Sie wurde mit ihm groß

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aliceg

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Er bleibt nachdenklich, in schmerzlichen Erinnerungen an seine Mutter versunken.
Später, nach dem Essen, als wir noch beisammen sitzen, sage ich: "Erzähle über deine Mutter und warum ihr euch so nahe standet."
"Eine kleine Geschichte von vielen kann es dir näherbringen: In meinen Kindheitstagen in Mississippi streifte ich öfters mit meinem Cousin Billy umher. Wir fanden einmal eine tote Eidechse, die wir begruben. Mit Grabrede, Gesang und allem Drum und Dran. Als es Zeit war, mittags heimzukommen und meine Mutter mich zum Händewaschen mahnte, fragte sie, was wir denn gespielt hätten, weil die so erdig waren? Ein Begräbnis-Spiel, denn wir hätten ja kein Spielzeug, weil wir doch so arm sind, brach es unter heftigem Schluchzen aus mir heraus.
Meine Mutter nahm mich in den Arm und sagte, ja, wir seien zwar arm im Vergleich zu anderen, aber es ginge mir nicht so elend dreckig wie es zum Beispiel Charlie Chaplin erging, der mutterlos in einem Londoner Armenhaus groß wurde, inmitten zerlumpter Kranker.
Du bist gesund, hast gerade Glieder. Du hast saubere Kleidung und Schuhe, das haben nicht alle Kinder. Du hast ein eigenes warmes Bett und jeden Tag genug zu Essen, das haben nicht alle Kinder. Du hast fürsorgliche Eltern, wirst nicht jetzt schon herumgestoßen, um für Fremde zu arbeiten, sondern darfst zur Schule gehen, damit du was lernst und es dir einmal besser gehen wird als heute. Für all das solltest du Gott dankbar sein und nicht um fehlendes Spielzeug heulen. Sie fand immer wunderbar tröstende Worte für mich, die ich verstand.
Damals pflanzte sie Dankbarkeit in mein Herz. Ja, wir waren sehr arm, aber es stimmte, ich fror nie, ich musste nie Hunger leiden und meine Eltern liebten mich. War das nicht auch Reichtum?"

Jetzt lag es an mir, ihn in den Arm zu nehmen wann immer er Trost brauchte.
Dass er sich mir gegenüber so geöffnet hatte, nahm mich noch mehr ein für ihn. Es ist diese Gefühlstiefe in ihm, die mich anrührte, die ich am meisten an ihm liebte. Sie wurde mit ihm groß.
 
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Blue Sky

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Da sprach die Mutter vom einzig wahren Reichtum. Und es zeugt von wahrer Größe, wenn man diese Denke lebt.
Deine Zeilen ließen mich grad in meine Kindheit reisen. Bei mir war es allerdings mehr meine Oma, die so großartig war.
Vielen Dank für diesen Kurztrip!
LG
BS

Ach so, ist hier ein "ich" zu viel?
Gefühlstiefe in ihm, die ich mich anrührte,
 

aliceg

Mitglied
BS,
danke für den Hinweis
Es ist diese Gefühlstiefe in ihm, die mich anrührte, die ich am meisten an ihm liebte.
schon korrigiert! Man kann noch soviel drüber lesen, aber ein Augenpaar mehr ist stets hilfreich.

Ja, wie du siehst, taucht mein 'Prota' in vielen meiner Geschichtsversionen und Gedichten auf.
(Das reale Vorbild fesselte mich immer schon, daher meine ihm gewidmete Fantasiestory-Abfolge).

Nochmals danke fürs genaue Lesen.
lg aliceg
 



 
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