Sie

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Graue Massen strömen und gedämpfte Stimmen rauschen, während er haltlos vorwärts stolpert. In seinen Ohren tröpfelt ihm längst bekannte Jazz-Musik. Sie erstickt im anschwellenden Getöse um ihn herum. Kurzes Knirschen und Kratzen, dann wird er unaufhaltsam weitergetrieben durch das offene Tor, hinein gespült ins Innere des toten Körpers, wo er verzweifelt Halt an dem kalten Gerippe aus Stahl sucht. Seine Hände greifen eine Stange, er schwingt herum und fällt ungebremst auf eine von vier Inseln. Andere lösen sich aus der herein strömenden Flut und folgen ihm.
Sie atmen durch - er auch.
Um ihn herum drängeln sich die Menschen auf die kaum noch freien Sitzplätze, andere stellen sich geschlagen mit ihren Koffern und Taschen in den Mittelgang. Knarzend schließen sich die Türen, während eine monotone Frauenstimme die Abfahrt des Zuges ankündigt.
Ein Montagmorgen, wie jeder andere.
Ein Ruck geht durch die Bahn und es geht in Richtung Arbeit. Er schaut zum Fenster hinaus, starrt blind in die schiere Flut ihm unbekannter Gesichter, deren ausdruckslose Mienen auf der anderen Seite der Scheibe vorbeiziehen. Die Waggons schaukeln auf unsichtbaren Wogen, folgen stetig schneller werdend dem sich schlängelnden Lauf aus Schienen. Die Zeit verfliegt und er nimmt kaum wahr, was vor seinen Augen geschieht. Die einschläfernde Musik steht auf Dauerschleife. Nur ein paar mal kommt er zu sich - es sind die Momente, in denen der Zug langsamer wird und an den üblichen Bahnhöfen anhält. Ein paar Fahrgäste gehen, neue steigen hinzu. Es knirscht und ruckelt, dann fährt der Zug weiter und er taucht wieder ab. Drei Stopps später springt er wieder in die Flut, lässt sich gewaltsam aus den Doppeltüren spülen, die Treppenstufen hinunter zur Unterführung, wo er sich mit Händen und Füßen aus der Masse kämpft.
Beinahe reißt sie ihn mit, doch er rettet sich gerade so mit einem Satz in die nächste Seitenstraße. Noch immer nach Luft schnappend, wird er von seinen Beinen weiter in Richtung Büro getragen. Nach nicht einmal hundert Metern steht er vor der gläsernen Pforte. Seine Hand greift nach dem matten Türgriff und zieht diese ruckartig auf.
Der Fahrstuhl bringt ihn ins dritte Obergeschoss. Eine Frauenstimme, die der aus der Bahn gleicht, nennt die Stockwerkziffer, als er sich durch die halboffenen Türen zwängt. Wie jeden Morgen ist er der erste. Er zieht an den leeren Plätzen vorbei, an schwarzen Monitoren und grauen Telefonen bis nach hinten in die Ecke. Er wirft die Jacke über die Stuhllehne, holt seinen Laptop aus der Tasche und schaltet ihn ein. Das Login-Fenster zeigt eine nächtliche Skyline aus Bürogebäuden. Seine Finger gleiten über die Tasten, der Computer lädt.
Währenddessen schlängelt er sich zwischen den Tischen durch zum nächsten Kaffeeautomaten. Ohne nachzudenken nimmt er eine Tasse, stellt sie unter die Maschine und drückt die Taste für einen doppelten Macchiato. Der Kaffee blubbert aus den Düsen, dann marschiert er wieder zurück. Eine Welle E-Mails überrollt ihn, während er die bittere, zweckdienliche Milch-Brühe hinunter kippt. Er beginnt zu tippen - die ersten von unzähligen Wörtern heute. Nach einer viertel Stunde hört er die Fahrstuhl-Dame aus dem Flur. Das muss Ronie sein - der Abteilungsleiter. Kurze Schritte nähern sich begleitet von dem Gestank kalter Asche und aufdringlichem Parfum. Ein Lächeln, das mindestens genauso künstlich ist wie der Kaffeegeschmack, taucht hinter seinem Monitor auf. Ronie brabbelt. Er brabbelt über sein Wochenende, über das nächste Teamevent und über Aufgaben, die schon am Freitag hätten erledigt werden sollen. Dann zückt er einen Kugelschreiber und kritzelt eilig Nummern auf einen Zettel, den er demonstrativ auf den Tisch knallt.
Stumm starrt er auf das gelbe Post-It, während ihn sein Vorgesetzter weiter in einem Schwall aus Namen, Daten und Plastikwörtern ertränkt.
Dann reißt der Strom plötzlich ab. Ronie hat den Blick auf die Casio Armbanduhr an seinem Handgelenk gerichtet. Er sagt etwas von Meeting und einer neuen Kollegin, kurz bevor er auf dem Absatz kehrt macht, hektischen Schrittes das Büro verlässt und erneut über den Flur hetzt.
Er bleibt zurück und versinkt widerwillig in seiner Arbeit. Die Zeit fließt dahin und das Büro wird voller. Kraftlos kämpft er sich durch das Meer an Zahlen und Buchstaben auf dem Bildschirm. Zweimal überwältigt es ihn fast, doch er schafft es, sich beide Male zum Kaffeeautomaten zu retten und die Trägheit mit Koffein aus seinem Körper zu spülen. Die Mittagspause verbringt er vor dem Monitor und schlingt etwas kalte Pizza gegen die Geräusche in seinem Bauch runter.
Es geht weiter.
Unter seinem Fenster rauscht der Verkehr, um ihn herum rauschen die Stimmen seiner Kollegen und in seinen Ohren rauscht sein Blut. Ohne dass er es merkt, zieht der Nachmittag an ihm vorbei.
Wie ein totes Blatt löst er sich eine viertel Stunde nach Feierabend von seinem Platz und lässt sich stumpf aus dem Büro treiben. Sein Blick ist leer und er denkt an nichts, während ihn der Aufzug ins Erdgeschoss bringt. Er fällt aus den gähnenden Türen zurück in die schmale Seitenstraße, durch die Unterführung in Richtung Treppen, wo er erneut von der strömenden Masse fortgerissen wird. Wenige Augenblicke später wird er unsanft in die Bahn geschoben, doch diesmal kämpft er nicht. Er lässt sich durch den Waggon drücken, stolpert ziellos durch den Mittelgang und landet an den Türen auf der gegenüberliegenden Seite. Die Welt hinter der Scheibe fliegt vorbei und obwohl der Zug voll ist, sieht er die Menschen um sich herum nicht - und sie sehen ihn nicht.
Kaum am Bahnhof angekommen, wird er aus seiner Nische gerissen und zur Tür hinaus gedrängt, wo er sich kurz darauf zwischen den Fronten zweier aufeinander treffenden Fluten wiederfindet. Gerade so schafft er es, sich an den in beide Richtung strömenden Mengen vorbei zu schlängeln.
Dort sieht er sie.
Zwischen all den knopfgleichen Augen, blitzen ihre kalt und klar wie Aquamarin auf. Sie sieht ihn an und lächelt - nicht plastisch und aufgesetzt wie Ronie, sondern warmherzig… ehrlich… beinahe liebevoll.
Inmitten der tosenden Massen bleibt er stehen. Die Menschen hetzen an ihnen vorbei, fließen um sie herum, ohne sie auch nur zu berühren. Er spürt seinen Herzschlag, spürt, wie er schneller wird und sich alles andere um ihn herum verlangsamt. Wie aus einer tiefen Flut gerissen, saugt er gierig die kühle Luft ein. Es ist… befreiend, ja - nahezu belebend! Ihr Parfum - ein leicht süßlicher Duft nach Zedernholz und Jasmin - mischt sich mit dem Geruch von frischem Backwerk der nahegelegenen Bahnhofsbäckerei und dringt ihm in die Nase. Das dumpfe Rauschen um ihn herum wird lauter, immer lauter und verwandelt sich plötzlich in klare Stimmen. Zahllose Worte fliegen um ihn herum, gleich Schwärme bunter Vögel.
Und sie?
Sie steht einfach nur da, in einem kurzen Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit vorkommt. Sie lächelt noch immer, sieht kurz schüchtern zu Boden und dann wieder in seine Augen. Er fühlt wie seine trockenen Lippen sich mühsam öffnen.
"Hi", sagt er und lächelt ebenfalls. Seine Muskeln im Gesicht sind träge und versteift.
"Hi", antwortet sie mit zarter Stimme, die wie eine sanfte Melodie durch den Lärm zu ihm dringt.
Unbeschwert und ohne Hast gleitet sie an ihm vorbei.
Kurz bevor sie in den Zug steigt, wirft sie ihm noch einen flüchtigen Blick zu. Dann verschwindet sie hinter den zerkratzten Doppeltüren. Laut quietschend setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Sie sitzt am Fenster und zieht langsam an ihm vorbei. Er hebt ihr etwas zaghaft die Hand zum Abschied. Sie erwidert die Geste, dann ist sie weg.
Der Zug wird immer kleiner, bis seine Rückleuchten hinter der nächsten Biegung verschwinden. Er bleibt am Bahnsteig stehen und blickt noch lange die nassen Gleise hinauf.
Er fühlt sich frei. Viel zu lange hat er nicht geatmet, wurde mitgerissen und war verloren. Tief unten -
Im Fluss.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Hallo werte Schreiberinnen und Schreiber,

hiermit bringe ich meinen Einstand zur Anmeldung auf Leselupe.de!
Bei der folgenden Kurzgeschichte handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Einsendung für den Literaturpreis Deichelbohrer 2023/24 zum Thema:

Im Fluss.

Viel Vergnügen!

Ich freue mich auf eure Kommentare und konstruktive Kritik :)
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Peter P.,

ganz schön rasant. In den ersten Zeilen dachte ich schon, mich in einem Actionfilm zu befinden.
Dieses Tempo in Verbindung mit dem tatsächlichen seelischen Leerlauf hat was!

ich sehe gerade, Du hast Dich vorgestellt - ja, dann herzlich willkommen hier!

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,

Vielen Dank für dein Kommentar. Es freut mich sehr zu hören, dass die Intention meiner Kurzgeschichte Anklang bei dir gefunden hat.

Ebenfalls bedanke ich mich für den warmherzigen Empfang - und ja, auch wenn meine Vorstellung sehr kurz und knapp ist. Vielleicht kann ich das demnächst durch Vervollständigung meines Profiles ergänzen :)

Liebe Grüße zurück
 

fee_reloaded

Mitglied
Auch von mir ein herzliches Willkommen hier auf der Lupe, @Peter Pietrowski !

Ein gelungener Einstandstext! Schön und sprachlich ansprechend geschildert ... und gut nachfühlbar - auch durch das erzeugte Tempo in der Sprache - , wie ein kurzes Wahrgenommen-Werden wie ein Funkeln, eine Reflexion warmen (wärmendem) Lichts von einem kleinen "Tagessplitter", tief in einen hineinleuchten und einen aus diesem gefühlt ewiggleichen, viel zu reißenden Fluss auf eine sichere Insel versetzen kann.

Hab ich sehr gerne gelesen!

Freue mich schon auf mehr.

fee
 
Guten Morgen @fee_reloaded ,

Auch dir vielen Dank für das herzliche Willkommen sowie dein Feedback!
Genau - es sind oft die kleinen Dinge im Leben, die einem dabei helfen weiterzumachen oder eine neue Perspektive geben :)

Mehr ist auf dem Weg! :D
 



 
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