Schubert spielen - 5. Das kleine Café

Drinnen war es verräuchert, schmuddelig, die Tapeten waren vergilbt. Dafür war das Kuchenbüffet reichhaltig und ansprechend. Soweit sie sehen konnte, waren die meisten Tische von Kleinbürgern des Viertels besetzt. Man rauchte viel und unterhielt sich gut. Einige tranken Bier.

Sie fand Andreas ganz hinten, am letzten Tisch, allein. Daneben war der Durchgang zur Toilette. Er trug schwarze Jeans und einen schwarzen Nicki. Wie gut ihm wieder Schwarz stand. Sie hatten sich seit ihrer Trennung von Rudolf und der Auflösung des Haushaltes nicht mehr gesehen.

„Was für ein Ort für ein Wiedersehen, Andreas.“

Sie müsse es verstehen. Er sei bei einem Freund in der Nähe zu Besuch – und der werde ihn nachher auch abholen. „Und du, warum ausgerechnet Kassel? Kommst du jetzt direkt aus Kassel?“

Sie bejahte. Kassel liege gut, sehr zentral. Sie werde nämlich vom Herbst an wieder auf Tournee gehen. Wie es Sonja gehe? Und Matthias?

„Wir, Sonja und ich, wir sehen uns manchmal. Sie wohnt jetzt in Berlin.“ Und was Matthias angehe, so habe er, Andreas, sich viel Mühe gegeben, ihn leiden zu lassen. „Aber weißt du, ich bin eben doch kein Sadist. Wir sehen uns nicht mehr.“

Er fragte, ob sie Neues aus Grünburg wisse, wie es Stefan gehe. Sie sagte ihm, dass er die Fraktion schon im März verlassen habe. Die Koalition habe jetzt keine Mehrheit mehr. Niemand wisse, wie es weitergehen solle. Mit der Sanierung von Sankt Jakobus habe man noch nicht begonnen, kein Gerüst, kein Auftrag, nicht einmal ein Beschluss. Vielleicht werde noch ein Gutachten eingeholt. – Und Milan? – Habe nun doch zum Konkursrichter gehen müssen.

Es war Andreas schon bekannt, dass das Verlagshaus nach dem Verkauf jetzt entkernt werde. Man baue eine Passage hinein, noch ein Einkaufszentrum. Dahinter stecke natürlich die Sparkasse. Der Investor sei nur ein Strohmann.

Sie haspelten all das lustlos herunter. Es ist ihm ebenso gleichgültig wie mir, dachte Mara. Warum hat er mich treffen wollen? Immerhin, es ist schön, ihn wieder einmal zu sehen, ihn noch einmal zu sehen. Wir könnten jetzt einfach eine Zeitlang schweigen; gar nichts sagen, uns nur ansehen. Dann würden wir verlegen werden, den Blick abwenden. Und es würde immer noch angenehm sein. War es nicht immer so gewesen?

Ja, sagte er auf ihre Frage hin, er sei einmal in Neuenahr gewesen, vor sechs Wochen und nur für einige Stunden.

Wie es Rudolf nun gehe, wie seine Stimmung sei.

Statt ihre Frage zu beantworten, beschrieb Andreas die neue Wohnung seines Vaters, eine Terrassenwohnung oberhalb der Stadt. „Du kennst dich im Ahrtal ein wenig aus“, sagte er, „die flachen Hügel über der Stadt, nur Wein und sonst nichts …“ Der Boden müsse dort sehr kostbar sein, man habe für die Anlage nur eine kleine Bodensenke geopfert. Dort hinein kauere sich das Gebäude, es fülle sie weitgehend aus. Eine Art edle Müllkippe … Aussicht sei kaum vorhanden, ein Streifen Gehölz verdecke sie zum größten Teil, und die Büsche stünden unter Naturschutz. Er beschrieb ihr mit den Händen, wie sich das Haus in die Mulde ducke, die auch noch quer zum Hang verlaufe, und die Öffnung grün versiegelt. „Ja, wenn man im Biotop wohnen will, muss man sich klein machen. Und dafür hat er sechshunderttausend bezahlt.“

„Er hat die Mittel dazu.“

„Und du nimmst nicht einmal Unterhalt von ihm.“

Sie erwiderte nichts, und das Gespräch stockte für eine Weile. Da begann er ihr die Legitimität seiner Ansprüche – sie waren beträchtlich – nachzuweisen oder es auf seine Art zu versuchen. Er sei ohne sein Zutun, ganz klein noch, adoptiert worden. Damit seien ihm nicht nur Möglichkeiten eröffnet worden – zugegeben: recht ansehnliche, und er habe sie bisher zu nutzen gewusst -, es seien ihm zugleich unendlich viele Lebenswege verschlossen worden. Dafür stehe ihm ein Ausgleich zu. Und womit könne Rudolf zahlen: nur mit Geld. Geld oder Liebe – er sei nicht geliebt worden, sie wisse es. Seine Beweisführung begann abstrus und gelangte doch zu einem überzeugenden Schluss. Hier hätte etwas vom Kopf auf die Füße gestellt werden müssen, so empfand sie es, nur war es dafür längst zu spät.

Wie gerufen erschien jetzt der Freund in der Eingangstür. Sie winkten sich von weitem zu, und der andere kam nicht an ihren Tisch. Er lehnte dann mit der Hüfte an der Theke. Ließ sich einen Kaffee bringen und war in ein Magazin vertieft. Sie hatten ihn im Profil vor sich.

Zu viel Schwarz. Er trug ebenfalls einen schwarzen Nicki und dazu schwarze Lederjeans, nicht einmal besonders eng geschnitten. Dennoch wirkte das Beinkleid wie seine natürliche Haut. Das kam von seiner unendlichen Lässigkeit. Sehr introvertiertes wollüstiges Räkeln. Sanftes und finsteres Gesicht. Sie war doch keine Frau, die von sich sagen musste: Ich verabscheue Homosexuelle. Aber dieser Anblick widerstrebte ihr.

Andreas ging für zwei Minuten zu ihm hinüber. Mara aß von der Torte, die inzwischen gebracht und noch nicht angerührt worden war.

Andreas kam zurück. Der andere sei sehr zurückhaltend, beinahe schüchtern. O nein, sie wäre ihm fast über den Mund gefahren, das ist er nicht. Jedoch blieb sie stumm. Sie wollte ihm jetzt sehr gern sagen, sie sei damals in der Bibliothek ungewollt Zeugin geworden. Sie behielt es für sich, nur vergessen wird sie den Anblick nicht. Sie erkannte sich selbst: Sie war hierher gekommen, um einen Eindruck auslöschen zu lassen. Es konnte nicht gelingen.

Worüber konnten sie überhaupt noch reden? Worin hatte sein Interesse an diesem Wiedersehen bestanden? Sie begann klarer zu sehen: Ihr sollte etwas demonstriert werden. Quod erat demonstrandum. Das war es nun.

Der andere da drüben legte das Magazin fort und lehnte den Rücken gegen den Tresen. Er schob den Unterleib vor, senkte den Blick; hielt ihn zumeist auf die Silhouette da unten gerichtet, ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze nach oben zeigte. Es war empörend.

Sie wahrten die Form, versprachen einander, in Kontakt zu bleiben; was man so sagt. Innerlich zog Mara ihr Fazit: Sie wollte ihn nicht hassen. Sie hasste nicht gern. Unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die gern hassen. Er war ihr einmal sympathisch gewesen, nicht gleichgültig wie Rudolf, der es geblieben war. Milan hatte sie sinnlich angezogen, damals ein Ausweg und doch nur einen Sackgasse. Endete alles im Selbsthass?

Andreas und sein Freund gingen fort. Sie wirkten unschuldig und schamlos, wie die Tiere.

Mara blieb zurück. Sie fragte sich: Worauf warte ich noch?
 



 
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