Killergurke
Mitglied
Sein letzter Fall
Es ist Freitag, 14 Uhr. Gerade schlägt die Uhr im Büro zur vollen Stunde, und ich freue mich schon auf mein Wochenende, welches in einer Stunde beginnt. Da klingelt plötzlich mein Telefon. Ich hebe den Hörer ab und bete meinen Standardspruch herunter: „Hauptkommissar Werner Kalb, Mordkommission, was kann ich für sie tun?“
Auf der anderen Seite meldet sich ein junger Streifenpolizist: „Guten Tag. Polizeimeister Schäfer hier. Wir haben auf dem Waldparkplatz einen ausgebrannten Wagen gefunden, in dessen Kofferraum sich drei Leichen befinden.“
Ich bin begeistert. Eine Stunde vor Wochenende und das hier, wo normal nie etwas los ist.
„Okay. Ich mache mich auf den Weg und informiere die Spurensicherung. Fassen Sie nichts an. Das könnte eventuell Spuren vernichten. Durch das Feuer wird es eh schon wenige geben,“ antworte ich und lege auf. Gleich nachdem ich die Spurensicherung informiert habe, schnappe ich mir meine Kollegin Britta Arnold, und fahre mit ihr zu dem Tatort. Kurz nachdem wir dort eingetroffen sind, kommen auch die Spezialisten und beginnen alle erdenklichen Spuren zu sichern.
Ich frage den Polizisten: „Haben wir schon einen Verdacht, wer die Opfer sind?“
„Wir haben ein Nummernschild gefunden, was trotz des Brandes noch lesbar ist. Der Wagen gehört einer Familie Scharnweber. Vater Klaus, Mutter Bettina und Tochter Tamara.“
Ein Kollege von der Spurensicherung kommt zu uns und sagt: „Also wenn es nicht schon Beweis genug ist, dass die Leichen im Kofferraum liegen, dann ist der Umstand, dass sie gefesselt sind, beziehungsweise waren wohl ein eindeutiges Indiz, dass es sich hier um Mord handelt. Die Gerichtsmediziner müssen nur noch feststellen, ob die drei schon tot waren, als sie in dem Kofferraum verbrannten oder nicht.“
Ich nicke zustimmend und bin erschüttert. Wer tötet eine ganze Familie auf so grausame Art. Und das hier in unserer Gegend. Unsere kleine Stadt ist wie ein Dorf. Viele kennen sich untereinander. Es ist kaum zu glauben. Ich fahre mit meiner Kollegin zum Haus der vermeintlichen Opfer. Niemand ist dort anwesend, aber wir bemerken eine nicht verschlossene Tür auf der Terrasse. Wir gehen hinein und rufen nach den Besitzern. Aber niemand antwortet. Draußen treffen wir eine Nachbarin und erfahren, dass sie die Familie zuletzt am Vortag gesehen hat.
Wir fahren zurück in unser Büro und beginnen mit den Nachforschungen. Gab es irgendwelche dunklen Geheimnisse in der Familie? Aber wir finden so gut wie nichts. Das einzig Auffällige war, dass eine Freundin von Tamara seit Neujahr vermisst wurde.
Gab es da vielleicht einen Zusammenhang? Ich besorge mir also die Akte des Vermisstenfalls und fange an, sie durchzulesen. Die Kollegen haben bis jetzt noch keine Spur gefunden. Sabrina, die vermisste Person, hatte sich zuletzt Silvester bei ihrer Mutter gemeldet und gesagt, dass sie mit einer Freundin ins neue Jahr feiern wird. Leider hat sie nicht den Namen der Freundin preisgegeben. Daher hatten sich die Untersuchungen der Kollegen auf ihren bekannten Freundeskreis beschränkt. Unter anderem wurde auch Tamara befragt, konnte aber nichts dazu sagen. Bei einer anderen Freundin von Sabrina, Melanie Müller, hatte der Kollege in der Akte vermerkt, dass sie ihm irgendwie unheimlich war. Sie kam ihm eiskalt und berechnend vor, aber er konnte nicht wirklich begründen, warum. Ich nehme das Foto der Frau aus der Akte und sehe sie mir an. Wow. Eine schöne Frau. Aber auch ich habe irgendwie ein komisches Gefühl, wenn ich das Foto betrachte. Ihre Augen wirken wirklich kalt und herzlos.
Routinemäßig beginne ich sie zu überprüfen. Ich weiß nicht genau warum, nennen wir es einfach ein Gefühl. Ich gebe ihren Namen im Computer ein und suche nach Fällen, in denen sie irgendwie vorkommt. Egal, ob als Zeuge, Verdächtige, Verwandte, Freundin etc. Eben einfach alles, was sie eventuell mit einem Verbrechen verbindet.
Ich bin sehr überrascht, als mir der Computer schon kurz darauf diverse Fälle ausspuckt. Ich konnte es nicht glauben. Sie wurde zu 19 Morden, bzw. tödlichen Unfällen und sieben Vermisstenfällen befragt. Sie wurde auch von den Kollegen verdächtigt, aber es gab nie Beweise gehen sie. Alle diese 26 Fälle wurden bis heute nicht aufgeklärt. Also öffne ich eine Akte nach der anderen und lese sie durch. Umso mehr ich lese, umso weniger verstehe ich, warum die Frau noch nicht im Gefängnis ist. Es gibt so viele Parallelen zwischen den Fällen, und immer war Melanie Müller in der Nähe. Alle 19 Mordopfer waren gefesselt und geknebelt, und jeder von ihnen wurde entweder erstickt, erdrosselt, erwürgt oder ertränkt. Das kann doch kein Zufall mehr sein.
Ich rufe die ermittelnden Kollegen an und befrage sie zu den Fällen. Sie bestätigen mir, dass die Frau verdächtig ist, aber sie haben absolut nichts in der Hand, um sie festzunehmen. Jedes Mal hat sie ein Alibi und an den Tatorten befindet sich keinerlei Spur, die man mit ihr verbinden kann.
Das alles erweckt meinen Schnüfflersinn. Ich bin wie besessen von dem Fall. Am Montag kriege ich dann die nächste Bestätigung für meinen Verdacht gegenüber von Frau Müller. Der Obduktionsbericht ist da. Die drei Personen waren schon tot, als sie verbrannten. Laut Pathologen trat der Tod infolge von Sauerstoffmangel ein. Die genaue Art konnte nicht bestimmt werden, aber es wird vermutet, dass die Opfer erstickt oder erdrosselt wurden.
Ich war emotional stark erregt. Für mich musste Melanie Müller etwas mit den ganzen Taten zu tun haben. Das würde bedeuten, das wir hier eine Serienkillerin haben, die in den letzten 24 Jahren 29 Menschen umgebracht hat. Aber dann kamen mir Zweifel. Als der Großvater von Melanie in der Badewanne ertrunken ist, war sie gerade mal zwölf Jahre alt. Und auch bei den nächsten vier Fällen wäre sie einfach zu jung gewesen. Wenn sie das wirklich gemacht hat, dann hat sie schon mit 15 insgesamt fünf Menschen getötet. Das ist schon unwahrscheinlich. Aber die ganze Vorgehensweise war einfach zu identisch.
Ich weise meine Kollegin auf meinen Verdacht hin. Sie sieht sich die Fakten an und sagt dann: „Ja. Das ist schon etwas komisch, aber wie soll eine Frau das schaffen? Da sind diverse Männer bei. Sie wird es kaum schaffen, dass sich alle freiwillig von ihr fesseln und töten lassen. Freunde kann sie ja vielleicht überreden, aber die Nachbarn und Urlaubsbekanntschaften wohl kaum.“
Ich gebe ihr Recht. Aber das komische Gefühl will mich einfach nicht loslassen. Mein Verstand sagt mir, es kann nicht sein. Laut allen Gutachten und was es sonst noch so gibt, sind es nur in sehr seltenen Fällen Frauen, die zu Serienkillern werden. Aber habe ich mit Melanie Müller so eine seltene Täterin gefunden? Eine Frau, die seit 24 Jahren Menschen tötet?
Wenn ich mit meinen jetzigen Fakten zum Staatsanwalt gehe, und einen Durchsuchungsbefehl für das Haus und den Garten von dieser Dame anfrage, wird er mich zur Hölle jagen. Die Indizien sind einfach zu schwach, um so etwas zu rechtfertigen. Also frage ich meine Kollegin, ob wir Frau Müller nicht mal vernehmen wollen. Aber sie lacht und meint, ich verrenne mich da in etwas. Aber ich kriege den Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf.
Die Ermittlungen zum Tod der Familie verlaufen im Sande. Wir finden einfach nichts, was darauf schließen lassen könnte, warum die drei so grausam sterben mussten. Sie führten ein ganz normales Leben. Keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen Verbrechen und sie waren zwar nicht arm, aber auch nicht wirklich reich. Sprich ein Überfall hat sich auch nicht wirklich gelohnt. Und für letzteres war die Ausführung einfach zu perfekt. Es wurden keinerlei Spuren von mutmaßlichen Tätern gefunden. Zurzeit gehen wir davon aus, dass es sich vielleicht um eine Verwechselung gehandelt hat. Alle Beweise deuten darauf hin, dass es sich um mehrere Täter gehandelt haben muss. Für einen Täter wäre es sehr schwer die Kontrolle über drei Personen zu behalten.
Ich nehme mir noch einmal den Obduktionsbericht vor. Ich muss irgendetwas übersehen. Niemand hinterlässt keine Spuren. Es gibt immer etwas. Und dann sehe ich es im Bericht. Die Mutter wurde erst fünf Stunden nach den anderen Beiden getötet. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sie alle direkt nacheinander getötet wurden. Warum war die Mutter später dran? Ich suche nach Anhaltspunkten. Wurde sie vergewaltigt? Handelt es sich also um ein Sexualverbrechen? Nein, nichts. Die Frau wurde nicht missbraucht. Aber warum wurde sie dann so viel später erstickt? Dafür musste es einen Grund geben. Wurde sie gezwungen zuzusehen, wie ihr Mann und ihre Tochter getötet wurden? Wollte sich jemand an der Frau für irgendetwas rächen?
Sofort suchen wir nach möglichen Verbindungen. Aber wir finden nichts. Es ist jetzt eine Woche her, dass wir die Leichen gefunden haben. Aber wir sind noch keinen Schritt weiter- Alle Spuren verlaufen im Sand.
Da kommt mir wieder Frau Müller in den Kopf. Ja. Es ist sehr unwahrscheinlich, aber auch meine einzige kleine Spur. Ich beschließe zu ihr zu fahren und mich mit ihr über ein paar Fälle zu unterhalten. Damit mich meine Kollegin nicht für verrückt erklärt, sage ich ihr erst mal nichts davon.
Ich fahre zu der Adresse und klingel. Eine sehr schöne junge Frau macht mir die Tür auf. Sie hat echt Stil. Ihre Kleidung, das Make–up, die lange schwarzen Haare, die ihr um die Schultern fallen, alles perfekt. Vor mir steht die Frau meiner Träume.
Ich schlucke einmal und stelle mich dann vor. „Guten Tag Frau Müller. Mein Name ist Werner Kalb von der Mordkommission Lübeck. Darf ich ihnen ein paar Fragen stellen?“
„Von der Mordkommission? Muss ich jetzt meinen Anwalt anrufen?“ fragt sie mit einem lächeln im Gesicht.
„Nein, nein,“ antworte ich ihr. „Es ist nur eine Routinebefragung.“
Sie bittet mich herein und geleitet mich zu ihrem Wohnzimmer. Das Haus ist ein Traum. Ich erwische mich dabei, wie ich mich ein bisschen in meine Verdächtige verliebe. Ich schäme mich dafür, aber hier ist einfach alles perfekt. So habe ich mir mein Leben und meine Traumfrau immer vorgestellt.
Frau Müller bemerkt meine Blicke und fragt: „Na gefällt Ihnen, was sie sehen.“ Und lacht.
Ich merke, wie ich rot anlaufe. Oh man, ist das peinlich. Etwas mehr Disziplin bitte Herr Kalb, denke ich mir und versuche wieder mich auf mein eigentliches Anliegen zu konzentrieren. Also frage ich sie direkt, ob sie die Familie Scharnweber kennt. Sie bejaht dieses, sagt aber, dass sie sie seit Längerem nicht mehr gesehen habe. Als ich ihr sage, dass sie alle tot sind, ist sie erschrocken und fragt, was passiert ist. Ob es ein Unfall war. Ich erkläre ihr das Tatgeschehen und sie fragt: „Wer tut denn so etwas? Sie waren immer so nett.“
Dann komme ich auf sie zu sprechen und fange an, meinen Verdacht anzusprechen. Als ich die ganzen Ermittlungen anspreche, in denen sie verwickelt ist, wird sie ruhig.
„Verdächtigen sie mich etwa, dass ich alle diese Menschen ermordet habe?“, fragt sie mich.
Ich antworte: „Ich weiß ja, dass es sich komisch anhört. Von meinen Kollegen glaubt das auch keiner. Alle sagen, ich verrenne mich da in etwas. Deswegen weiß auch niemand, das ich gerade hier bin.“ antworte ich verlegen.
Sie sieht mich ernst an: „Ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Massenmörderin bin. Ich hoffe, Sie glauben mir das.“
„Jetzt, wo ich Sie sehe und mich mit ihnen unterhalte, glaube ich das auch nicht mehr. Sie sind so eine nette Person. Zu solchen Taten sind sie einfach nicht fähig. Davon bin ich jetzt überzeugt.“ sage ich.
Sie lächelt wieder zauberhaft. „Das beruhigt mich. Ich heiße übrigens Melanie. Darf ich ihnen etwas zum Trinken anbieten?“
Verlegen antworte ich ihr: „Gerne. Ich heiße Werner.“
Sie geht in die Küche und kurz darauf kommt sie mit zwei Gläsern Selters zurück und stellt eins davon vor mir ab. Dann hebt sie ihr Glas: „Prost.“
Ich nehme ebenfalls mein Glas und stoße mit ihr an. Durch die ganze Situation habe ich einen sehr trockenen Hals. Deswegen trinke ich hastig das komplette Glas leer.
Sie lacht und sagt: „So ein Durst. Sie hätten doch schon früher etwas sagen können.“
Ich merke wieder, wie ich Rot werde und blicke verlegen, wie ein kleiner Schuljunge nach unten. Wahnsinn. Wie schafft es diese Frau nur, mich so leicht verlegen zu machen?
Plötzlich merke ich,wie mir schwindelig wird. Was ist los mit mir? Ich kann mich kaum noch bewegen. Es ist, als wäre ich betrunken. Da schießt mir der Gedanke in den Kopf. KO-Tropfen. Diese Wahnsinns-Frau hat mir was in mein Getränk getan. Ich versuche aufzustehen, aber es ist zu spät. Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich spüre, wie mich Frau Müller an den Arm nimmt und zu einem Bett führt. Dann kriege ich nichts mehr mit.
Als ich wieder zu mir komme, bin ich an den Rahmen eines Bettes gefesselt und ein Stück Stoff steckt in meinem Mund. Ich versuche diesen auszuspucken, aber es geht nicht. Über meinem Mund befindet sich Klebeband. Dieses ist um den ganzen Kopf gewickelt. So sehr ich mich auch bemühe, ich werde den Knebel nicht los.
Plötzlich steht Frau Müller am Kopfende und lächelt mich eiskalt an. „Sie sind mein erster Polizist“, sagt sie. Dann nimmt sie eine Plastiktüte und stülpt sie über meinen Kopf. Ich winde mich wie verrückt und murmel durch meinen Knebel, dass sie aufhören soll und damit nicht durchkommt. Aber sie lacht nur und verschließt die Tüte mit einem Kabelbinder um meinen Hals. Ich spüre,wie die Panik in mir aufsteigt. Jetzt nimmt sie auch noch ein Kissen und drückt es mir lachend aufs Gesicht. Sofort ist meine Atmung komplett unterbrochen. Panisch werfe ich meinen Kopf hin und her. Ich zerre an den Fesseln und versuche mich mit aller Kraft zu befreien, aber ich habe keine Chance. Ich spüre, wie ich immer schwächer werde. Diese Frau ist eiskalt und absolut gnadenlos. Ihr Lachen wird immer lauter, während sie das Kissen fester und fester auf mein Gesicht drückt. In dem Moment, in dem mir die Sinne schwinden und ich ohnmächtig werde, höre ich noch ein Geräusch. Es hörte sie wie ein lautes Klopfen an, aber ich denke, dass mir meine Sinne einen Streich spielen. So sieht also dein Ende aus, denke ich noch so. Dann wird alles dunkel.
Ich weiß nicht, wie lange ich weg war. Als ich aufwache, steht meine Kollegin mit sorgenvollem Gesicht neben mir. Die Tüte wurde zerrissen und auch der Knebel wurde entfernt.
Panisch sehe ich mich um und frage: „Wo ist sie? Hast du sie erwischt?“
„Nein. Sie ist geflohen, als ich dir geholfen habe. Ich habe sie nicht einmal gesehen. Sie muss das alles schon vorbeireitet haben. Ich habe eine Fahndung nach ihr herausgegeben.“ antwortet sie.
„Wir müssen sie erwischen. Sie ist eine Serienkillerin. Ich weiß, dass sie es getan hat. Sie hat sie alle umgebracht. Alle 29. Da bin ich mir sicher.“ schreie ich.
Britta bindet mich los und beruhigt mich. „Keine Angst. Wir erwischen sie schon.“
Aber nichts. Zwei Tage vergingen und wir hatten keine Spur. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ich sitze mit Britta im Büro, und wir sehen uns noch einmal alle Fälle an. Im Haus von Frau Müller wurden diverse Indizien gefunden, die sich mit den Morden in Verbindung bringen ließen. Und als ob das nicht schon reichen würde, haben wir bei ihr im Garten die Überreste von sieben Leichen gefunden. Darunter auch ihre Freundin und deren Freund, die seit Neujahr vermisst wurden. Die Leichen haben teilweise immer noch Tüten über ihren Köpfen. Es war grauenhaft. Niemand in der Nachbarschaft hatte etwas mitbekommen. Alle sagen, dass sie immer eine so nette Frau war. Ja. Was soll ich sagen? Bis zu dem Zeitpunkt, als sie versucht hat mich zu ersticken, dachte ich das auch.
Das Telefon klingelt und meine Kollegin geht ran. Als sie auflegt, sagt sie mir: „Wir haben eine Spur. Sie wurde scheinbar am Flughafen Blankensee gesehen. Die Sicherheitskräfte haben ein Video.“
Wir fahren sofort zum Flughafen und sehen uns das Video an. Ja, da ist sie. Eindeutig. Ich würde sie sofort erkennen. Die Nachforschungen ergeben, dass sie mit einem Privatjet nach Kolumbien geflogen ist. Das Flugzeug hat dafür einen Zwischenstopp auf einer Insel im Atlantik bei Sao Pedro eingelegt und ist dann weiter, zum EL Dorado International Airport, nach Bogota geflogen. Und hier verliert sich ihre Spur. Die Kollegen aus Kolumbien können uns leider nicht mal bestätigen, ob sie wirklich dort angekommen ist.
Das scheint es mit unserem Fall gewesen zu sein. Sie ist entkommen. Wie sollen wir sie jetzt zur Rechenschaft ziehen. Es ist vorbei. Die vielleicht gefährlichste Frau der Welt ist uns entkommen. Also haben wir den Fall zu den Akten gelegt.
Meine Kollegin sah mich an und sagte: „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Sie hat uns alle getäuscht. Sei froh, dass sie es bei dir nicht geschafft hat.“
„Ja. Das habe ich dir zu verdanken, Britta“, antworte ich ihr. „Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, wäre ich jetzt nicht mehr hier. Nach deinem Urlaub werde ich dich ins Steakhaus einladen. Das ist das Mindeste was ich tun kann. Ich weiß ja, dass du gerne Steak isst.“
Sie lacht und erwidert: „Okay. Aber jetzt habe ich erst einmal Urlaub. Es ist so weit. Feierabend. Mach nichts Dummes während meines Urlaubs.“
Ich zwinkere ihr zu: „Keine Angst. Ich denke, für dieses Jahr habe ich genug Dummes gemacht.“
Die nächsten Tage verlaufen Routinemäßig. Es geschieht nichts Aufregendes. Als ich Samstagabend vorm Fernseher sitze und mich berieseln lasse, klingelt plötzlich mein Handy. Ich sehe aufs Display, da ich mich frage, wer mich jetzt anruft. Es ist Britta, meine Kollegin. Ich nehme den Videocall an und will gerade fragen, ob sie schon Sehnsucht nach der Arbeit hat, als ich realisiere, dass sie nackt, gefesselt und geknebelt, in der vollen Badewanne liegt. Panisch schreie ich: „Britta, was ist los?“ Da sehe ich diese perfekten Hände, die sich ihrem Kopf nähren. Ich würde sie sofort unter Tausenden erkennen. Melanie Müller. Sie hat uns also wieder alle getäuscht. Sie ist nicht in Kolumbien. Britta windet sich und kämpft um ihr Leben, aber eiskalt drücken diese Hände ihren Kopf unter Wasser. Wie gebannt starre ich auf mein Handy. Dazu verdammt, dabei zuzusehen, wie meine Kollegin ertränkt wird. Sie wohnt auf der anderen Seite der Stadt. Ich habe keine Chance, rechtzeitig dort anzukommen. Sie zuckt immer heftiger, aber schon nach kurzer Zeit werden ihre Bewegungen schwächer. Ich schreie: „Hör auf. Du bringst sie um.“ Aber als Antwort kriege ich nur ein Lachen. Dann erschlafft Britta. Ich kann meinen Blick nicht vom Handy anwenden. Erst fünf Minuten später lässt Melanie los.
Der rote Nagellack glitzert im Licht der Lampe, als sie ihre Hände aus dem Wasser zieht. Dann sagt sie: „Sie wird mich nie wieder bei meiner Arbeit stören.“ Sie lacht. Dann legt sie auf.
Ich bin immer noch erstarrt. Dann komme ich wieder zu mir und verständige die Kollegen und einen Rettungswagen. Ich laufe zu meinem Auto, und fahre ebenfalls zum Haus meiner Kollegin.
Ich bin nicht als erster dort. Zwei Polizisten und der Rettungswagen sind schon vor mir da. Ich sehe, wie der Notarzt Britta untersucht.
Dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Leider zu spät. Nichts mehr zu machen.“
Ich fange an zu weinen und erzähle den Kollegen was vorgefallen ist. Sie sehen mich ungläubig an. Dann sagt der Notarzt: „Sie müssen sich irren, Herr Kalb. So wie es aussieht, hatte Frau Arnold einen tragischen Unfall. Laut der Spurenlage im Badezimmer ist sie ausgerutscht, mit dem Kopf auf der Badewanne aufgeschlagen und dann ertrunken.“
„Nein!“ Brülle ich. Und sage, dass ich es gesehen habe, wie sie ermordet wurde. Auf meine Aussage hin, nehmen die Spezialisten sich mein Handy und das von Britta vor und suchen nach dem Videocall. Nichts. Ich kann es nicht fassen. Wie kann das sein.
Am nächsten Tag muss ich zu einem Psychologen. Der sagt, ich habe ein Trauma. Also werde ich beurlaubt. Die Ärzte sagen, dass das durch den Stress kommt. Ich versuche, dieses zu verneinen, aber habe keine Chance. Zwangsurlaub und psychologische Betreuung. Das alles hat mich wirklich schwer mitgenommen. Ich sitze also jetzt jeden Tag zu Hause und bin zum Nichtstun verdammt. Ständig kommen wieder die Bilder von Melanie in mein Gehirn, wie sie erst versucht mich zu ersticken, und dann wie sie Britta ertränkt. Ich werde damit einfach nicht fertig. Das Schlimme ist, dass ich genau weiß, dass Melanie Müller meine Kollegin ertränkt hat und dass es kein Unfall war. Aber niemand glaubt mir. Alles sagen, dass ich mir das nur einbilde, aufgrund meines Traumas. Langsam beginne ich selbst an mir zu zweifeln. Habe ich mir das alles nur eingebildet? Aber woher wusste ich dann, das Britta in Gefahr war und dass sie ertrinkt?
Ich halte es zu Hause nicht mehr aus. Ich muss irgendwo hingehen und was trinken. Ich fahre mit dem Bus in die Stadt und gehe zum Brauberger. Ich bestelle mir ein Bier und setzte mich oben an einen kleinen Tisch. Es ist ziemlich voll hier wie eigentlich immer samstags. Ich beobachte das Treiben und trinke mein Bier. Nach circa einer Stunde bin ich schon beim vierten Bier. Aber es ist mir egal. Wen interessiert es, ob ich mich betrinke? Nur eine Sache kann ich jetzt nicht mehr ignorieren. Ich muss auf die Toilette. Ich trinke das Glas noch aus und bestelle mir ein neues Bier. Dann gehe zur Toilette. Als ich wieder zu meinem Platz komme, steht mein neues Bier schon da. Ja. Da sind die hier auf Zack. Ich nehme einen kräftigen Schluck und schaue wieder dem Trieben zu. Zufällig bleibt mein Blick an einer schönen Frau hängen. Sie sitzt etwas abseits an einem kleinen Tisch und blickt in meine Richtung. Ihre roten Haare fallen über ihre Schultern, ihr Make-up ist dezent aber perfekt, und sie trägt stilvolle Kleidung. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen. Ich nehme noch einen kräftigen Schluck von meinem Bier und sehe weiter in ihre Richtung. Ich spüre, wie mir das Bier zu Kopf steigt. Kann ich plötzlich so wenig ab? Ich kann doch nach viereinhalb Bier nicht schon betrunken sein? Aber mir wird immer schwindeliger.
Plötzlich bemerke ich, dass die Rothaarige neben mir steht. Sie fragt: „Na, Großer. Alles in Ordnung? Soll ich dir helfen?“
Ich kann nicht mehr reden und nicke deshalb einfach nur. An mehr kann ich mich nicht erinnern.
Als ich aufwache, liege ich auf einem Bett. Ich will aufstehen, aber bemerke, dass ich an das Bett gefesselt bin. Automatisch zerre ich an den Fesseln und will um Hilfe schreien, aber es geht nicht. Die Fesseln sitzen bombenfest und in meinem Mund steckt ein Ball Knebel. Jetzt wird mir alles klar. Ich weiß, warum mir die Frau so bekannt vorkam. Es ist Melanie. Kaum habe ich das realisiert, steht sie auch schon am Kopfende und lächelt mich an. Ja. Sie ist es. Jetzt mit roten Haaren und das Make-up ist auch etwas anders, aber sie ist es. Eindeutig.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, sagt sie. „Deine Kollegin wird uns dieses Mal garantiert nicht stören. Dafür habe ich gesorgt. Und du wirst auch niemandem mehr davon erzählen können, wenn ich fertig bin. Das verspreche ich dir.“
Dann nimmt sie eine Tüte und zieht sie über meinen Kopf. Wie beim ersten Mal verschließt sie diese mit einem Kabelbinder an meinem Hals. Lachend nimmt sie dann ein Kissen und drückt es auf mein Gesicht. Das Letzte, was ich höre, ist ihr Lachen und das Letzte, was ich spüre, sind ihre Hände, die gnadenlos das Kissen auf mein Gesicht drücken.
Meine letzten Gedanken sind: „Werden sie diese Frau jemals erwischen?“ Dann wird es dunkel.
Es ist Freitag, 14 Uhr. Gerade schlägt die Uhr im Büro zur vollen Stunde, und ich freue mich schon auf mein Wochenende, welches in einer Stunde beginnt. Da klingelt plötzlich mein Telefon. Ich hebe den Hörer ab und bete meinen Standardspruch herunter: „Hauptkommissar Werner Kalb, Mordkommission, was kann ich für sie tun?“
Auf der anderen Seite meldet sich ein junger Streifenpolizist: „Guten Tag. Polizeimeister Schäfer hier. Wir haben auf dem Waldparkplatz einen ausgebrannten Wagen gefunden, in dessen Kofferraum sich drei Leichen befinden.“
Ich bin begeistert. Eine Stunde vor Wochenende und das hier, wo normal nie etwas los ist.
„Okay. Ich mache mich auf den Weg und informiere die Spurensicherung. Fassen Sie nichts an. Das könnte eventuell Spuren vernichten. Durch das Feuer wird es eh schon wenige geben,“ antworte ich und lege auf. Gleich nachdem ich die Spurensicherung informiert habe, schnappe ich mir meine Kollegin Britta Arnold, und fahre mit ihr zu dem Tatort. Kurz nachdem wir dort eingetroffen sind, kommen auch die Spezialisten und beginnen alle erdenklichen Spuren zu sichern.
Ich frage den Polizisten: „Haben wir schon einen Verdacht, wer die Opfer sind?“
„Wir haben ein Nummernschild gefunden, was trotz des Brandes noch lesbar ist. Der Wagen gehört einer Familie Scharnweber. Vater Klaus, Mutter Bettina und Tochter Tamara.“
Ein Kollege von der Spurensicherung kommt zu uns und sagt: „Also wenn es nicht schon Beweis genug ist, dass die Leichen im Kofferraum liegen, dann ist der Umstand, dass sie gefesselt sind, beziehungsweise waren wohl ein eindeutiges Indiz, dass es sich hier um Mord handelt. Die Gerichtsmediziner müssen nur noch feststellen, ob die drei schon tot waren, als sie in dem Kofferraum verbrannten oder nicht.“
Ich nicke zustimmend und bin erschüttert. Wer tötet eine ganze Familie auf so grausame Art. Und das hier in unserer Gegend. Unsere kleine Stadt ist wie ein Dorf. Viele kennen sich untereinander. Es ist kaum zu glauben. Ich fahre mit meiner Kollegin zum Haus der vermeintlichen Opfer. Niemand ist dort anwesend, aber wir bemerken eine nicht verschlossene Tür auf der Terrasse. Wir gehen hinein und rufen nach den Besitzern. Aber niemand antwortet. Draußen treffen wir eine Nachbarin und erfahren, dass sie die Familie zuletzt am Vortag gesehen hat.
Wir fahren zurück in unser Büro und beginnen mit den Nachforschungen. Gab es irgendwelche dunklen Geheimnisse in der Familie? Aber wir finden so gut wie nichts. Das einzig Auffällige war, dass eine Freundin von Tamara seit Neujahr vermisst wurde.
Gab es da vielleicht einen Zusammenhang? Ich besorge mir also die Akte des Vermisstenfalls und fange an, sie durchzulesen. Die Kollegen haben bis jetzt noch keine Spur gefunden. Sabrina, die vermisste Person, hatte sich zuletzt Silvester bei ihrer Mutter gemeldet und gesagt, dass sie mit einer Freundin ins neue Jahr feiern wird. Leider hat sie nicht den Namen der Freundin preisgegeben. Daher hatten sich die Untersuchungen der Kollegen auf ihren bekannten Freundeskreis beschränkt. Unter anderem wurde auch Tamara befragt, konnte aber nichts dazu sagen. Bei einer anderen Freundin von Sabrina, Melanie Müller, hatte der Kollege in der Akte vermerkt, dass sie ihm irgendwie unheimlich war. Sie kam ihm eiskalt und berechnend vor, aber er konnte nicht wirklich begründen, warum. Ich nehme das Foto der Frau aus der Akte und sehe sie mir an. Wow. Eine schöne Frau. Aber auch ich habe irgendwie ein komisches Gefühl, wenn ich das Foto betrachte. Ihre Augen wirken wirklich kalt und herzlos.
Routinemäßig beginne ich sie zu überprüfen. Ich weiß nicht genau warum, nennen wir es einfach ein Gefühl. Ich gebe ihren Namen im Computer ein und suche nach Fällen, in denen sie irgendwie vorkommt. Egal, ob als Zeuge, Verdächtige, Verwandte, Freundin etc. Eben einfach alles, was sie eventuell mit einem Verbrechen verbindet.
Ich bin sehr überrascht, als mir der Computer schon kurz darauf diverse Fälle ausspuckt. Ich konnte es nicht glauben. Sie wurde zu 19 Morden, bzw. tödlichen Unfällen und sieben Vermisstenfällen befragt. Sie wurde auch von den Kollegen verdächtigt, aber es gab nie Beweise gehen sie. Alle diese 26 Fälle wurden bis heute nicht aufgeklärt. Also öffne ich eine Akte nach der anderen und lese sie durch. Umso mehr ich lese, umso weniger verstehe ich, warum die Frau noch nicht im Gefängnis ist. Es gibt so viele Parallelen zwischen den Fällen, und immer war Melanie Müller in der Nähe. Alle 19 Mordopfer waren gefesselt und geknebelt, und jeder von ihnen wurde entweder erstickt, erdrosselt, erwürgt oder ertränkt. Das kann doch kein Zufall mehr sein.
Ich rufe die ermittelnden Kollegen an und befrage sie zu den Fällen. Sie bestätigen mir, dass die Frau verdächtig ist, aber sie haben absolut nichts in der Hand, um sie festzunehmen. Jedes Mal hat sie ein Alibi und an den Tatorten befindet sich keinerlei Spur, die man mit ihr verbinden kann.
Das alles erweckt meinen Schnüfflersinn. Ich bin wie besessen von dem Fall. Am Montag kriege ich dann die nächste Bestätigung für meinen Verdacht gegenüber von Frau Müller. Der Obduktionsbericht ist da. Die drei Personen waren schon tot, als sie verbrannten. Laut Pathologen trat der Tod infolge von Sauerstoffmangel ein. Die genaue Art konnte nicht bestimmt werden, aber es wird vermutet, dass die Opfer erstickt oder erdrosselt wurden.
Ich war emotional stark erregt. Für mich musste Melanie Müller etwas mit den ganzen Taten zu tun haben. Das würde bedeuten, das wir hier eine Serienkillerin haben, die in den letzten 24 Jahren 29 Menschen umgebracht hat. Aber dann kamen mir Zweifel. Als der Großvater von Melanie in der Badewanne ertrunken ist, war sie gerade mal zwölf Jahre alt. Und auch bei den nächsten vier Fällen wäre sie einfach zu jung gewesen. Wenn sie das wirklich gemacht hat, dann hat sie schon mit 15 insgesamt fünf Menschen getötet. Das ist schon unwahrscheinlich. Aber die ganze Vorgehensweise war einfach zu identisch.
Ich weise meine Kollegin auf meinen Verdacht hin. Sie sieht sich die Fakten an und sagt dann: „Ja. Das ist schon etwas komisch, aber wie soll eine Frau das schaffen? Da sind diverse Männer bei. Sie wird es kaum schaffen, dass sich alle freiwillig von ihr fesseln und töten lassen. Freunde kann sie ja vielleicht überreden, aber die Nachbarn und Urlaubsbekanntschaften wohl kaum.“
Ich gebe ihr Recht. Aber das komische Gefühl will mich einfach nicht loslassen. Mein Verstand sagt mir, es kann nicht sein. Laut allen Gutachten und was es sonst noch so gibt, sind es nur in sehr seltenen Fällen Frauen, die zu Serienkillern werden. Aber habe ich mit Melanie Müller so eine seltene Täterin gefunden? Eine Frau, die seit 24 Jahren Menschen tötet?
Wenn ich mit meinen jetzigen Fakten zum Staatsanwalt gehe, und einen Durchsuchungsbefehl für das Haus und den Garten von dieser Dame anfrage, wird er mich zur Hölle jagen. Die Indizien sind einfach zu schwach, um so etwas zu rechtfertigen. Also frage ich meine Kollegin, ob wir Frau Müller nicht mal vernehmen wollen. Aber sie lacht und meint, ich verrenne mich da in etwas. Aber ich kriege den Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf.
Die Ermittlungen zum Tod der Familie verlaufen im Sande. Wir finden einfach nichts, was darauf schließen lassen könnte, warum die drei so grausam sterben mussten. Sie führten ein ganz normales Leben. Keinerlei Verbindungen zu irgendwelchen Verbrechen und sie waren zwar nicht arm, aber auch nicht wirklich reich. Sprich ein Überfall hat sich auch nicht wirklich gelohnt. Und für letzteres war die Ausführung einfach zu perfekt. Es wurden keinerlei Spuren von mutmaßlichen Tätern gefunden. Zurzeit gehen wir davon aus, dass es sich vielleicht um eine Verwechselung gehandelt hat. Alle Beweise deuten darauf hin, dass es sich um mehrere Täter gehandelt haben muss. Für einen Täter wäre es sehr schwer die Kontrolle über drei Personen zu behalten.
Ich nehme mir noch einmal den Obduktionsbericht vor. Ich muss irgendetwas übersehen. Niemand hinterlässt keine Spuren. Es gibt immer etwas. Und dann sehe ich es im Bericht. Die Mutter wurde erst fünf Stunden nach den anderen Beiden getötet. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sie alle direkt nacheinander getötet wurden. Warum war die Mutter später dran? Ich suche nach Anhaltspunkten. Wurde sie vergewaltigt? Handelt es sich also um ein Sexualverbrechen? Nein, nichts. Die Frau wurde nicht missbraucht. Aber warum wurde sie dann so viel später erstickt? Dafür musste es einen Grund geben. Wurde sie gezwungen zuzusehen, wie ihr Mann und ihre Tochter getötet wurden? Wollte sich jemand an der Frau für irgendetwas rächen?
Sofort suchen wir nach möglichen Verbindungen. Aber wir finden nichts. Es ist jetzt eine Woche her, dass wir die Leichen gefunden haben. Aber wir sind noch keinen Schritt weiter- Alle Spuren verlaufen im Sand.
Da kommt mir wieder Frau Müller in den Kopf. Ja. Es ist sehr unwahrscheinlich, aber auch meine einzige kleine Spur. Ich beschließe zu ihr zu fahren und mich mit ihr über ein paar Fälle zu unterhalten. Damit mich meine Kollegin nicht für verrückt erklärt, sage ich ihr erst mal nichts davon.
Ich fahre zu der Adresse und klingel. Eine sehr schöne junge Frau macht mir die Tür auf. Sie hat echt Stil. Ihre Kleidung, das Make–up, die lange schwarzen Haare, die ihr um die Schultern fallen, alles perfekt. Vor mir steht die Frau meiner Träume.
Ich schlucke einmal und stelle mich dann vor. „Guten Tag Frau Müller. Mein Name ist Werner Kalb von der Mordkommission Lübeck. Darf ich ihnen ein paar Fragen stellen?“
„Von der Mordkommission? Muss ich jetzt meinen Anwalt anrufen?“ fragt sie mit einem lächeln im Gesicht.
„Nein, nein,“ antworte ich ihr. „Es ist nur eine Routinebefragung.“
Sie bittet mich herein und geleitet mich zu ihrem Wohnzimmer. Das Haus ist ein Traum. Ich erwische mich dabei, wie ich mich ein bisschen in meine Verdächtige verliebe. Ich schäme mich dafür, aber hier ist einfach alles perfekt. So habe ich mir mein Leben und meine Traumfrau immer vorgestellt.
Frau Müller bemerkt meine Blicke und fragt: „Na gefällt Ihnen, was sie sehen.“ Und lacht.
Ich merke, wie ich rot anlaufe. Oh man, ist das peinlich. Etwas mehr Disziplin bitte Herr Kalb, denke ich mir und versuche wieder mich auf mein eigentliches Anliegen zu konzentrieren. Also frage ich sie direkt, ob sie die Familie Scharnweber kennt. Sie bejaht dieses, sagt aber, dass sie sie seit Längerem nicht mehr gesehen habe. Als ich ihr sage, dass sie alle tot sind, ist sie erschrocken und fragt, was passiert ist. Ob es ein Unfall war. Ich erkläre ihr das Tatgeschehen und sie fragt: „Wer tut denn so etwas? Sie waren immer so nett.“
Dann komme ich auf sie zu sprechen und fange an, meinen Verdacht anzusprechen. Als ich die ganzen Ermittlungen anspreche, in denen sie verwickelt ist, wird sie ruhig.
„Verdächtigen sie mich etwa, dass ich alle diese Menschen ermordet habe?“, fragt sie mich.
Ich antworte: „Ich weiß ja, dass es sich komisch anhört. Von meinen Kollegen glaubt das auch keiner. Alle sagen, ich verrenne mich da in etwas. Deswegen weiß auch niemand, das ich gerade hier bin.“ antworte ich verlegen.
Sie sieht mich ernst an: „Ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Massenmörderin bin. Ich hoffe, Sie glauben mir das.“
„Jetzt, wo ich Sie sehe und mich mit ihnen unterhalte, glaube ich das auch nicht mehr. Sie sind so eine nette Person. Zu solchen Taten sind sie einfach nicht fähig. Davon bin ich jetzt überzeugt.“ sage ich.
Sie lächelt wieder zauberhaft. „Das beruhigt mich. Ich heiße übrigens Melanie. Darf ich ihnen etwas zum Trinken anbieten?“
Verlegen antworte ich ihr: „Gerne. Ich heiße Werner.“
Sie geht in die Küche und kurz darauf kommt sie mit zwei Gläsern Selters zurück und stellt eins davon vor mir ab. Dann hebt sie ihr Glas: „Prost.“
Ich nehme ebenfalls mein Glas und stoße mit ihr an. Durch die ganze Situation habe ich einen sehr trockenen Hals. Deswegen trinke ich hastig das komplette Glas leer.
Sie lacht und sagt: „So ein Durst. Sie hätten doch schon früher etwas sagen können.“
Ich merke wieder, wie ich Rot werde und blicke verlegen, wie ein kleiner Schuljunge nach unten. Wahnsinn. Wie schafft es diese Frau nur, mich so leicht verlegen zu machen?
Plötzlich merke ich,wie mir schwindelig wird. Was ist los mit mir? Ich kann mich kaum noch bewegen. Es ist, als wäre ich betrunken. Da schießt mir der Gedanke in den Kopf. KO-Tropfen. Diese Wahnsinns-Frau hat mir was in mein Getränk getan. Ich versuche aufzustehen, aber es ist zu spät. Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich spüre, wie mich Frau Müller an den Arm nimmt und zu einem Bett führt. Dann kriege ich nichts mehr mit.
Als ich wieder zu mir komme, bin ich an den Rahmen eines Bettes gefesselt und ein Stück Stoff steckt in meinem Mund. Ich versuche diesen auszuspucken, aber es geht nicht. Über meinem Mund befindet sich Klebeband. Dieses ist um den ganzen Kopf gewickelt. So sehr ich mich auch bemühe, ich werde den Knebel nicht los.
Plötzlich steht Frau Müller am Kopfende und lächelt mich eiskalt an. „Sie sind mein erster Polizist“, sagt sie. Dann nimmt sie eine Plastiktüte und stülpt sie über meinen Kopf. Ich winde mich wie verrückt und murmel durch meinen Knebel, dass sie aufhören soll und damit nicht durchkommt. Aber sie lacht nur und verschließt die Tüte mit einem Kabelbinder um meinen Hals. Ich spüre,wie die Panik in mir aufsteigt. Jetzt nimmt sie auch noch ein Kissen und drückt es mir lachend aufs Gesicht. Sofort ist meine Atmung komplett unterbrochen. Panisch werfe ich meinen Kopf hin und her. Ich zerre an den Fesseln und versuche mich mit aller Kraft zu befreien, aber ich habe keine Chance. Ich spüre, wie ich immer schwächer werde. Diese Frau ist eiskalt und absolut gnadenlos. Ihr Lachen wird immer lauter, während sie das Kissen fester und fester auf mein Gesicht drückt. In dem Moment, in dem mir die Sinne schwinden und ich ohnmächtig werde, höre ich noch ein Geräusch. Es hörte sie wie ein lautes Klopfen an, aber ich denke, dass mir meine Sinne einen Streich spielen. So sieht also dein Ende aus, denke ich noch so. Dann wird alles dunkel.
Ich weiß nicht, wie lange ich weg war. Als ich aufwache, steht meine Kollegin mit sorgenvollem Gesicht neben mir. Die Tüte wurde zerrissen und auch der Knebel wurde entfernt.
Panisch sehe ich mich um und frage: „Wo ist sie? Hast du sie erwischt?“
„Nein. Sie ist geflohen, als ich dir geholfen habe. Ich habe sie nicht einmal gesehen. Sie muss das alles schon vorbeireitet haben. Ich habe eine Fahndung nach ihr herausgegeben.“ antwortet sie.
„Wir müssen sie erwischen. Sie ist eine Serienkillerin. Ich weiß, dass sie es getan hat. Sie hat sie alle umgebracht. Alle 29. Da bin ich mir sicher.“ schreie ich.
Britta bindet mich los und beruhigt mich. „Keine Angst. Wir erwischen sie schon.“
Aber nichts. Zwei Tage vergingen und wir hatten keine Spur. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ich sitze mit Britta im Büro, und wir sehen uns noch einmal alle Fälle an. Im Haus von Frau Müller wurden diverse Indizien gefunden, die sich mit den Morden in Verbindung bringen ließen. Und als ob das nicht schon reichen würde, haben wir bei ihr im Garten die Überreste von sieben Leichen gefunden. Darunter auch ihre Freundin und deren Freund, die seit Neujahr vermisst wurden. Die Leichen haben teilweise immer noch Tüten über ihren Köpfen. Es war grauenhaft. Niemand in der Nachbarschaft hatte etwas mitbekommen. Alle sagen, dass sie immer eine so nette Frau war. Ja. Was soll ich sagen? Bis zu dem Zeitpunkt, als sie versucht hat mich zu ersticken, dachte ich das auch.
Das Telefon klingelt und meine Kollegin geht ran. Als sie auflegt, sagt sie mir: „Wir haben eine Spur. Sie wurde scheinbar am Flughafen Blankensee gesehen. Die Sicherheitskräfte haben ein Video.“
Wir fahren sofort zum Flughafen und sehen uns das Video an. Ja, da ist sie. Eindeutig. Ich würde sie sofort erkennen. Die Nachforschungen ergeben, dass sie mit einem Privatjet nach Kolumbien geflogen ist. Das Flugzeug hat dafür einen Zwischenstopp auf einer Insel im Atlantik bei Sao Pedro eingelegt und ist dann weiter, zum EL Dorado International Airport, nach Bogota geflogen. Und hier verliert sich ihre Spur. Die Kollegen aus Kolumbien können uns leider nicht mal bestätigen, ob sie wirklich dort angekommen ist.
Das scheint es mit unserem Fall gewesen zu sein. Sie ist entkommen. Wie sollen wir sie jetzt zur Rechenschaft ziehen. Es ist vorbei. Die vielleicht gefährlichste Frau der Welt ist uns entkommen. Also haben wir den Fall zu den Akten gelegt.
Meine Kollegin sah mich an und sagte: „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Sie hat uns alle getäuscht. Sei froh, dass sie es bei dir nicht geschafft hat.“
„Ja. Das habe ich dir zu verdanken, Britta“, antworte ich ihr. „Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, wäre ich jetzt nicht mehr hier. Nach deinem Urlaub werde ich dich ins Steakhaus einladen. Das ist das Mindeste was ich tun kann. Ich weiß ja, dass du gerne Steak isst.“
Sie lacht und erwidert: „Okay. Aber jetzt habe ich erst einmal Urlaub. Es ist so weit. Feierabend. Mach nichts Dummes während meines Urlaubs.“
Ich zwinkere ihr zu: „Keine Angst. Ich denke, für dieses Jahr habe ich genug Dummes gemacht.“
Die nächsten Tage verlaufen Routinemäßig. Es geschieht nichts Aufregendes. Als ich Samstagabend vorm Fernseher sitze und mich berieseln lasse, klingelt plötzlich mein Handy. Ich sehe aufs Display, da ich mich frage, wer mich jetzt anruft. Es ist Britta, meine Kollegin. Ich nehme den Videocall an und will gerade fragen, ob sie schon Sehnsucht nach der Arbeit hat, als ich realisiere, dass sie nackt, gefesselt und geknebelt, in der vollen Badewanne liegt. Panisch schreie ich: „Britta, was ist los?“ Da sehe ich diese perfekten Hände, die sich ihrem Kopf nähren. Ich würde sie sofort unter Tausenden erkennen. Melanie Müller. Sie hat uns also wieder alle getäuscht. Sie ist nicht in Kolumbien. Britta windet sich und kämpft um ihr Leben, aber eiskalt drücken diese Hände ihren Kopf unter Wasser. Wie gebannt starre ich auf mein Handy. Dazu verdammt, dabei zuzusehen, wie meine Kollegin ertränkt wird. Sie wohnt auf der anderen Seite der Stadt. Ich habe keine Chance, rechtzeitig dort anzukommen. Sie zuckt immer heftiger, aber schon nach kurzer Zeit werden ihre Bewegungen schwächer. Ich schreie: „Hör auf. Du bringst sie um.“ Aber als Antwort kriege ich nur ein Lachen. Dann erschlafft Britta. Ich kann meinen Blick nicht vom Handy anwenden. Erst fünf Minuten später lässt Melanie los.
Der rote Nagellack glitzert im Licht der Lampe, als sie ihre Hände aus dem Wasser zieht. Dann sagt sie: „Sie wird mich nie wieder bei meiner Arbeit stören.“ Sie lacht. Dann legt sie auf.
Ich bin immer noch erstarrt. Dann komme ich wieder zu mir und verständige die Kollegen und einen Rettungswagen. Ich laufe zu meinem Auto, und fahre ebenfalls zum Haus meiner Kollegin.
Ich bin nicht als erster dort. Zwei Polizisten und der Rettungswagen sind schon vor mir da. Ich sehe, wie der Notarzt Britta untersucht.
Dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Leider zu spät. Nichts mehr zu machen.“
Ich fange an zu weinen und erzähle den Kollegen was vorgefallen ist. Sie sehen mich ungläubig an. Dann sagt der Notarzt: „Sie müssen sich irren, Herr Kalb. So wie es aussieht, hatte Frau Arnold einen tragischen Unfall. Laut der Spurenlage im Badezimmer ist sie ausgerutscht, mit dem Kopf auf der Badewanne aufgeschlagen und dann ertrunken.“
„Nein!“ Brülle ich. Und sage, dass ich es gesehen habe, wie sie ermordet wurde. Auf meine Aussage hin, nehmen die Spezialisten sich mein Handy und das von Britta vor und suchen nach dem Videocall. Nichts. Ich kann es nicht fassen. Wie kann das sein.
Am nächsten Tag muss ich zu einem Psychologen. Der sagt, ich habe ein Trauma. Also werde ich beurlaubt. Die Ärzte sagen, dass das durch den Stress kommt. Ich versuche, dieses zu verneinen, aber habe keine Chance. Zwangsurlaub und psychologische Betreuung. Das alles hat mich wirklich schwer mitgenommen. Ich sitze also jetzt jeden Tag zu Hause und bin zum Nichtstun verdammt. Ständig kommen wieder die Bilder von Melanie in mein Gehirn, wie sie erst versucht mich zu ersticken, und dann wie sie Britta ertränkt. Ich werde damit einfach nicht fertig. Das Schlimme ist, dass ich genau weiß, dass Melanie Müller meine Kollegin ertränkt hat und dass es kein Unfall war. Aber niemand glaubt mir. Alles sagen, dass ich mir das nur einbilde, aufgrund meines Traumas. Langsam beginne ich selbst an mir zu zweifeln. Habe ich mir das alles nur eingebildet? Aber woher wusste ich dann, das Britta in Gefahr war und dass sie ertrinkt?
Ich halte es zu Hause nicht mehr aus. Ich muss irgendwo hingehen und was trinken. Ich fahre mit dem Bus in die Stadt und gehe zum Brauberger. Ich bestelle mir ein Bier und setzte mich oben an einen kleinen Tisch. Es ist ziemlich voll hier wie eigentlich immer samstags. Ich beobachte das Treiben und trinke mein Bier. Nach circa einer Stunde bin ich schon beim vierten Bier. Aber es ist mir egal. Wen interessiert es, ob ich mich betrinke? Nur eine Sache kann ich jetzt nicht mehr ignorieren. Ich muss auf die Toilette. Ich trinke das Glas noch aus und bestelle mir ein neues Bier. Dann gehe zur Toilette. Als ich wieder zu meinem Platz komme, steht mein neues Bier schon da. Ja. Da sind die hier auf Zack. Ich nehme einen kräftigen Schluck und schaue wieder dem Trieben zu. Zufällig bleibt mein Blick an einer schönen Frau hängen. Sie sitzt etwas abseits an einem kleinen Tisch und blickt in meine Richtung. Ihre roten Haare fallen über ihre Schultern, ihr Make-up ist dezent aber perfekt, und sie trägt stilvolle Kleidung. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, aber ich kann sie nicht einordnen. Ich nehme noch einen kräftigen Schluck von meinem Bier und sehe weiter in ihre Richtung. Ich spüre, wie mir das Bier zu Kopf steigt. Kann ich plötzlich so wenig ab? Ich kann doch nach viereinhalb Bier nicht schon betrunken sein? Aber mir wird immer schwindeliger.
Plötzlich bemerke ich, dass die Rothaarige neben mir steht. Sie fragt: „Na, Großer. Alles in Ordnung? Soll ich dir helfen?“
Ich kann nicht mehr reden und nicke deshalb einfach nur. An mehr kann ich mich nicht erinnern.
Als ich aufwache, liege ich auf einem Bett. Ich will aufstehen, aber bemerke, dass ich an das Bett gefesselt bin. Automatisch zerre ich an den Fesseln und will um Hilfe schreien, aber es geht nicht. Die Fesseln sitzen bombenfest und in meinem Mund steckt ein Ball Knebel. Jetzt wird mir alles klar. Ich weiß, warum mir die Frau so bekannt vorkam. Es ist Melanie. Kaum habe ich das realisiert, steht sie auch schon am Kopfende und lächelt mich an. Ja. Sie ist es. Jetzt mit roten Haaren und das Make-up ist auch etwas anders, aber sie ist es. Eindeutig.
„Wo waren wir stehen geblieben?“, sagt sie. „Deine Kollegin wird uns dieses Mal garantiert nicht stören. Dafür habe ich gesorgt. Und du wirst auch niemandem mehr davon erzählen können, wenn ich fertig bin. Das verspreche ich dir.“
Dann nimmt sie eine Tüte und zieht sie über meinen Kopf. Wie beim ersten Mal verschließt sie diese mit einem Kabelbinder an meinem Hals. Lachend nimmt sie dann ein Kissen und drückt es auf mein Gesicht. Das Letzte, was ich höre, ist ihr Lachen und das Letzte, was ich spüre, sind ihre Hände, die gnadenlos das Kissen auf mein Gesicht drücken.
Meine letzten Gedanken sind: „Werden sie diese Frau jemals erwischen?“ Dann wird es dunkel.
Zuletzt bearbeitet: