Seele

madonna

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Seele
Ein Mann lebte mit seiner Familie in einem Haus am Rande eines grossen Waldes. Jahr aus Jahr ein tat er seine Arbeit, pflegte seinen Garten, fütterte das Vieh und war am Abend müde und schlief traumlos bis zu nächsten Morgen. Er hatte keine Sorgen, die Geschäfte gingen gut. Die Früchte seines Gartens waren die begehrtesten auf dem Markt, und so lebte er in einem bescheidenen Wohlstand. Seine Kinder wuchsen heran, wurden ordentliche Leute und schickten sich an, selber einen Hausstand zu gründen. Er glaubte schon, sein Leben würde immer so weitergehen bis zu seinem Ende. Irgendwie machte ihn das traurig, warum vermochte er nicht zu sagen.Niemals in all den Jahren war er in dem Wald gewesen, an den sein Garten grenzte. Wohl hatte er hin und wieder hinüber gesehen, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen dort nach etwas zu suchen. Eines Tages besuchten ihn einige Freunde aus seinen Jugendtagen,leichtsinnige und lustige Gesellen, und überredeten den Mann mit ihnen auf die Jagd zu gehen. Nun war der Mann kein Jäger, und verstand sich nicht auf das Waidwerk, aber da er nichts besseres zu tun hatte, begleitete er sie in den Wald. Seine Freunde machten sich auf die Jagd nach allerlei Wild, allein, weil sie in so ausgelassener Stimmung waren wollte der Jagderfolg sich nicht so bald einstellen. Der Mann, der so lange Jahre am Rande dieses Waldes gelebt hatte, sah zum erstenmal die riesenhaften Bäume aus der Nähe, die majestätischen Kronen, die dunklen Schatten, die goldenen Lichterstrahlen, die die Laubdecke durchdrangen und zauberhafte Muster malten, und zum ersten mal hörte er das sanfte Rauschen, wie eine Melodie, die er schon immer gekannt und doch nicht wahrgenommen hatte. Sein Herz pochte. Ein seltsames Verlangen ergriff ihn und er drang tiefer in den Wald ein. Bald hörte er die Stimmen der Jagdgesellschaft nicht mehr, sondern befand sich ganz allein, hingerissen von der sanften Musik, auf einem Weg, der ihn tiefer und tiefer in den Wald führte. Nach einiger Zeit fand er eine Lichtung mit einem kleinen See. Die Sonnenstrahlen entfalteten hier ihre volle Kraft; es war warm im Gegensatz zur kühlen Frische des Waldes. Der Mann war müde geworden und legte sich in das hohe Ufergras um ein wenig auszuruhen. Als er so da lag und vor sich hindöste, kamen die Tiere des Waldes um aus dem See zu trinken... und er wunderte sich, dass sie ihn nicht fürchteten, und nach einer kurzen Weile bemerkte er, dass er verstand, was sie sprachen. Aufmerksam lauschte er den Rehen und den Vögeln, er erfuhr, was die Bienen einander zusummten; er verstand alles, und doch, hätte er berichten sollen von dem, was er dort hörte, mit keinem Wort seiner eigenen Sprache hätte er es erzählen können. Er sah den Fischen zu, die so anmutig im Wasser spielten, ihr glatter Leib schillerte und glänzte im Sonnenlicht, wenn sie plötzlich mit einem übermütigen Satz ihr Element für einen Moment verließen, um dann gleich darauf unter Blättern und zwischen Kieseln ein Versteck zusuchen. Er konnte sich gar nicht sattsehen an dem fröhlichen Schauspiel. Nach einer Weile war ihm , als ob ihn jemand beobachtete, und nach dem er sich umgesehen hatte, bemekte er ein dunkles Augenpaar, das ihn aus dem Uferschilf heraus anstarrte. "Wer bist du?" fragte der Mann, doch er bekam keine Antwort. Er wartete und nach einer kurzen oder längeren Zeit fragte er wieder: "Wer bist du ? Was machst du da?" Da teilte sich das Schilf und eine schöne junge Nixe lächelte ihm zu . "Ich habe dich erwartet", sagte sie zu seinem Erstaunen. Er konnte sich vor Verwunderung nicht fassen und starrte sie sprachlos an. "Woher wußtest du, dass ich komme?" fragte er endlich," ich war doch noch in meinem ganzen Leben nicht hier:" Die Nixe schwieg und mit einer flinken Bewegung tauchte sie unter und einen Augenblick später vor ihm auf. Ihre langen dunklen Haare fielen nass über ihre weissen Schultern und bedeckten ihren schlanken Leib. Sie war sehr schön. " Wie heißt du?" fragte der Mann. "Ich heisse Seele", sagte die Nixe. Da war ihm, als hätte er diesen Namen schon einmal gehört, aber er konnte sich nicht erinnern wann und wo. - "Wenn die Menschen traurig sind, kommen sie zu mir, damit ich mit ihnen rede über das, was sie sonst niemandem erzählen", sprach sie. Da wurde der Mann sehr still, und konnte keine Worte finden für das, was er so gerne gesagt hätte, und Tränen traten in seine Augen und er schämte sich ihrer. Da streckte die Nixe ihre weisse Hand nach ihm aus und wischte ganz zart die Tränen aus seinen Augenwinkeln und legte dann die Hand auf seine Wange. "Ich weiß alles" sagte sie. Lange sahen sie einander an, wie lange, das weiß keiner. Irgendwo, ganz tief drinnen in seiner Brust regte sich etwas, was er ganz früher einmal gekannt hatte. Es war kein Schmerz und es war keine Lust , es war eine überirdische Glückseligkeit, für die sich keine Worte finden läßt. "Seele" sagte er, "Seele". Als es Abend wurde ging er heim.Der Mond war aufgegangen und beleuchtete seinen Weg. Seine Freunde waren lange vor ihm heimgekehrt, nachdem sie ihn eine Weile vergeblich gesucht hatten. Sie begrüßten ihn fröhlich und er lächelte ihnen zu , doch an diesem Abend sprach er kein Wort mehr. In den Wald und zu dem See ist er nie zurückgekehrt. Aber traurig ist er nie mehr gewesen. Er lebte noch viele Jahre still und zufrieden und als sein Ende gekommen war und ihn seine Lebensgeister verließen, da flog ein kleiner Vogel aus dem geöffneten Fenster seines Hauses, geradewegs auf den Wald zu und darüber hinweg, bis zur Lichtung. Dort liess sich nieder in einem Busch dicht am Ufer und sang "Seele,Seele". Und nicht weit vom Ufer erhob sich aus den Wellen eine weiße Hand und winkte ihm zu.
© madonna Februar 2000

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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