Schubert spielen - 3. Im Restaurant

Im Theaterrestaurant hatte man für sie einen Tisch an der verglasten Rückfront reserviert. Wegen der Wärme waren die großen Fensterflügel gekippt und die Vorhänge nicht zugezogen. Der Blick ging nach Nordwesten über einen Teil des Stadtgartens. Auf die Blumenrabatten fiel etwas Licht aus dem Saal und mischte sich mit der einbrechenden Dämmerung. Hinter der dunklen Baumkulisse erschien in der Ferne der obere Teil des Turmstumpfes von Sankt Jakobus; er war, wie jede Nacht, angestrahlt.

„Trinken wir auf das Wohl unseres Mäzens und seiner kleinen Familie“, sagte Lehmann und hob sein Glas mit dem Sherry. „Im Ernst, Rudolf, du hast viel Talent zum Privaten. Wünschen wir dir, dass du eines Tages auch genügend Zeit hast, dieses Talent zu pflegen. Erst die Privatloge, dann das Privatleben. Es wird schon werden. Und danke für einen wunderschönen Abend. Zum Wohl!“

Sie tranken. Rudolf sah gar nicht mehr froh aus. Er wandte sich an Lehmann: „Was den Punkt Rückzug ins Privatleben angeht, so versichere ich dir, dass ich daran noch lange nicht denke. Wir haben das ja vor einiger Zeit schon abschließend besprochen. Und die Privatloge ist privat nur in einer ausgesprochen ironischen Bedeutung. Wer hält sich denn heute noch eine Loge im Theater oder in der Oper? Mara weiß, wie es sich verhält, Andreas wohl nicht. Für alle will ich es jetzt einmal klarstellen: Diese großtönende Sache mit der Loge ist nichts anderes als modernes Sponsoring. Grünburg hat kein Geld mehr, die Mittel für das Theater wurden empfindlich gekürzt. Da kam unser Intendant auf den bestechenden Einfall mit den Logen. Einige wenige vermögende Bürger – und Steuerzahler! – dürfen nun ein Erkleckliches beisteuern und sich dann Inhaber einer Loge nennen – die sie indessen die meiste Zeit gar nicht nutzen. Wer hat denn auch die Zeit dafür! Im Vertrag mit der Bühne ist festgelegt, dass die Loge, wenn sie frei bleibt, anderweitig vergeben werden kann, spätestens an der Abendkasse. Meine Sekretärin ruft jeden Morgen im Theater an und gibt Bescheid, ob wir sie brauchen oder nicht.“

„Eine schöne Privatloge“, meinte Andreas, „es erinnert an die Patenschaften im Tierheim. Man zahlt das Futter für den Hund und muss ihn auch noch ausführen.“

Mara wandte ein, dass die Loge auch von den Redakteuren des Feuilletons genutzt werde. Eventuell könne man sie ja steuerlich absetzen. Und nicht selten überließen sie sie Freunden aus der Stadt.

„Tatsache ist“ schloss Rudolf die Debatte, „dass ich als Inhaber sie nur ein- oder zweimal in der Woche nutze oder an Freunde vergebe. Man sagt mir, dass sie fast keinen Abend leer bleibt. Übrigens ist es mir ja auch recht so, ich beklage mich nicht.“

Der Ober trat an den Tisch, und sie bestellten das Übliche, wie Filet Mignon, Königinpastete, Nizzasalat. Für Andreas Lammfiletsteak. Den roten und den weißen Tischwein. Mineralwasser für Gerhard. (Lehmanns waren mit dem eigenen Wagen da.)

Mara dachte, Rudolf sei heute reizbarer als sonst. Sich derart offen über die Loge auszusprechen, das war sonst nicht seine Art. War es die Wirkung der Musik? Hatte Sparkassen-Lehmann einen wunden Punkt berührt? Gab es da Interna, die ihr verborgen waren? Und der Abend hatte schon mit einer Störung begonnen. Vielleicht wirkte alles zusammen.

Ihr Tisch für fünf Personen stieß mit der Schmalseite an die Glasfront. Am anderen Ende saß Andreas. Die beiden Ehepaare waren längsseitig placiert. Während sie aßen und wieder über die Aufführung sprachen, ging ihr Blick ab und zu hinaus auf den spätabendlichen Garten. Sonnenuntergang war längst vorüber, die lange Dämmerung eines Hochsommertages klang eben aus. Gelbe Gladiolen, gelbe Canna leuchteten noch nach in dem fahlen Schwarzgrau, das sich immer mehr ausbreitete. Der Blick fing sich, je weiter der Abend fortschritt, desto öfter an Sankt Jakobus, dort im Westen. Immer schärfer hob sich die hell beleuchtete Ruine vom Nachthimmel ab. Es war unvermeidlich, dass sie wieder über den Turm sprachen.

„Schon meine Urgroßeltern gingen zur Messe in die Jakobikirche“, sagte Rudolf. „In der mütterlichen Linie fanden sich dort Grabsteine aus der Barockzeit.“ Er ließ gern durchblicken, dass er zum ältesten Patriziat der Stadt gehörte. Die Bürgerschaft war nach Luther an der Spitze katholisch geblieben, in einem rundum evangelisch gewordenen Land. Im Lauf der Zeit hatte sich das Land durchgesetzt.

„Wie ist das möglich“, zweifelte Frau Lehmann, „die Kirche ist doch höchstens hundert Jahre alt.“

„Verzeihung, ich meinte den Vorgängerbau am Eiermarkt; den ein Blitz getroffen hat im Jahre 1879. Er stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert und war am Schluss ziemlich marode. Deshalb wollte man ihn nach dem Brand nicht wieder aufbauen. Heute erscheint uns das unverzeihlich – es war die einzige spätgotische Kirche der Stadt. Der Rat überließ der katholischen Gemeinde dann Baugrund am Rand der Weststadt, die damals gerade entstand. Geweiht wurde die Kirche im Jahre 1901. Und erbaut hat sie – Andreas?“

„ … Wilhelm Schuster, der sonst fast nur im Rheinland tätig war. Ein Bau im Stil der rheinischen Neoromanik, ein Fremdkörper im Stadtbild …“

„Durchaus nicht, Andreas. Zwar war der Turm etwas zu hoch geraten … Nur deshalb blieb von ihm so viel übrig, 1943, bei der Zerstörung der Kirche.“

„Dann ist die Kirche ja schon länger Ruine, als sie tatsächlich genutzt wurde.“ Frau Lehmann hatte es rasch durchgerechnet.

„So ist es. Unsere Kultusgemeinde bewies nach dem Krieg erneut ihre Neigung zum Nomadisieren. Sie tauschte das Ruinengrundstück gegen eine freie Fläche in der projektierten Waldsiedlung. Dort steht heute unsere Piuskirche.“

„Ein Geschäft, das die Stadt auf Dauer teuer zu stehen kommt“, fand Lehmann. „Die Ruine steht unter Denkmalschutz, und die Sanierung würde jetzt mehr als zehn Millionen kosten, Geld, das die Stadt einfach nicht hat.“

Mara wandte ein, Baudenkmäler verfielen auch anderswo, und eine Ruine bleibe eine Ruine. Nur dürfe sie nicht zur Gefahr für Autos und Passanten werden. Ließe sich das nicht auch mit viel weniger Geld machen?

„Vielleicht“, antwortete ihr Lehmann. „Aber Sankt Jakobus ist nicht nur als Ruine Denkmal, es ist auch Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Dazu offiziell erklärt vor vierzig Jahren durch den Stadtrat. Jedes Jahr im November werden hier die Kränze niedergelegt. Natürlich könnte man das auch anderswo tun. Aber man stelle sich die Proteste vor … Dahinter steckt noch viel mehr: Sankt Jakobus ist eine Frage der Legitimität, der politischen Legitimität.“

Das möge er bitte näher erläutern, verlangte Rudolf.

„Gern. Wer auch immer heute oder demnächst die Stadt regiert, ja, ich sage, jeder, der hier in Grünburg eine Rolle spielt, tut es vor dem Hintergrund der Vergangenheit. Es scheint paradox: Krieg und Diktatur spielen heute in der Öffentlichkeit eine viel größere Rolle als in den ersten zwanzig Jahren nach diesem Krieg. Das kann man in jeder zweiten Stadtratsdebatte feststellen. Man muss nur mit den alten Sitzungsprotokollen vergleichen. Lachmann hat das neulich einmal getan. Die Nazivergangenheit spielt eine immer größere Rolle, je weiter sie zurückliegt.“

Wieso eigentlich, es sei immer noch nicht einsehbar, sagte Andreas.

„Überspitzt ausgedrückt“, fuhr Lehmann fort, „ist es so: Unter Adenauer beruhte die Macht auf Verdrängen, heute auf Erinnern. Damals hätte es viele Machtinhaber gefährdet, sich ernsthaft mit dem erst seit kurzem Vergangenen auseinander zu setzen. Die heutige Elite kann es ohne Gefahr tun, ja, es nutzt ihr, sie war ja damals nicht beteiligt. Mir fällt da etwas ein: Sind Ihnen, Andreas, heute Abend nicht auch die Bettler am Theatereingang aufgefallen? Wenn wir das Elend schon nicht beseitigen können, dann ziehen wir stattdessen historische Parallelen. Wir beweisen unsere Unersetzlichkeit nicht durch Problemlösungen, sondern indem wir immer wieder an das erinnern, was vor uns war und was nach uns und an unserer Stelle kommen könnte. Sankt Jakobus als Ruine bedeutet: Denkt daran, es könnte noch schlimmer kommen, wenn wir ersetzt werden.“

Mara sagte, das leuchte ihr ein, so befremdlich es zunächst erscheine.

„Und mir wirft Papa Zynismus vor“, sagte Andreas.

Für Rudolf waren es indessen nur kunstvolle Theorien und Aperҫus.

Kaffee wurde nur für Mara und Andreas serviert, die Übrigen verzichteten angesichts der späten Stunde. Das Gespräch drehte sich nun um Stadtpolitik. Ende September würde es Kommunalwahlen geben. Wie würde der Rat danach zusammengesetzt sein? Rudolf und Lehmann erörterten diese Frage scheinbar unbeteiligt und ohne sich im Geringsten zu ereifern. Vermutlich würde es nach der Wahl keine absolute Mehrheit mehr geben, darin waren sich beide einig.

Andreas beteiligte sich nicht am Gespräch. Er sah auf den, der jeweils sprach. Mara fiel es auch, dass er seit einiger Zeit vermied, den Blick geradeaus in den nächtlichen Park zu richten. Die Tischplatte vor ihm schien von größerem Interesse zu sein.

Draußen war es nun vollkommen dunkel. Aus dem Saal fielen scharf abgegrenzte Lichtrechtecke auf die Anlagen. Mara bemerkte, dass der Park sich allmählich belebte. Einzelne Männer promenierten draußen, und sie gaben sich – genau wie hier drinnen Rudolf und Lehmann bei ihrem Gespräch – den Anschein, das vollkommen interesselos zu tun. Sie tauchten einzeln aus dem Dunkel auf, schlendernd, zeigten ihr Profil und kehrten ins Dunkel zurück. Manche trugen weiße Hosen, die dann im unbeleuchteten Teil des Parks hier und da hell aufschimmerten. Oder sie rauchten und die glimmenden Enden ihrer Zigaretten waren das Einzige, das ihren weiteren Weg im Dunkeln markierte. Sie absolvierten offenbar alle denselben Rundkurs, der aus dem bewaldeten Teil des Parks kam und entlang den Blumenrabatten auf einen kleinen Hain zielte. Zwischen den Gladiolen und dem Rittersporn befanden sie sich vorübergehend in einem Lichtkegel, wie auf einer Bühne. Ihr Publikum war – das begriff Mara allmählich – nicht im Restaurant zu suchen, sondern jenseits, im Dunkel.

Auch Frau Lehmann war etwas aufgefallen. Der milde Abend treibe noch viele Menschen in den Park, um Luft zu schöpfen.

Ihr Gatte wiederholte: „Ja, Luft schöpfen … Vom anderen Ufer werden sie sein.“

Beide lächelten amüsiert und geringschätzig. Sie kehrten dem Fenster von da an halb den Rücken zu.

„Herr Ober“, rief Rudolf mit einemmal und unterbrach sich mitten im Satz, „würden Sie bitte die Vorhänge zuziehen. Es könnten Motten angelockt werden. Nein, die Fenster offen lassen, nur die Vorhänge zuziehen, bitte.“

Andreas zeigte keine Reaktion. Lehmanns brachten sie dann bald nach Hause. Herr Lehmann fuhr den Umweg durch die Gartenstraße, als ob er ihnen den erneuten Anblick von Sankt Jakobus ersparen wolle. Rudolf saß auf dem Beifahrersitz. Im Fond saßen Frau Lehmann, Mara und Andreas dicht nebeneinander. Andreas vermied es, seine Stiefmutter zu berühren, und sie bewunderte ihn: Wie scheinbar absichtslos er das ausführte.

Lehmanns setzten sie vor der Villa in der Weststadt ab. Sie sagten noch einmal für den kommenden Freitag zu und fuhren dann rasch weg. Mara, Rudolf und Andreas blieben nur noch kurze Zeit beisammen und gingen bald auf ihre Zimmer, wie Hotelgäste. Mara sagte, sie wolle noch lesen und dann allein schlafen; sie sei zu unruhig. Dieses Vorrecht genoss sie, seit sie hier lebte, und machte davon regelmäßigen, wenn auch nicht zu häufigen Gebrauch. Das große Haus bot so viel Raum, fürs Alleinsein und für Nähe, wenn sie gesucht wurde.

Sie ging in ihrem Zimmer im ersten Stock auf und ab und begann, sich leichter zu fühlen. Die Stunden seit der Pause waren insgesamt wenig harmonisch verlaufen, Es hatte mit jener Begegnung zwischen den Säulen begonnen, dem Versuch einer Begegnung, musste man wohl sagen.

Da lagen die Bücher, in denen sie seit längerem las. Musils Werke befanden sich nicht mehr darunter, schon lange nicht mehr. Seine Gedanken, seine Schlussfolgerungen erschienen ihr heute weniger zwingend als früher. Vielleicht war es auch damals mehr der Stil gewesen, der sie beeindruckt hatte. Die Form war der Inhalt – wer hatte das geschrieben? Die beste Prosa, fand sie nun, schrieben im Deutschen die wirklich guten Übersetzer. Sie liebte Übertragungen aus dem Italienischen. Nach Italo Svevo und Giorgio Bassani war inzwischen Cesare Pavese an der Reihe. Seit etwa zwei Jahren las sie immer wieder seine Erzählungen und kleinen Romane; sie waren getränkt mit Wirklichkeit und Melancholie. Diese Lektüre war wie eine Musik, die anzuhören man nie müde wird. Das gab es nicht oft. Vieles, nicht alles von Schubert. Einiges von Schumann.

Sie überlegte, ob sie jetzt Die einsamen Frauen zum dritten Mal lesen wollte, und entschied sich dann doch für Die Selbstmörder.

Diese Selbstmörder waren zwei junge Menschen, die der Erzähler in verschiedenen Abschnitten seines Lebens zu ihrer Tat veranlasst hatte. Jean, Carlotta – der Revolver, das Gas. Er erinnerte sich mit Bitterkeit, Ekel und Selbsthass. Die Erzählung war nicht lang, die Lektüre bald beendet. Sie verfehlte auch diesmal ihre reinigende Wirkung nicht.

Bevor Mara das Licht löschte, überdachte sie den folgenden Tag. Sie würden wir üblich gegen acht Uhr aufstehen. Rudolf wollte am Vormittag mit ihr im Garten arbeiten. Den Rasen schneiden, die Rosen düngen, einige Stauden hoch binden, viel Verblühtes abschneiden. Sie hätte dies auch ohne ihn an einem anderen Tag erledigen können, neben dem Übrigen. Aber da ihm so viel am Garten lag, taten sie es gemeinsam, wenn er Zeit dafür hatte. Mittags wird sie nur für einen Imbiss sorgen. Am Nachmittag wollten sie Unterlagen für die Steuererklärung heraussuchen. Abends würden sie mit Andreas zum Essen aufs Land fahren. Der Tag würde nicht zu viel von ihr fordern, sie konnte jetzt ruhig einschlafen.

Und morgen war morgen und jetzt lagen sieben bis acht Stunden Schlaf vor ihr. Sie genoss ihren Schlaf fast immer, vielleicht mehr als das Leben am Tag. Einschlafen war leicht, es gab da einen Trick. Man musste die Verhältnisse und Proportionen des Tages verändern. Es kam darauf an, aus dem Material des Tages etwas Besseres, Harmonischeres zu formen und an ihm teilzuhaben. Es war kein Begehren, und wenn doch, dann ein äußerst verdünntes Begehren. Sie war sich bewusst, nicht mehr jung zu sein, und für sie selbst gab es daher keine Rolle mehr in der sehr ästhetischen kleinen Szene, die sie sich schuf. Lief es auf einen Wechsel der Identität hinaus? Oh, das wäre, bei schwindendem Bewusstsein, zu viel gesagt. Sie lag im Dunkel und sah aus dem Dunkel auf eine matt beleuchtete Bühne. War es der Fremde aus der Theaterpause? Auch er war voller Sehnsucht nach Güte und Glück. Sie befand sich ihm gegenüber im Dunkeln und war zugleich zu einem Teil er selbst. Neigung, Hinneigung, Anlehnung, nichts weiter. Und neben ihm – Andreas? Nein, das durfte nicht sein! Eine andere Gestalt, ein anderes Gesicht … Eines aus der Menge der Tänzer in Gerolstein, ein bestimmtes Gesicht, es war männlich und weich zugleich. Wie ein Akkord, süß und herb, verklingend, verklingend … Und dann schlief sie zweifellos.
 



 
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