roughingthepasser
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Wie jeden Morgen habe ich das Frühstück vorbereitet: Toast, Butter und Marmelade, Nutella und Müsli, Milch und Orangensaft. Wie jeden Morgen sitze ich an der Stirnseite des Tisches, die Zeitung liegt vor mir auf der fleckigen Eichenholzplatte. Wie jeden Morgen fürchte ich mich vor dem Augenblick, wenn meine Tochter in die Küche kommt, sich wortlos setzt, wortlos eine Scheibe Toast in den Toaster schiebt, sich wortlos Orangensaft einschenkt, wortlos die knusprig-braune Scheibe halbiert, wortlos mit einem winzigen Hauch Butter bestreicht. Nutella und Marmelade hole ich eigentlich nur noch aus alter Gewohnheit aus dem Regal. Martha liebte ein großes Frühstück mit einer ganzen Palette von Aufstrichen. Seit sie nicht mehr da ist, verblassen unsere Frühstücksrituale mehr und mehr; ich klammere mich wenigstens an dem bisschen fest, was jetzt hier vor mir steht. Toast, Butter und Marmelade, Nutella und Müsli, Milch und Orangensaft. Viel ist es nicht. Meine Augen ruhen in furchtsamer Erwartung auf dem ersten Absatz des Leitartikels, meine Ohren lauschen gespannt auf jedes Geräusch aus ihrem Zimmer. Vor ein paar Minuten hat der Wecker geklingelt; wie jeden Morgen nur wenige Sekunden lang. Wir schlafen schlecht. Die Uhr über der Tür zeigt kurz vor halb sieben, eigentlich müsste sie jede Minute-
Mit einem leisen Quietschen höre ich die Zimmertür auf und wieder zu gehen. Ich müsste sie mich um sie kümmern, denke ich und höre die leisen, federleichten Schritte meines Mädchens in der Diele. Schnell bewege ich meine Augen über die ersten Sätze des Leitartikels. Erste Zeile Anfang. Erste Zeile Ende. Zweite Zeile Anfang. Zweite Zeile Ende. Ein Knarzen an der Tür. Dritte Zeile Anfang. Dritte Zeile Ende. Vierte Zeile Anfang. Sie zieht den Stuhl heraus und setzt sich. Ich fürchte mich davor, aufzublicken und ihr ins Gesicht zu sehen. Vierte Zeile Ende. Fünfte Zeile Anfang. Fünfte Zeile Ende. Ich schäme mich dafür und verachte mich dafür und kann es doch nicht ändern. Ihren Tränen mit nichts als Sprachlosigkeit und Unbeholfenheit zu begegnen, keine Worte des Trostes in dieser Zeit des Elends zu haben, ist mehr, als ich verkraften kann. Ich schäme mich sehr und blicke dennoch nicht auf. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Ich höre das Einrasten des Toasters und rieche das Brot. Sechste Zeile Anfang. Leise Schritte. Ein zarter Lufthauch, als würde sie nah an mir vorbeigehen. Ich schließe die Augen. Wenn es nur schon Zeit für die Schule wäre. Sechste Zeile Anfang. Wenn es nur schon sieben wäre. Sechste Zeile Anfang.
„Alles ist gut Papa“, höre ich ihre leise Stimme neben mir, wie aus einem antiquierten Lautsprecher. Seit Tagen hat sie nicht mehr mit mir gesprochen. Meine Augen sind feucht, als ich ihre Hand auf meiner Schulter spüre und ihre Wange an meiner. Schluchzer, seit Wochen aufgestaut, brechen mit Gewalt aus mir heraus. Die einzelnen Zeilen des Artikels verschwimmen. Meine Wange ist nass, ihre Wange wird nass. Die Tränen stammen einzig von mir; ihre Stimme ist zwar leise, doch sie zittert nicht; dennoch klingt sie merkwürdig fern. Ich nicke und schäme mich, dass ich nicht stark bin, nicht stärker bin für sie. Eine Minute hält sie mich so, dann noch eine. Schließlich beginnen die Tränen weniger zu werden und ich beruhige mich. Sie streichelt mir über den Kopf und setzt sich dann an den Tisch. Ich schaffe es nicht, sie anzusehen, und halte meinen Blick auf die feucht und unleserlich gewordene Zeitung geheftet. Ich höre, wie sie die Hälfte ihrer kalten Scheibe Toast mit Butter bestreicht und zu kauen beginnt. Endlich isst sie wieder. In den vergangenen Wochen ist sie dünn geworden, so dünn. Was soll ich tun, wenn sie nicht isst? Wenn sie nichts bei sich behält und nicht schläft? Wenn sie meinen Blick sucht, wie sie immer ihren Blick gesucht hat, und ich keine Antwort habe, auf nichts; wenn auch ich immer ihren Blick gesucht habe und nun niemanden mehr anblicken kann als mich selbst? Ich hasse mich und ich hasse sie dafür, unserer Tochter das angetan zu haben. Uns das angetan zu haben. Der Stuhl scharrt über das Parkett, als sie aufsteht und das Geschirr in die Spüle stellt.
„Ich schaffe das, Papa, irgendwie“, sagt sie kaum vernehmlich, seltsam mechanisch. Ich blicke auf, endlich. Ihre Augen sind rot, ihr Gesicht ist verhärmt und bleich wie das ihrer Mutter... danach. Sie wirkt älter als sie wirklich ist, viel zu alt. Mein Mädchen ist erstarrt in ihrer Trauer wie ein zugefrorener Bachlauf nach bitterem Frost, und doch ist da noch etwas anderes; etwas an ihr macht mir Angst. Ich mustere sie. Aus ihren Augen, stumpf und dunkel und tief wie Tunnel ins Nichts, ist aller Glanz verschwunden. Sie schaut mich an, durch mich hindurch, gleichzeitig stumm und laut um Hilfe schreiend; ihre dunklen Locken umgeben ihr blasses Gesicht wie ein schwerer, drückender Rahmen ein tragisches Gemälde einfasst. Sie verzieht keine Miene und wendet sich schließlich ab. „Und wenn nicht“, fügt sie beim Hinausgehen hinzu und hält einen Herzschlag lang inne. Sie klingt noch mehr nach einem Roboter, der auf groteske Weise versucht, ein vierzehn Jahre altes Mädchen zu imitieren; ihre Stimme ist heiser und schleppend, als spräche sie über ein altes Telefon mit mir. Plötzlich weiß ich, was heute anders ist. Diese Ausdruckslosigkeit habe ich schon einmal gesehen – mit ansehen müssen... habe ich schon einmal erlebt, vor einer Ewigkeit, aus Verzweiflung und Aporie erwachsen... Panik steigt mit einem Mal in mir auf; ich ertrinke in meiner Verantwortung für das Kind und meiner Trauer und ihrer Trauer und das Wasser steigt und steigt und es steht mir bis zum Kinn und reicht nun bis zur Unterlippe und es steigt immer weiter und ich kann nicht atmen und recke den Kopf nach oben, bis mein Nacken brechen will, und recke ihn weiter nach oben und schmecke dennoch das Wasser, tränensalziges Wasser, das mir in den Mund läuft und meine Schreie erstickt und mein Weinen. Ich muss mich anstrengen, unter Wasser ihre Worte zu verstehen, die mit ihr aus der Küche hinauswehen wie eine eisige Bö über der unerbittlich steigenden Flut. „Und wenn nicht, kann ich es immer noch machen wie Mama.“ Ich schließe die Augen. Ich höre sie im Flur und weiß genau, was sie tut. Sie nimmt ihre Tasche, wie jeden Morgen, wirft sich die Jacke über, wie jeden Morgen, und öffnet die Tür, wie jeden Morgen. Doch dieser Morgen ist nicht wie jeder Morgen. Ich starre wieder auf den Artikel. Die Zeitung ist klatschnass. Sechste Zeile Anfang. Gerade als sie die schwere Wohnungstür aufzieht, höre ich sie noch etwas murmeln. Ich verstehe nicht alles, doch es klingt nach „So oder so ist es besser als jetzt“. Mit einem leisen, sonderbar endgültigen Scheppern schnappt die Tür ins Schloss. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Ich lasse den Kopf sinken und atme das Wasser in vollen Zügen ein. Sechste Zeile Anfang.
Mit einem leisen Quietschen höre ich die Zimmertür auf und wieder zu gehen. Ich müsste sie mich um sie kümmern, denke ich und höre die leisen, federleichten Schritte meines Mädchens in der Diele. Schnell bewege ich meine Augen über die ersten Sätze des Leitartikels. Erste Zeile Anfang. Erste Zeile Ende. Zweite Zeile Anfang. Zweite Zeile Ende. Ein Knarzen an der Tür. Dritte Zeile Anfang. Dritte Zeile Ende. Vierte Zeile Anfang. Sie zieht den Stuhl heraus und setzt sich. Ich fürchte mich davor, aufzublicken und ihr ins Gesicht zu sehen. Vierte Zeile Ende. Fünfte Zeile Anfang. Fünfte Zeile Ende. Ich schäme mich dafür und verachte mich dafür und kann es doch nicht ändern. Ihren Tränen mit nichts als Sprachlosigkeit und Unbeholfenheit zu begegnen, keine Worte des Trostes in dieser Zeit des Elends zu haben, ist mehr, als ich verkraften kann. Ich schäme mich sehr und blicke dennoch nicht auf. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Ich höre das Einrasten des Toasters und rieche das Brot. Sechste Zeile Anfang. Leise Schritte. Ein zarter Lufthauch, als würde sie nah an mir vorbeigehen. Ich schließe die Augen. Wenn es nur schon Zeit für die Schule wäre. Sechste Zeile Anfang. Wenn es nur schon sieben wäre. Sechste Zeile Anfang.
„Alles ist gut Papa“, höre ich ihre leise Stimme neben mir, wie aus einem antiquierten Lautsprecher. Seit Tagen hat sie nicht mehr mit mir gesprochen. Meine Augen sind feucht, als ich ihre Hand auf meiner Schulter spüre und ihre Wange an meiner. Schluchzer, seit Wochen aufgestaut, brechen mit Gewalt aus mir heraus. Die einzelnen Zeilen des Artikels verschwimmen. Meine Wange ist nass, ihre Wange wird nass. Die Tränen stammen einzig von mir; ihre Stimme ist zwar leise, doch sie zittert nicht; dennoch klingt sie merkwürdig fern. Ich nicke und schäme mich, dass ich nicht stark bin, nicht stärker bin für sie. Eine Minute hält sie mich so, dann noch eine. Schließlich beginnen die Tränen weniger zu werden und ich beruhige mich. Sie streichelt mir über den Kopf und setzt sich dann an den Tisch. Ich schaffe es nicht, sie anzusehen, und halte meinen Blick auf die feucht und unleserlich gewordene Zeitung geheftet. Ich höre, wie sie die Hälfte ihrer kalten Scheibe Toast mit Butter bestreicht und zu kauen beginnt. Endlich isst sie wieder. In den vergangenen Wochen ist sie dünn geworden, so dünn. Was soll ich tun, wenn sie nicht isst? Wenn sie nichts bei sich behält und nicht schläft? Wenn sie meinen Blick sucht, wie sie immer ihren Blick gesucht hat, und ich keine Antwort habe, auf nichts; wenn auch ich immer ihren Blick gesucht habe und nun niemanden mehr anblicken kann als mich selbst? Ich hasse mich und ich hasse sie dafür, unserer Tochter das angetan zu haben. Uns das angetan zu haben. Der Stuhl scharrt über das Parkett, als sie aufsteht und das Geschirr in die Spüle stellt.
„Ich schaffe das, Papa, irgendwie“, sagt sie kaum vernehmlich, seltsam mechanisch. Ich blicke auf, endlich. Ihre Augen sind rot, ihr Gesicht ist verhärmt und bleich wie das ihrer Mutter... danach. Sie wirkt älter als sie wirklich ist, viel zu alt. Mein Mädchen ist erstarrt in ihrer Trauer wie ein zugefrorener Bachlauf nach bitterem Frost, und doch ist da noch etwas anderes; etwas an ihr macht mir Angst. Ich mustere sie. Aus ihren Augen, stumpf und dunkel und tief wie Tunnel ins Nichts, ist aller Glanz verschwunden. Sie schaut mich an, durch mich hindurch, gleichzeitig stumm und laut um Hilfe schreiend; ihre dunklen Locken umgeben ihr blasses Gesicht wie ein schwerer, drückender Rahmen ein tragisches Gemälde einfasst. Sie verzieht keine Miene und wendet sich schließlich ab. „Und wenn nicht“, fügt sie beim Hinausgehen hinzu und hält einen Herzschlag lang inne. Sie klingt noch mehr nach einem Roboter, der auf groteske Weise versucht, ein vierzehn Jahre altes Mädchen zu imitieren; ihre Stimme ist heiser und schleppend, als spräche sie über ein altes Telefon mit mir. Plötzlich weiß ich, was heute anders ist. Diese Ausdruckslosigkeit habe ich schon einmal gesehen – mit ansehen müssen... habe ich schon einmal erlebt, vor einer Ewigkeit, aus Verzweiflung und Aporie erwachsen... Panik steigt mit einem Mal in mir auf; ich ertrinke in meiner Verantwortung für das Kind und meiner Trauer und ihrer Trauer und das Wasser steigt und steigt und es steht mir bis zum Kinn und reicht nun bis zur Unterlippe und es steigt immer weiter und ich kann nicht atmen und recke den Kopf nach oben, bis mein Nacken brechen will, und recke ihn weiter nach oben und schmecke dennoch das Wasser, tränensalziges Wasser, das mir in den Mund läuft und meine Schreie erstickt und mein Weinen. Ich muss mich anstrengen, unter Wasser ihre Worte zu verstehen, die mit ihr aus der Küche hinauswehen wie eine eisige Bö über der unerbittlich steigenden Flut. „Und wenn nicht, kann ich es immer noch machen wie Mama.“ Ich schließe die Augen. Ich höre sie im Flur und weiß genau, was sie tut. Sie nimmt ihre Tasche, wie jeden Morgen, wirft sich die Jacke über, wie jeden Morgen, und öffnet die Tür, wie jeden Morgen. Doch dieser Morgen ist nicht wie jeder Morgen. Ich starre wieder auf den Artikel. Die Zeitung ist klatschnass. Sechste Zeile Anfang. Gerade als sie die schwere Wohnungstür aufzieht, höre ich sie noch etwas murmeln. Ich verstehe nicht alles, doch es klingt nach „So oder so ist es besser als jetzt“. Mit einem leisen, sonderbar endgültigen Scheppern schnappt die Tür ins Schloss. Sechste Zeile Anfang. Sechste Zeile Anfang. Ich lasse den Kopf sinken und atme das Wasser in vollen Zügen ein. Sechste Zeile Anfang.