Marcel Sommerick
Mitglied
Sechstes Kapitel
[ 4]Liftoff!
[ 4]Die Triebwerke des kleinen Raketenflugzeugs dröhnten, und Yassir versuchte vergeblich, den Druck auf die Ohren loszuwerden. Mit 18144000 Kilogramm Schub beschleunigte das Raumschiff auf 39300 Kilometer pro Stunde; gerade genug Geschwindigkeit, um dem Gravitationsfeld der Erde zu entkommen. Yassir rebellierten alle Organe: Unmöglich, noch irgendwo Halt zu finden. Doch dann übernahm der Chip in seinem Kopf die Kontrolle, und die irrsinnige körperliche Anstrengung fiel von ihm ab. Mit allen Gliedern war er in seinen Sitz festgeschnallt, aber er spürte nichts mehr, fühlte keine Schmerzen, hörte nur, wie leiser Plastikpop durch sein Gehirn rauschte.
[ 4]Der Security-Check in der Amerikanischen Botschaft von Kairo war gründlich ausgefallen. Alles, was noch sein Gepäck ausmachte, waren ein paar Unterhosen, eine Zahnbürste und natürlich das Gold, das paradoxerweise niemand anzutasten gewagt hatte. Sie hatten ihm eine gehörige Gehirnwäsche verabreicht und ihm einen Chip ins Zwischenhirn gepflanzt, alles nur wegen der leidigen Flugsicherheit, denn es war eigentlich schon absonderlich genug, dass ein Passagier arabischer Herkunft in den Flieger einsteigen durfte. Wirtschaftliche Überlegungen hatten den Ausschlag gegeben. Yassir hatte sich in seiner Naivität keine großen Gedanken gemacht, träumte nur von seinen Feldern im Rifgebirge und davon, dass er bald zu den Reichen und Schönen gehören würde. Die warnenden Worte des Alten aus Luxor hatte er längst vergessen, und wenn er ehrlich sein sollte, war die Pilgerfahrt nach Mekka, für die er sein Leben lang gespart hatte, nun zweitrangig geworden. 700 Tonnen Wasserstoff verdampften unter ihm im Weltall; er verlor das Bewusstsein, erwachte erst wieder, als die irrsinnige Beschleunigung ein Ende genommen hatte und eine sanfte Stimme in akzentfreiem Hocharabisch ihn informierte, dass das Raketenflugzeug in den Mondorbit eingeschwenkt sei.
[ 4]Es herrschte angenehme Schwerelosigkeit. Auf dem Bildschirm der Außenbordkamera konnte er die Oberfläche des zerpflügten Erdtrabanten erkennen; wieder zündeten die Triebwerke. Das Raketenflugzeug wurde abgebremst, um schließlich mit einem letzten Aufheulen aller mechatronischen Systeme mitten im Inneren des Alphonsus-Kraters auf der Mondoberfläche aufzusetzen.
[ 4]Yassir betete einen Koranvers: „Er ist’s, der euch reisen lässet zu Land und Meer, so dass, wenn ihr auf den Schiffen seid – und sie mit ihnen mit gutem Wind dahineilen und sich dessen freuen, überkommt sie plötzlich ein Sturmwind und über sie kommen die Wogen von allen Seiten, und sie glauben, dass sie rings von ihnen umschlossen sind; dann rufen sie zu Allah in lauterem Glauben: „Wahrlich, wenn du uns hieraus errettest, dann sind wir dir gewisslich dankbar.“
[ 4]Er ließ die Gebetsschnur durch die Finger gleiten und registrierte erleichtert, dass der Druck auf alle Glieder nachgelassen hatte. Über ihm blinkte eine Lampe auf und informierte ihn, dass er nun seinen Sicherheitsgurt abnehmen könnte. Eine Stewardess lief herum und teilte über den Bordlautsprecher den Passagieren mit, dass sie in wenigen Minuten das Raketenflugzeug verlassen könnten. Yassir lechzte nach einer Zigarette, aber er wusste, dass aus Sicherheitsgründen auf der gesamten Kolonie das Rauchen verboten war. Man behalf sich mit Nikotinpflastern. Die schwenkbare Schleuse dockte an das Raumschiff an, und schon zückten die ersten Handlungsreisenden ihre Mobiltelefone, um von ihren Geschäftspartnern die Börsenkurse der Sekunde zu erfahren. Yassir klammerte sich an die Goldbarren in seinem Handgepäck und wartete, bis alle aufgestanden waren. Dann verließ er als letzter das Raumschiff.
[ 4]Die Stewardess verabschiedete sich jovial. Yassir trottete hinter den anderen Passagieren durch endlose Korridore, machte kurz Halt an der Toilette, um sich zu erleichtern. Er kramte seinen Reisepass hervor, der schon jetzt nur so vor Eintragungen strotzte, und händigte ihn dem Grenzer an der Kontrollstation aus. Dieser warf einen kurzen Blick hinein, griff dann hinter sich und zog ein langes Kabel aus dem Rechner hinter ihm. Er verband den Steckkontakt direkt mit dem Interface in Yassirs Kopf, und schon rauschten seine Daten durch die Leitung. Yassir verharrte lethargisch und wartete, bis der Chip in seinem Kopf alle Daten übermittelt hatte. Dann nahm er den Reisepass wieder in Empfang, schluckte noch eine Beruhigungspille und folgte einem weiteren Grenzbeamten, der ihn auf die Wache lotste. Sein Handgepäck hatte bislang niemand angetastet, soviel Anstand hatten die Amerikaner doch wieder, dachte er sich. Genauso gut hätten sie ihm das Gold abnehmen können und ihn mit der nächsten Raumfähre wieder nach Hause schicken können. Aber es gab Gesetze, und nichts war auf dem Erdtrabanten heiliger als die Verfassung der Vereinigten Staaten, die es trotz Korruption und internationaler Verschwörung der Geheimdienste untersagte, einen Verdächtigen länger als 144 Stunden ohne triftigen Grund festzuhalten.
[ 4]Dann begann das Verhör.
[ 4]Yassir sprach nur leidlich Mondial, und er bestand darauf, dass ein Übersetzer anwesend war, als die Beamten vom Secret Service ihre Fragen stellten. Die erste Frage betraf natürlich das Gold. Woher er es hatte, was er mit dem eingetauschten Geld vorhatte. Yassir gab ausweichende Antworten und war froh, dass die Beamten nicht nachhakten. Fürs Erste schien das Thema vom Tisch zu sein. Er musste seine Herkunft und Familienverhältnisse offenlegen. Seine Bekannten, Schulweg, Ausbildung, Arbeit. Nach zwei Stunden war er es leid und fragte, ob er jetzt in sein Hotel könnte. Der Agent lachte zynisch. „Sehen Sie, wir könnten Sie hier auch mit Zigarettenstummeln foltern, damit sie schneller antworten und uns keine Lügen auftischen. Aber wo wir schon einmal dabei sind: Trinken Sie das.“
[ 4]Er hielt Yassir einen Becher Kaffee entgegen. Yassir schnupperte misstrauisch daran. „Was ist das?“
[ 4]„Was meinen Sie wohl, was das ist?“
[ 4]Yassir trank den Kaffee. Er schmeckte ganz normal, aber bald merkte er die Wirkung. Wenn er auch vorher nicht mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten hatte, so steigerte sich jetzt sein Redefluss ins Grenzenlose. Er konnte den Mund nicht mehr halten. Bald wusste der Secret Service alles: Wann er wo eine Frau gehabt hatte, wer die Abnehmer waren, für die er das Kif anbaute, wer aus seinem Bekanntenkreis schon einmal Kontakt zur Arabischen Liga gehabt hatte. Der frühe Tod seines Vaters, die Beerdigung, die falschen Tränen, die alle vergossen. Zwischendurch kicherte Yassir blöde und fragte immer wieder, ob er nicht auf sein Hotel könnte, er hätte Fantastisches gehört von den Nutten auf Alphonsus. Der Speichel troff ihm aus dem Mund. Die Beamten zogen sich ins Nebenzimmer zurück.
[ 4]„Meinst du nicht, dass wir es mit der Dosierung etwas übertrieben haben?“
[ 4]„No matter. Er wird schon nicht daran sterben. Aber ich habe ihn im Verdacht, dass er uns etwas vorenthält.“
[ 4]„Also weiter.“
[ 4]Yassir war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Der Beamte weckte ihn mit einer Ohrfeige. „Noch mal von vorne. Wie war das mit der Arabischen Liga?“
[ 4]„Aber ich sagte Ihnen doch, dass ich nichts darüber weiß. Das Rif-Gebirge ist die hinterste Provinz, dahin verirren sich keine Terroristen.“
[ 4]„Wir haben andere Informationen. Was ist mit Ihrem Freund Kamil Rejef?“
[ 4]Kamil! Yassir erinnerte sich. Sein bester Freund in der Koranschule, der vorzeitig abging, um in Syrien Elektroniker zu lernen. Sie hatten sich nach kurzer Zeit aus den Augen verloren.
[ 4]„Er hasste die Amerikaner.“
[ 4]„Das wissen wir so gut wie Sie. Was, glauben Sie, macht er heute?“
[ 4]„Keine Ahnung. Vielleicht sagen Sie es mir.“
[ 4]„Jetzt werden Sie nicht frech. Er baut Bomben, das wissen Sie ganz genau.“
[ 4]Yassir blickte den Übersetzer ratlos an. „Sind Sie sicher, dass Sie das richtige Wort gefunden haben?“
[ 4]„Absolut.“
[ 4]Yassir kicherte blöde und wischte sich den Mund ab. „Bomben, ja, das wusste ich nicht. Sicher, er hatte das Talent. Aber ich dachte eher, er würde Antigrav-Gleiter reparieren, als gegen die Amis Terror zu machen.“
„[ 4]Sie wussten es also nicht?“
[ 4]„Nein.“
[ 4]Die Beamten vom Secret Service blickten einander an, schüttelten die Köpfe. „So kommen wir hier nicht weiter.“
Sie zwangen Yassir, eine weitere Pille zu schlucken, und zogen sich zurück.
[ 4]Yassir blickte sich das erste Mal in dem Raum um. An der Wand eine Pritsche, eine Wolldecke. Keine Fenster. Die Wände weiß, keine Toilette, keine Ablagefläche. Er wurde müde. Er hörte von nebenan Stimmen. Wahrscheinlich Halluzinationen, dachte er, und streckte sich auf der Pritsche aus. Er wehrte sich gegen die Müdigkeit, konnte aber nicht verhindern, dass er in tiefen Schlaf fiel. Später wurde er kurz wach und merkte, wie ihm jemand eine Spritze ins Bein rammte, schlief aber gleich wieder ein. Als er erwachte, schaute er auf seine Uhr und sah, dass er 24 Stunden geschlafen hatte. Er fühlte zwischen seine Beine und registrierte erleichtert, dass noch alles an ihm dran war. Dann begann er, wie ein Kind auf und ab zu hüpfen, was wegen der geringen Schwerkraft auf dem Mond ohne weiteres möglich war. Er sprang bis zur Decke, hielt sich an der Lampe fest und kritzelte seinen Namen mit einem Bleistift auf die Tapete. Wieder hörte er Stimmen. „Man sollte ihm die Augen ausstechen.“
[ 4]„Ich schneid ihm die Eier ab.“
[ 4]„Warum bringen wir ihn nicht gleich um die Ecke?“
[ 4]Yassir suchte nach einem Lautsprecher in der Wand, aber da war nichts. Nur vier Stühle, die Pritsche und sein Handgepäck mit den Goldbarren. Er bekam Panik, schrie auf Arabisch: „Ich will hier raus! Ich bin kein Terrorist! Nehmt doch das Gold und lasst mich zufrieden!“
[ 4]Er hämmerte seinen Kopf gegen die Wand, woraufhin der Microchip in seinem Schädel einen Reset durchführte. Ihm wurde heiß und kalt, er zitterte, dachte an Tanita und dass er sofort mit der ersten Rakete zurückfliegen wollte, Gold hin oder her. Aber der Chip würde in seinem Kopf bleiben, und nichts würde so sein, wie es vorher war. Er hatte Erektionsstörungen, vielleicht würde es nie wieder gehen mit Tanita, und selbst wenn er als reicher Mann zurückkäme, würde er kinderlos bleiben.
[ 4]Auf einmal verspürte er ein dringendes Bedürfnis, und er verrichtete seine Notdurft in einer Zimmerecke. Was hatte er nicht geträumt von Spazierfahrten im Moonbuggy, von Whiskey und Koks, von schönen Dirnen und Nächten in der Disco. Jetzt hockte er hier, und sein Schicksal drohte zwischen vier weißen Wänden zu scheitern. Vielleicht würden sie ihn nie wieder gehen lassen und ihn als menschliches Versuchskaninchen missbrauchen.
[ 4]Er blieb fünf Tage und Nächte auf der Isolierstation. Dann explodierte die Bombe. Die Wände bebten, es war Mittwoch, der 15. Mai 3005. Was folgte, waren hektische Aufräumarbeiten. Der Secret Service hatte Yassirs Freund aus Kindertagen im Verdacht, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Sie dachten jetzt nur noch daran, Yassir so schnell wie möglich abzuschieben, da er ein Sicherheitsrisiko darstellte. Ein Chemiker prüfte die Beschaffenheit des Goldes, denn die Kolonie brauchte jedes Gramm der kostbaren Substanz. Sie machten ihm ein gutes Angebot, und Yassir dampfte mit vier Millionen Lunos ab in das verlotterte Nachtleben von Alphonsus.
[ 4]Er hatte noch 48 Stunden Zeit, bis sein Flug auf dem Programm stand. Also kippte er erst mal eine halbe Flasche Whiskey in sich hinein, rauchte heimlich zwei Joints, nahm eine Nase Koks und verschwand dann mit drei Damen im Hinterzimmer eines zwielichtigen Etablissements. Er hatte alle Hände voll zu tun, denn bei der geringeren Schwerkraft war der Sex ganz anders, als er ihn bisher kannte. Er war schon froh, dass die drei Nutten nicht die Gunst der Stunde nutzten und ihn einfach strangulierten. Aber es gab strenge Gesetze auf Alphonsus, und Verbrechen kamen hier so gut wie keine vor. Als Yassir eine Ruhepause brauchte, erzählten ihm die Dirnen in allen Einzelheiten von dem Anschlag. Eine ferngesteuerte Rakete war mitten in einem Wohnblock eingeschlagen, wobei eine Menge kostbaren Sauerstoffs ungehindert ins All verdampfte. Die Reparaturarbeiten würden Monate dauern. Der einzige Grund, weshalb man Yassir in Ruhe ließ, war sein teures Gold. Nach der verlotterten Nacht schlich er noch einmal durch die Kolonie, sein Gepäck voller Geldbündel. Alles war peinlich sauber, jeder Zentimeter wurde von Kameras überwacht. Androiden kümmerten sich um die Sauberhaltung der künstlichen Siedlung. Durch Panzerglasscheiben konnte man nach draußen gucken, wo riesige Roboter Erz und andere Rohstoffe aus dem Gestein schürften. Die Kolonie bestand seit 400 Jahren, die Amerikaner kannten nichts anderes. Aber Yassir sehnte sich langsam nach seinen Feldern, nach langer, mühseliger Arbeit an der frischen Luft.
[ 4]Der Alkohol, die Drogen und der Sex hatten ihre Spuren hinterlassen. Schwer angeschlagen kehrte Yassir in sein Hotel zurück, um vor dem Start noch eine Mütze Schlaf zu nehmen. Er schloss die Zimmertür auf, stellte noch eine Flasche vor die Tür – um ungebetene Eindringlinge rechtzeitig wahrzunehmen – stopfte sich die Lunos unter das Kopfkissen und versank in bleiernen Schlaf.
[ 4]Mitten in der Nacht – es mochte gegen vier Uhr morgens sein – wurde er schlagartig wach, als jemand an seinem Kopfkissen zerrte. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber der Dieb hatte sich schon durch den Luftschacht davongemacht. Er zählte die Lunos, es mochten einige Tausend fehlen. Mit seinem Katerschädel war es schwer auszumachen, ob er sich alles nur eingebildet hatte oder ob tatsächlich jemand in dem Zimmer gewesen war.
[ 4]Er legte sich wieder schlafen, und nach einer Stunde wurde er schon wieder wach und merkte, dass ein Bündel Scheine fehlte. Er verfluchte seine Trägheit, stopfte die Scheine wieder sorgfältig unter sein Kopfkissen und legte sich ins Bett, achtete aber darauf, nicht wegzudösen. Als es im Luftschacht polterte, war er trotzdem schon wieder eingeschlummert: Zu spät, um etwas gegen den Dieb zu unternehmen. Doch dann polterte es erneut im Luftschacht, anscheinend war der Eindringling ausgerutscht und hatte den Halt verloren. Es rumpelte noch einmal, dann war Stille.
Yassir wurde vom Schlaf übermannt und kam erst wieder zu Bewusstsein, als jemand gegen die Tür hämmerte. Vielleicht die Kinder, dachte er, und blieb im Bett liegen.
[ 4]Zwei Stunden ging das so, dann siegte seine Neugier. Er riss die Tür auf und sah, wie sich eine Horde Halbwüchsiger davonmachte. Als sie wegliefen, johlten sie noch: „Er hat sich das Genick gebrochen.“ Yassir wusste nicht, was er davon halten sollte, aber es war schon möglich, dass der Eindringling auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Er beschloss, dass dies nicht seine Schuld sei, zählte noch einmal die Scheine und war froh, dass nicht allzu viel fehlte. Dann stellte er sich unter die heiße Dusche – ein absoluter Luxus, denn Wasser war knapp – rauchte verbotenerweise noch ein paar Kippen und packte seine Sachen. Viel war es nicht, was sein Gepäck ausmachte, und als er am frühen Vormittag durch die Schleuse zum Raketenflugzeug torkelte, dankte er Allah, dass er noch am Leben war und sich von nun an in Reichtum und Glanz hüllen könnte.
[ 4]Liftoff!
[ 4]Die Triebwerke des kleinen Raketenflugzeugs dröhnten, und Yassir versuchte vergeblich, den Druck auf die Ohren loszuwerden. Mit 18144000 Kilogramm Schub beschleunigte das Raumschiff auf 39300 Kilometer pro Stunde; gerade genug Geschwindigkeit, um dem Gravitationsfeld der Erde zu entkommen. Yassir rebellierten alle Organe: Unmöglich, noch irgendwo Halt zu finden. Doch dann übernahm der Chip in seinem Kopf die Kontrolle, und die irrsinnige körperliche Anstrengung fiel von ihm ab. Mit allen Gliedern war er in seinen Sitz festgeschnallt, aber er spürte nichts mehr, fühlte keine Schmerzen, hörte nur, wie leiser Plastikpop durch sein Gehirn rauschte.
[ 4]Der Security-Check in der Amerikanischen Botschaft von Kairo war gründlich ausgefallen. Alles, was noch sein Gepäck ausmachte, waren ein paar Unterhosen, eine Zahnbürste und natürlich das Gold, das paradoxerweise niemand anzutasten gewagt hatte. Sie hatten ihm eine gehörige Gehirnwäsche verabreicht und ihm einen Chip ins Zwischenhirn gepflanzt, alles nur wegen der leidigen Flugsicherheit, denn es war eigentlich schon absonderlich genug, dass ein Passagier arabischer Herkunft in den Flieger einsteigen durfte. Wirtschaftliche Überlegungen hatten den Ausschlag gegeben. Yassir hatte sich in seiner Naivität keine großen Gedanken gemacht, träumte nur von seinen Feldern im Rifgebirge und davon, dass er bald zu den Reichen und Schönen gehören würde. Die warnenden Worte des Alten aus Luxor hatte er längst vergessen, und wenn er ehrlich sein sollte, war die Pilgerfahrt nach Mekka, für die er sein Leben lang gespart hatte, nun zweitrangig geworden. 700 Tonnen Wasserstoff verdampften unter ihm im Weltall; er verlor das Bewusstsein, erwachte erst wieder, als die irrsinnige Beschleunigung ein Ende genommen hatte und eine sanfte Stimme in akzentfreiem Hocharabisch ihn informierte, dass das Raketenflugzeug in den Mondorbit eingeschwenkt sei.
[ 4]Es herrschte angenehme Schwerelosigkeit. Auf dem Bildschirm der Außenbordkamera konnte er die Oberfläche des zerpflügten Erdtrabanten erkennen; wieder zündeten die Triebwerke. Das Raketenflugzeug wurde abgebremst, um schließlich mit einem letzten Aufheulen aller mechatronischen Systeme mitten im Inneren des Alphonsus-Kraters auf der Mondoberfläche aufzusetzen.
[ 4]Yassir betete einen Koranvers: „Er ist’s, der euch reisen lässet zu Land und Meer, so dass, wenn ihr auf den Schiffen seid – und sie mit ihnen mit gutem Wind dahineilen und sich dessen freuen, überkommt sie plötzlich ein Sturmwind und über sie kommen die Wogen von allen Seiten, und sie glauben, dass sie rings von ihnen umschlossen sind; dann rufen sie zu Allah in lauterem Glauben: „Wahrlich, wenn du uns hieraus errettest, dann sind wir dir gewisslich dankbar.“
[ 4]Er ließ die Gebetsschnur durch die Finger gleiten und registrierte erleichtert, dass der Druck auf alle Glieder nachgelassen hatte. Über ihm blinkte eine Lampe auf und informierte ihn, dass er nun seinen Sicherheitsgurt abnehmen könnte. Eine Stewardess lief herum und teilte über den Bordlautsprecher den Passagieren mit, dass sie in wenigen Minuten das Raketenflugzeug verlassen könnten. Yassir lechzte nach einer Zigarette, aber er wusste, dass aus Sicherheitsgründen auf der gesamten Kolonie das Rauchen verboten war. Man behalf sich mit Nikotinpflastern. Die schwenkbare Schleuse dockte an das Raumschiff an, und schon zückten die ersten Handlungsreisenden ihre Mobiltelefone, um von ihren Geschäftspartnern die Börsenkurse der Sekunde zu erfahren. Yassir klammerte sich an die Goldbarren in seinem Handgepäck und wartete, bis alle aufgestanden waren. Dann verließ er als letzter das Raumschiff.
[ 4]Die Stewardess verabschiedete sich jovial. Yassir trottete hinter den anderen Passagieren durch endlose Korridore, machte kurz Halt an der Toilette, um sich zu erleichtern. Er kramte seinen Reisepass hervor, der schon jetzt nur so vor Eintragungen strotzte, und händigte ihn dem Grenzer an der Kontrollstation aus. Dieser warf einen kurzen Blick hinein, griff dann hinter sich und zog ein langes Kabel aus dem Rechner hinter ihm. Er verband den Steckkontakt direkt mit dem Interface in Yassirs Kopf, und schon rauschten seine Daten durch die Leitung. Yassir verharrte lethargisch und wartete, bis der Chip in seinem Kopf alle Daten übermittelt hatte. Dann nahm er den Reisepass wieder in Empfang, schluckte noch eine Beruhigungspille und folgte einem weiteren Grenzbeamten, der ihn auf die Wache lotste. Sein Handgepäck hatte bislang niemand angetastet, soviel Anstand hatten die Amerikaner doch wieder, dachte er sich. Genauso gut hätten sie ihm das Gold abnehmen können und ihn mit der nächsten Raumfähre wieder nach Hause schicken können. Aber es gab Gesetze, und nichts war auf dem Erdtrabanten heiliger als die Verfassung der Vereinigten Staaten, die es trotz Korruption und internationaler Verschwörung der Geheimdienste untersagte, einen Verdächtigen länger als 144 Stunden ohne triftigen Grund festzuhalten.
[ 4]Dann begann das Verhör.
[ 4]Yassir sprach nur leidlich Mondial, und er bestand darauf, dass ein Übersetzer anwesend war, als die Beamten vom Secret Service ihre Fragen stellten. Die erste Frage betraf natürlich das Gold. Woher er es hatte, was er mit dem eingetauschten Geld vorhatte. Yassir gab ausweichende Antworten und war froh, dass die Beamten nicht nachhakten. Fürs Erste schien das Thema vom Tisch zu sein. Er musste seine Herkunft und Familienverhältnisse offenlegen. Seine Bekannten, Schulweg, Ausbildung, Arbeit. Nach zwei Stunden war er es leid und fragte, ob er jetzt in sein Hotel könnte. Der Agent lachte zynisch. „Sehen Sie, wir könnten Sie hier auch mit Zigarettenstummeln foltern, damit sie schneller antworten und uns keine Lügen auftischen. Aber wo wir schon einmal dabei sind: Trinken Sie das.“
[ 4]Er hielt Yassir einen Becher Kaffee entgegen. Yassir schnupperte misstrauisch daran. „Was ist das?“
[ 4]„Was meinen Sie wohl, was das ist?“
[ 4]Yassir trank den Kaffee. Er schmeckte ganz normal, aber bald merkte er die Wirkung. Wenn er auch vorher nicht mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten hatte, so steigerte sich jetzt sein Redefluss ins Grenzenlose. Er konnte den Mund nicht mehr halten. Bald wusste der Secret Service alles: Wann er wo eine Frau gehabt hatte, wer die Abnehmer waren, für die er das Kif anbaute, wer aus seinem Bekanntenkreis schon einmal Kontakt zur Arabischen Liga gehabt hatte. Der frühe Tod seines Vaters, die Beerdigung, die falschen Tränen, die alle vergossen. Zwischendurch kicherte Yassir blöde und fragte immer wieder, ob er nicht auf sein Hotel könnte, er hätte Fantastisches gehört von den Nutten auf Alphonsus. Der Speichel troff ihm aus dem Mund. Die Beamten zogen sich ins Nebenzimmer zurück.
[ 4]„Meinst du nicht, dass wir es mit der Dosierung etwas übertrieben haben?“
[ 4]„No matter. Er wird schon nicht daran sterben. Aber ich habe ihn im Verdacht, dass er uns etwas vorenthält.“
[ 4]„Also weiter.“
[ 4]Yassir war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Der Beamte weckte ihn mit einer Ohrfeige. „Noch mal von vorne. Wie war das mit der Arabischen Liga?“
[ 4]„Aber ich sagte Ihnen doch, dass ich nichts darüber weiß. Das Rif-Gebirge ist die hinterste Provinz, dahin verirren sich keine Terroristen.“
[ 4]„Wir haben andere Informationen. Was ist mit Ihrem Freund Kamil Rejef?“
[ 4]Kamil! Yassir erinnerte sich. Sein bester Freund in der Koranschule, der vorzeitig abging, um in Syrien Elektroniker zu lernen. Sie hatten sich nach kurzer Zeit aus den Augen verloren.
[ 4]„Er hasste die Amerikaner.“
[ 4]„Das wissen wir so gut wie Sie. Was, glauben Sie, macht er heute?“
[ 4]„Keine Ahnung. Vielleicht sagen Sie es mir.“
[ 4]„Jetzt werden Sie nicht frech. Er baut Bomben, das wissen Sie ganz genau.“
[ 4]Yassir blickte den Übersetzer ratlos an. „Sind Sie sicher, dass Sie das richtige Wort gefunden haben?“
[ 4]„Absolut.“
[ 4]Yassir kicherte blöde und wischte sich den Mund ab. „Bomben, ja, das wusste ich nicht. Sicher, er hatte das Talent. Aber ich dachte eher, er würde Antigrav-Gleiter reparieren, als gegen die Amis Terror zu machen.“
„[ 4]Sie wussten es also nicht?“
[ 4]„Nein.“
[ 4]Die Beamten vom Secret Service blickten einander an, schüttelten die Köpfe. „So kommen wir hier nicht weiter.“
Sie zwangen Yassir, eine weitere Pille zu schlucken, und zogen sich zurück.
[ 4]Yassir blickte sich das erste Mal in dem Raum um. An der Wand eine Pritsche, eine Wolldecke. Keine Fenster. Die Wände weiß, keine Toilette, keine Ablagefläche. Er wurde müde. Er hörte von nebenan Stimmen. Wahrscheinlich Halluzinationen, dachte er, und streckte sich auf der Pritsche aus. Er wehrte sich gegen die Müdigkeit, konnte aber nicht verhindern, dass er in tiefen Schlaf fiel. Später wurde er kurz wach und merkte, wie ihm jemand eine Spritze ins Bein rammte, schlief aber gleich wieder ein. Als er erwachte, schaute er auf seine Uhr und sah, dass er 24 Stunden geschlafen hatte. Er fühlte zwischen seine Beine und registrierte erleichtert, dass noch alles an ihm dran war. Dann begann er, wie ein Kind auf und ab zu hüpfen, was wegen der geringen Schwerkraft auf dem Mond ohne weiteres möglich war. Er sprang bis zur Decke, hielt sich an der Lampe fest und kritzelte seinen Namen mit einem Bleistift auf die Tapete. Wieder hörte er Stimmen. „Man sollte ihm die Augen ausstechen.“
[ 4]„Ich schneid ihm die Eier ab.“
[ 4]„Warum bringen wir ihn nicht gleich um die Ecke?“
[ 4]Yassir suchte nach einem Lautsprecher in der Wand, aber da war nichts. Nur vier Stühle, die Pritsche und sein Handgepäck mit den Goldbarren. Er bekam Panik, schrie auf Arabisch: „Ich will hier raus! Ich bin kein Terrorist! Nehmt doch das Gold und lasst mich zufrieden!“
[ 4]Er hämmerte seinen Kopf gegen die Wand, woraufhin der Microchip in seinem Schädel einen Reset durchführte. Ihm wurde heiß und kalt, er zitterte, dachte an Tanita und dass er sofort mit der ersten Rakete zurückfliegen wollte, Gold hin oder her. Aber der Chip würde in seinem Kopf bleiben, und nichts würde so sein, wie es vorher war. Er hatte Erektionsstörungen, vielleicht würde es nie wieder gehen mit Tanita, und selbst wenn er als reicher Mann zurückkäme, würde er kinderlos bleiben.
[ 4]Auf einmal verspürte er ein dringendes Bedürfnis, und er verrichtete seine Notdurft in einer Zimmerecke. Was hatte er nicht geträumt von Spazierfahrten im Moonbuggy, von Whiskey und Koks, von schönen Dirnen und Nächten in der Disco. Jetzt hockte er hier, und sein Schicksal drohte zwischen vier weißen Wänden zu scheitern. Vielleicht würden sie ihn nie wieder gehen lassen und ihn als menschliches Versuchskaninchen missbrauchen.
[ 4]Er blieb fünf Tage und Nächte auf der Isolierstation. Dann explodierte die Bombe. Die Wände bebten, es war Mittwoch, der 15. Mai 3005. Was folgte, waren hektische Aufräumarbeiten. Der Secret Service hatte Yassirs Freund aus Kindertagen im Verdacht, für den Anschlag verantwortlich zu sein. Sie dachten jetzt nur noch daran, Yassir so schnell wie möglich abzuschieben, da er ein Sicherheitsrisiko darstellte. Ein Chemiker prüfte die Beschaffenheit des Goldes, denn die Kolonie brauchte jedes Gramm der kostbaren Substanz. Sie machten ihm ein gutes Angebot, und Yassir dampfte mit vier Millionen Lunos ab in das verlotterte Nachtleben von Alphonsus.
[ 4]Er hatte noch 48 Stunden Zeit, bis sein Flug auf dem Programm stand. Also kippte er erst mal eine halbe Flasche Whiskey in sich hinein, rauchte heimlich zwei Joints, nahm eine Nase Koks und verschwand dann mit drei Damen im Hinterzimmer eines zwielichtigen Etablissements. Er hatte alle Hände voll zu tun, denn bei der geringeren Schwerkraft war der Sex ganz anders, als er ihn bisher kannte. Er war schon froh, dass die drei Nutten nicht die Gunst der Stunde nutzten und ihn einfach strangulierten. Aber es gab strenge Gesetze auf Alphonsus, und Verbrechen kamen hier so gut wie keine vor. Als Yassir eine Ruhepause brauchte, erzählten ihm die Dirnen in allen Einzelheiten von dem Anschlag. Eine ferngesteuerte Rakete war mitten in einem Wohnblock eingeschlagen, wobei eine Menge kostbaren Sauerstoffs ungehindert ins All verdampfte. Die Reparaturarbeiten würden Monate dauern. Der einzige Grund, weshalb man Yassir in Ruhe ließ, war sein teures Gold. Nach der verlotterten Nacht schlich er noch einmal durch die Kolonie, sein Gepäck voller Geldbündel. Alles war peinlich sauber, jeder Zentimeter wurde von Kameras überwacht. Androiden kümmerten sich um die Sauberhaltung der künstlichen Siedlung. Durch Panzerglasscheiben konnte man nach draußen gucken, wo riesige Roboter Erz und andere Rohstoffe aus dem Gestein schürften. Die Kolonie bestand seit 400 Jahren, die Amerikaner kannten nichts anderes. Aber Yassir sehnte sich langsam nach seinen Feldern, nach langer, mühseliger Arbeit an der frischen Luft.
[ 4]Der Alkohol, die Drogen und der Sex hatten ihre Spuren hinterlassen. Schwer angeschlagen kehrte Yassir in sein Hotel zurück, um vor dem Start noch eine Mütze Schlaf zu nehmen. Er schloss die Zimmertür auf, stellte noch eine Flasche vor die Tür – um ungebetene Eindringlinge rechtzeitig wahrzunehmen – stopfte sich die Lunos unter das Kopfkissen und versank in bleiernen Schlaf.
[ 4]Mitten in der Nacht – es mochte gegen vier Uhr morgens sein – wurde er schlagartig wach, als jemand an seinem Kopfkissen zerrte. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber der Dieb hatte sich schon durch den Luftschacht davongemacht. Er zählte die Lunos, es mochten einige Tausend fehlen. Mit seinem Katerschädel war es schwer auszumachen, ob er sich alles nur eingebildet hatte oder ob tatsächlich jemand in dem Zimmer gewesen war.
[ 4]Er legte sich wieder schlafen, und nach einer Stunde wurde er schon wieder wach und merkte, dass ein Bündel Scheine fehlte. Er verfluchte seine Trägheit, stopfte die Scheine wieder sorgfältig unter sein Kopfkissen und legte sich ins Bett, achtete aber darauf, nicht wegzudösen. Als es im Luftschacht polterte, war er trotzdem schon wieder eingeschlummert: Zu spät, um etwas gegen den Dieb zu unternehmen. Doch dann polterte es erneut im Luftschacht, anscheinend war der Eindringling ausgerutscht und hatte den Halt verloren. Es rumpelte noch einmal, dann war Stille.
Yassir wurde vom Schlaf übermannt und kam erst wieder zu Bewusstsein, als jemand gegen die Tür hämmerte. Vielleicht die Kinder, dachte er, und blieb im Bett liegen.
[ 4]Zwei Stunden ging das so, dann siegte seine Neugier. Er riss die Tür auf und sah, wie sich eine Horde Halbwüchsiger davonmachte. Als sie wegliefen, johlten sie noch: „Er hat sich das Genick gebrochen.“ Yassir wusste nicht, was er davon halten sollte, aber es war schon möglich, dass der Eindringling auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Er beschloss, dass dies nicht seine Schuld sei, zählte noch einmal die Scheine und war froh, dass nicht allzu viel fehlte. Dann stellte er sich unter die heiße Dusche – ein absoluter Luxus, denn Wasser war knapp – rauchte verbotenerweise noch ein paar Kippen und packte seine Sachen. Viel war es nicht, was sein Gepäck ausmachte, und als er am frühen Vormittag durch die Schleuse zum Raketenflugzeug torkelte, dankte er Allah, dass er noch am Leben war und sich von nun an in Reichtum und Glanz hüllen könnte.