. Er beließ es bei der Andeutung und nahm den Arm zurück, bevor dieser den lieben Gerhard erreichen konnte. Offenbar war er durch die Musik stark euphorisiert. Gewöhnlich vermied er derart übertriebene Gesten.
Sankt Jakobus sei schuld. Er schmeiße jetzt mit Steinen. – Andreas nutzte die Gelegenheit, Lehmanns ein Rätsel aufzugeben.
„Wie bitte?!“ – Nie hatte Frau Lehmann auf Mara androgyner gewirkt. Sie besaß eine tiefe, kraftvolle Altmännerstimme. In Dänemark rauchen alte Frauen Zigarren in der Öffentlichkeit. Mara hatte es selbst gesehen.
„Der Turm! Die Ruine!“ rief Rudolf. Mara solle erzählen. Sie sei unter ihnen die mit dem ruhigsten Blut. Er selbst sei noch immer zu erregt. Dass es mit Grünburg so weit gekommen sei. Und wenn Andreas den Mund aufmache, komme es immer nur zynisch oder kryptisch heraus.
Also berichtete Mara: Sie habe wie gewöhnlich eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Vorstellung nach einer Taxe telefoniert. Das Taxi sei rechtzeitig gekommen. Als sie am Luisenplatz in den Westring einbogen, erfuhren sie vom Fahrer, dass der Ring in Richtung Zentrum nur noch einspurig zu befahren sei. Morgens um halb sechs hätten sich nämlich größere Gesteinsbrocken aus der Turmruine von Sankt Jakobus gelöst. Einer habe die Frontscheibe eines Wagens durchschlagen, der Fahrer sei durch das splitternde Glas verletzt worden … „Er ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, Schnittwunden im Gesicht, ist inzwischen schon wieder entlassen. Die Polizei hat die rechte Fahrspur auf dreihundert Metern gesperrt. Einfach durch Schranken abgesperrt. Und wir sind in einen Stau geraten und stecken geblieben. Wir haben zwanzig Minuten bis zum Welfenplatz gebraucht. Der übliche Freitagabendverkehr in die Kinos und ins Theater.“
Lehmanns erfuhren erst jetzt von der Sperrung. Sie wohnten am südlichen Stadtrand. Der Taxichauffeur hätte durch die Gartenstraße ins Zentrum fahren sollen.
„Genau das werde ich am Montag auf dem Weg ins Büro tun“, erklärte Rudolf. Im Übrigen müsse nun endlich etwas mit Sankt Jakobus geschehen, Geldmangel hin oder her. Zu lange berate man schon über die Sanierung, die dringend fällige. Die Stadtverwaltung sei auch in diesem Punkt ineffektiv.
„Ich werde Lachmann morgen anrufen“, sagte Lehmann. Lachmann war der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Rat. „Irgendein Provisorium muss her. Aber will jemand etwas trinken?“
Klares Ablenkungsmanöver, dachte Mara, er will Rudolf keine Gelegenheit geben, sich weiter zu ereifern. Der Verleger gehörte der konkurrierenden großen Partei an, die im Rat in Opposition stand.
„Ich hatte vorhin den Eindruck“ – Rudolf wandte sich an Mara und dämpfte seine Stimme -, du warst nicht immer bei der Sache. Du wirktest auffallend abwesend. Verzeih, dass mein Blick dich manchmal streifte. Sprach es dich so wenig an?“
„O, du irrst dich. Ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich im Geist immer mit der früheren Aufführung verglichen. Aber die hier ist bestimmt nicht schlechter. Ich habe mich wirklich gut amüsiert, bis jetzt.“
Frau Lehmann wollte von Andreas wissen, ob er als verwöhnter Hamburger überhaupt noch Geschmack am hiesigen Theater finden könne. Andreas sah sie nur schweigend an. Die Frau des Sparkassendirektors fuhr fort: „Wir haben hier leider kein Phantom der Oper anzubieten, bloß diese Großherzogin von Gerolstein. Aber wenn ich es sagen darf, ich glaube, sie hält den Vergleich aus.“ Andreas nickte zustimmend.
„Nein, nein, das hier ist viel bessere Kost“, sagte Lehmann. „Wir haben uns doch beide schon lange nicht mehr so gut unterhalten.“ Und Mara dachte: Worüber unterhalten sie sich denn, wenn sie allein sind?
„Nehmt es Andreas nicht übel, wenn er so wenig Begeisterung zeigt. Als Vater muss ich ihn ja entschuldigen, wenn er selbst immerzu schweigt. Was übrigens nicht sehr höflich ist … Seine Neigung geht in eine ganz andere Richtung. Er ist fanatischer Anhänger neuerer Musik. Da kommen wir Übrigen nicht mehr mit. Wir können und wollen es nicht.“
„Neue Musik, was kann das sein, wenn es nicht Das Phantom der Oper ist?“ Frau Lehmann konnte sich nichts Moderneres vorstellen.
„Sagt euch der Begriff Minimal Music etwas?“ – Er tat es nicht, und sie deuteten den für sie beschämenden Sachverhalt mit einer leichten Kopfbewegung an.
„Nun, das ist … Er sollte es selbst erklären, doch ich fürchte, dann ist die Pause vorüber und ihr habt immer noch keinen Begriff davon. John Adams, Philip Glass und Steve Reich, das sind seine Götter. Könnt ihr euch vorstellen, dass er vor Jahren sogar nach Amsterdam flog, bloß um die Oper Nixon in China kennen zu lernen?“
„Eine Oper?!“ Frau Lehmann schien aus der Fassung gebracht.
„Nun, der Enthusiasmus ist bekanntlich zu allem fähig, besonders wenn man noch so jung ist“, sagte Lehmann. „Und dann ist Amsterdam ja auch sonst eine schöne und interessante Stadt.“
„Du irrst dich auch in meinem Fall“ – Andreas öffnete nun doch den Mund und sah seinen Vater an -, „es hat mir überraschend gut gefallen. Es war vollkommen neu für mich. Ich kann es kaum erwarten, dass die Pause zu Ende ist.“
Sie war noch nicht zu Ende. Es kam Bewegung in die kleinen Gruppen. Man vertrat sich ein wenig die Beine, ging einige Schritte hin und her und gruppierte sich neu. Das förderte die Blutzirkulation, eine Wohltat für die Beine, und nebenbei bekam man weitere Bekannte ins Blickfeld, die man von weitem grüßen konnte.
Mara sah nur wenige bekannte Gesichter. Die eifrigen Theatergänger hatten das Stück schon hinter sich. Es kamen jetzt nur noch Nachzügler in die Vorstellungen. Das Stück wird zwar in der nächsten Saison noch auf dem Spielplan stehen, aber man wird dann nicht mehr darüber reden.
„Ah, guten Abend, guten Abend!“ – Der Vikar mit seiner jungen Frau. Er hatte jeden Samstag seine Kolumne im Tageblatt, auf Seite acht oder neun. Mara war erstaunt, ihn hier zu sehen. So leichte Kost, war es nicht zu frivol? Er galt als sozial engagiert und legte Wert darauf, dass man ihn ernst nahm. In seinen Beiträgen brachte er Grünburg die ungelösten Probleme von Hamburg oder von Hannover nahe.
Da, der alte Amtsgerichtsrat, jetzt im Ruhestand. Es gelang ihr nicht, sich ihm bemerkbar zu machen. Sie mochte ihn, doch es beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Er schnitt sie, wo er nur konnte, und kam so gut wie nie zu ihren Abenden. Vielleicht mutmaßte er, dass sie in ihm nur die Hauptperson der amüsanten Nachtischaffäre sähe. Er war seit Jahren in einen Rattenschwanz von Prozessen und disziplinarischen Untersuchungen verwickelt. Er stand unter Verdacht, Dokumente unterdrückt und gefälscht zu haben. Die Sache war schon so gut wie erwiesen, als er folgende Version auftischte: Er habe am Ende eines Mittagessens zu Hause schon wieder an seiner Akte gearbeitet, das Dessert sei aufgetragen worden, Grießpudding mit Blaubeersauce. Seine Ehefrau habe den schon seit der Vorsuppe andauernden Streit mit ihm fortgesetzt, sei tätlich geworden und habe ihn schließlich mit der Süßspeise attackiert und auch die Akte nicht verschont. Man wisse doch, welche Wirkung Blaubeersaft habe. Zwangsläufig habe er retuschieren müssen.
Rechtsanwalt Lang begrüßte sie jetzt alle, indem er jedem die Hand gab und sich dabei betont nachlässig verbeugte; darin lag für Mara jedes Mal viel Unverschämtheit. Er arbeitete häufig für die Sparkasse und kam in Lehmanns Gefolge oft in ihr Haus. Rudolf lud ihn jetzt ausdrücklich noch einmal ein, am nächsten Freitag zu kommen. Er wisse doch, der letzte Schubertabend vor der Sommerpause. Dann gehe es erst im Herbst weiter. Lang sagte zu und kehrte zu seiner Gattin zurück, die in einer benachbarten Gruppe ununterbrochen drauflosredete.
Die Pause ging zu Ende. Ein Teil des Publikums strömte schon in den Saal zurück. Sie ließen sich auch vom Sog erfassen und passierten den Engpass zwischen zwei Säulen. Rudolf ging mit Lehmanns voran, Mara folgte mit Andreas.
Er wollte von ihr wissen, ob die Aufführung hier tatsächlich der berühmten in Hamburg gleichkomme.
Sie hoffe es wenigstens, antwortete Mara. In diesem Augenblick entstand vor ihnen eine Stockung. Jemand kam noch aus dem Saal heraus und zwang das Trio vor ihr zum Auseinandertreten. Sie ließen ihn rechts vorbei. Rudolf ging nun hinter Frau Lehmann. Mara musste kurz stehen bleiben, Andreas trat hinter sie. So bildeten sie vorübergehend eine Art schräger Phalanx.
Mara stutzte: Wer war denn das? Er war Ende zwanzig, untersetzt und trug enge Blue Jeans und eine ärmellose schwarze Lederweste über einem weißen T-Shirt. Das Leibchen schmückte, oberhalb vom deutlichen Bauchansatz, ein aufgedruckter schwarzer Stiefel. Er starrte in Andreas’ Richtung. Als er an ihr vorüberging, glaubte Mara eine seelische Druckwelle zu spüren. Eine groteske Erscheinung – nun, vielleicht nicht grotesker als sie selbst und ihre Begleiter, sie wollte ihm nicht Unrecht tun. Es ging so schnell vorbei, etwas hatte sie soeben berührt; es war ihr nicht einmal unangenehm gewesen, doch war es sehr irritierend und entzog sich bereits dem nachvollziehenden Verstehen.
Sie wandte sich nach Andreas um: „Glaubst du denn, du wirst dich im Einzelnen an diesen Abend heute erinnern?“ – Andreas zögerte nur ein oder zwei Sekunden mit der Antwort, und währenddessen sah sie, wie er den Fremden mit den Augen festnagelte. Es war ein aufs höchste alarmierter Blick, der ein Äußerstes an Zurückweisung enthielt und noch etwas darüber hinaus: Teilnahme vielleicht? Er sagte: „Vielleicht ja, vielleicht nein. Kann man das wissen, solange man noch jung ist?“
Rudolf war einen Schritt hinter ihr, als sie zu den Balkonlogen hinaufgingen. Andreas hielt etwas Abstand von ihnen.
„Mara, welche Steigerung mag uns der letzte Akt noch bringen?“ – Der Verleger als Hüter des Wortes: Fast immer sprach er druckfertig. Halten wir noch eine Weile an den Formen fest … Sie drückte seine Hand.
Tatsächlich wurde der dritte Akt eine Enttäuschung für sie. Der Handlungsbogen hatte seinen Höhepunkt schon im zweiten erreicht, mit dem Antrag der Großherzogin und dessen Zurückweisung durch Fritz. Dieses herrliche Duett des Begehrens und des Verzichts: Sagt ihr, dass ich nicht unempfindlich … Sagen will ich es …Davon mussten sie nun wieder herunter. Das Stück war falsch konstruiert, es war zu realistisch für eine Operette. War ihr das damals in Hamburg nicht aufgefallen?
Wie sagte jetzt Baron Grog:
… und so hat man von frühester Jugend an mich gelehrt,
Eine gewisse Kälte zur Schau zu tragen.
Konnte sie das nicht auch von sich sagen? Baron Grog, ein interessanter Charakter, war längst verheiratet. Fritz durfte Wanda nehmen, die bescheidene Blume am Wegesrand. Er durfte zurück in sein Dorf, es kam ihr wie ein halbes Müssen vor. Und die Großherzogin musste, ja musste nun doch ihren Prinzen Paul heiraten und resignierte:
Wenn man nicht haben kann, was man liebt …
Liebt man, was man hat!
Das war ja eine Desillusionsoperette, vielleicht auch nicht schlecht. Nur leider bemühte sich die Musik, diesen Charakter zu überspielen, mit einem bunten Wechsel schönster Offenbachscher Einfälle, und der Regisseur tat alles, die Tendenz zum Positiven zu verstärken. So viele Tanzszenen, so viele Kostüme, Uniformen, Massenauftritte. Gehopse und Trallala.
Lehmanns äußerten sich überschwänglich, als sie zusammen hinuntergingen und an der Garderobe anstanden. „Wunderbar, ein Triumph der leichten Muse in Grünburg“, sagte Rudolf. – „Ja, sehr schön, es war sehr schön gewesen.“ Andreas schwieg wie gewöhnlich, seine Augen strahlten, die Wangen glühten, geistvoll und lebendig. Er war jetzt sehr schön. Wenn es zutraf, dass er für das eigene Geschlecht empfänglich war, überlegte sie, dann dürfte der Abend sich für ihn gelohnt haben, rein visuell natürlich nur.