Siegbert auf Kreuzfahrt

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VeraL

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Der schreckliche Siegbert, Schrecken aller Weltmeere und Bezwinger der schlimmsten Stürme, hatte miese Laune. In seinem Leben hatte er schon viele bescheuerte Jobs gemacht, er hatte als Deckjunge Planken gewienert und tonnenweise Kartoffeln für den Smutje geschält, aber so gelitten wie heute hatte er noch nie. Selbst als er in den Herbststürmen in der Karibik furchtbar seekrank war, war ihm nicht so übel gewesen und bei der wochenlangen Flaute im Indischen Ozean hatte er nicht so geschwitzt. Außerdem konnte er da oben ohne in seiner Hängematte entspannen und musste nicht in einer Galauniform herumstehen und lächeln. Überhaupt, Piraten lächelten nicht und liefen nicht in so einer Aufmachung herum.

„Käpt’n, wie lange soll der Zirkus hier dauern?“, knurrte er den wichtigen Wilhelm an, der neben ihm stand und strahlend in ein Fischstäbchen biss. Widerliches Zeug. Wer aß freiwillig eckig gepresste Fischreste mit Pappkrümeln drumherum?
„Jetzt stell dich nicht so an, Siggi. Wenn du nett lächelst, und tust, was man dir sagt, sind wir schneller fertig.“
„Können wir nicht mal wieder mit dem Schiff rumfahren und andere Leute überfallen?“
„Unser Kahn ist im Eimer und wir haben kein Geld für einen Neuen. Und außerdem, wie willst du denn gegen diese riesigen Containerschiffe ankommen, die es heute gibt? Du kannst froh sein, dass ich uns den Job hier besorgt habe.“
„Ich soll dir dankbar sein? Du hast doch damals gesagt, dass es kein Problem ist, durch das Bermudadreieck zu fahren. Und jetzt sitzen wir hier im falschen Jahrhundert und müssen so was Bescheuertes machen. Du bist schuld an diesem ganzen Schlamassel.“
Wilhelm sah in finster an. „Das Thema hatten wir doch schon. Bermuda war ein Fehler. Hätte ja keiner ahnen können, dass es da einen Zeitstrudel gibt. Aber das ist nicht mehr zu ändern. Jetzt reiß dich zusammen, sonst fliegst du aus der Mannschaft.“
„Aye, aye, Käpt’n!“, knurrte Siegbert und versuchte, zu lächeln statt zu würgen, als er sich ein weiteres Fischstäbchen nahm.
In diesem Monat hatten sie schon ein Fotoshooting für trendige Strandtaschen gemacht, bei der Eröffnung eines Nordseehotels Shantys gesungen und jetzt drehten sie einen Fernsehspot für einen Hersteller von Fischriegeln. Tiefer konnte man nicht sinken, dachte Siegbert, während ihm im Licht der Scheinwerfer der Schweiß über den Rücken rann und ein nerviger Papagei an seinem Ohr herumknabberte.

Doch er hatte sich getäuscht. Zwei Tage später trat der wichtige Wilhelm stolz vor seine Mannschaft: „Männer, ich habe einen neuen Job für uns klar gemacht. Ihr könnt euch freuen, wir fahren wieder aufs Meer.“
Hinter sich hörte Siegbert seine Kupanen tuscheln. Er traute dem Kätn’n nicht. „Wohin geht es denn? Erklären wir Kindern bei einer Fahrt zu den Robbenbänken das Wattenmeer?“
Die anderen Männer lachten, aber Wilhelm strahlte ihn begeistert an. „Nein, besser. Es geht in die Karibik.“
„Und was machen wir da? Nicht wieder so ein Fotoshooting für fieses Essen, oder?“
Wilhelm schüttelte den Kopf: „Nein, keine Sorge. Wir machen eine Kreuzfahrt.“
Siegbert klappte die Kinnlade herunter und auch der Rest der Mannschaft starrte ihren Kapitän ungläubig an. „Eine Kreuzfahrt? Das können wir uns doch überhaupt nicht leisten. Du hast gesagt, wie müssen auf jeden Cent achten“, sagte Glasaugen Gustav.
„Wir bezahlen die nicht selbst. Für uns ist alles gratis. Unterkunft und Essen mit Buffet. Und wir dürfen den Pool nutzen.“
Jetzt wurde Siegbert misstrauisch. Das klang viel zu gut. „Und was genau müssen wir dafür tun?“
Wilhelm duckste herum: „Nichts weiter, wir erschrecken nur hin und wieder die Passagiere.“
Siegbert schaute ihn an, bis er seinem Blick auswich.
„Und bei der Piratenparty haben wir einen kleinen Auftritt. Wir sollen etwas vorführen, wie man ein Schiff entert zum Beispiel.“
Das war nicht alles, das hatte Siegbert im Gefühl. „Und was passiert, wenn wir den Kahn geentert haben?“
„Wir werden gefangen genommen und an einen Pfahl gebunden und die Passagiere dürfen dann ...“
Das war’s, ihm reichte es. Siegbert stürmte aus dem Raum.

Draußen stieß der Rest der Mannschaft zu ihm. Siegbert redete hitzig auf sie ein: „Dass kann der Käpt’n nicht bringen. Er macht uns total lächerlich. Uns und alle Piraten auf der ganzen Welt. Denkt nur an Edward Blackbeard oder Henry Morgen. Was würden die sagen, wenn sie wüssten, dass wir zu einer Touristenbelustigung verkommen sind. Da können wir nicht mitmachen. Ich sage, wir meutern!“
Die anderen schauten ihn betreten an. Glasaugen Gustav murmelte: „Mensch, Siggi. Wir brauchen doch das Geld. Wir haben alle Schulden. Und was sollten wir denn sonst machen?“
Und Holzbein Horst ergänzte: „Genau. Ich brauche den Job. Ich will nicht in irgendeinem Fastfoodladen Burger braten. Dann lieber mit den Jungs zusammen bei den Touristen.“
Die anderen nickten und schlurften davon. Siegbert ballte die Fäuste in den Taschen. Doch dann hatte er eine Idee.

Pünktlich um 9.30 Uhr stand er am Kreuzfahrtterminal und starrte missmutig die Touristen an. Früher hätten die Leute bei diesem Blick ängstlich das Weite gesucht, jetzt schossen sie Selfies mit ihm. Aber Siegbert hatte einen Plan und er war fest entschlossen, alles zu ertragen, was diese Menschen mit Smartphones, bunten Hemden und übertrieben guter Laune mit ihm anstellen würden. Eine Woche später war seine Leidensfähigkeit ausgereizt. Die Piraten waren für die Kinderbelustigung zuständig und er versuchte, einem kleinen Mädchen eine Augenklappe umzubinden, ohne an ihren Locken zu ziehen, während zwei andere Kinder „Hoho“ riefen und ihn mit Plastiksäbeln pikten.
„Lass das, sonst werfe ich euch über Bord.“
Wilhelm und Horst sahen ihn entsetzt an, aber die Winzlinge lachten begeistert und forderten Siegbert auf, Piratenlieder zu singen. Er stimmte „Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste“ an und ignorierte seinen Käpt’n, der ihm wilde Handzeichen machte. Denk an morgen, dachte er sich. Morgen wird alles besser.

Bei der großen Piratenshow am Pool fühlte er sich als hätte er einen Berg von diesen fiesen Fischriegeln gegessen. Mit einem lauten Schrei sprang er auf die Holzschiffattrappe und stach mit einem stumpfen Plastikschwert auf ein Animateur ein, der als edler Koggenkapitän verkleidet war. Als der sich wehrte, ließ Siegbert sich theatralisch zu Boden sinken und sich dann unter lauten Flüchen zu einem Pfahl führen, an dem schon der Rest seiner Mannschaft angebunden war. Die Animateure brachten das Publikum zum Johlen und fragten, welche Strafe die Piraten erwarten sollte.
„Horst!“, flüsterte Siegbert. „Kannst du deine Fessel losmachen.“
„Klar, bei den lächerlichen Knoten, aber warum soll ich das machen? Das hat uns vorher keiner gesagt.“
„Tu es einfach. Ist eine Planänderung.“
Zum Glück dachte Horst nie viel über etwas nach und tat, was Siegbert verlangte. Auch die anderen lösten ihre Fesseln und schauten unsicher zu Siegbert.
„Mir nach!“, brüllte er und fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren wieder wie der schreckliche Siegbert. „Lauft so schnell ihr könnt!“ Er stürmte los und hoffte, dass die Mannschaft ihm folgen würde.
Die Animateure waren verwirrt, aber das Publikum feuerte sie an. Für die gehörte das zur Vorführung.
„Wohin laufen wir denn?“, keuchte Glasaugen Gustav neben ihm und Wilhelm knurrte „Was hast du dir jetzt ausgedacht? Mach keinen Quatsch, Junge.“
Siegbert rannte immer weiter. „Los, da rein“, er zeigte auf das Tenderboot. Hinter ihnen klatschte das Publikum. Die Piraten sprangen in das Boot.
„Lassen sie uns zu Wasser!“, befahl er einem Crewmitglied, das neben dem Boot stand, und wedelte vor dessen Nase mit dem Plastikschwert.
Der Mann grinste. Auch für ihn schien das ein Teil der Show zu sein. „Aye, aye“, sagte er mit übertrieben hoher Stimme. Scheinbar gefiel es ihm, die Aufmerksamkeit zu bekommen.

Das Boot sank langsam zu Wasser und die anderen Piraten sahen zu Siegbert. „Was hast du vor?“
„Mann, Leute. Wir sind in der Karibik. Nur ein paar Hundert Seemeilen von hier muss der Zeitstrudel sein. Lasst es uns versuchen. Lasst uns zurück nach Hause fahren.“
„Das Ding hier hat kein Segel. Kannst du damit umgehen?“, fragte Gustav ängstlich.
„Ja, nach dem Deal mit dem Hotel, als wir ein bisschen Geld hatten, hab ich einen Kurs gemacht.“ Siegbert startete den Motor.
„Lass das! Hör sofort auf! Du bringst uns nur in Schwierigkeiten. Wir werden nie wieder gebucht.“ Wilhelm versuchte, ihn vom Steuer wegzuziehen.
Aber die anderen Piraten grölten laut: „Nach Hause! Nach Hause!“
Und so drehte Siegbert das Boot und fuhr unter dem Jubel des Publikums Richtung Bermudadreieck.
 

Agnete

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wow. Veral. Eine augenzwinkernde Geschichte über Ehre und Werte. Über das Gefühl, aus der Ueit gefallen zu sein.
Über den lächerlichen Trieb, das irgendwie zu vertuschen oder gar mitzuziehen.
Traurig und amüsant zugleich. Und viel Stoff zum Nachdenken. Gerade auch heutzutage.,,LG von Agnete
 

InDerStadt

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Für mich ist der Konflikt der rebellischen Anteile in jedem von uns, dargestellt durch die Freibeuter, und der Notwendigkeit mit der Zeit zu gehen, dargestellt durch die Pflicht sich Brot und Butter zu verdienen, sehr passend auf die Situation übertragen und sichtbar gemacht. Danke für deine Geschichte!
 

Tonmaler

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Gern gelesen, deine Piratenstory. Amüsant! Schöner Plot, guter Schluss!

Nun zu den Kommentaren, wobei einiges natürlich Geschmackssache sein kann. Ich denke, du könntest deinen Text durch Straffungen schärfen, einige Stellen habe ich kopiert



„Können wir nicht mal wieder mit dem Schiff rumfahren und andere Leute überfallen?“
Sehr schön!

Wilhelm sah in finster an. „Das Thema hatten wir doch schon. Bermuda war ein Fehler. Hätte ja keiner ahnen können, dass es da einen Zeitstrudel gibt. Aber das ist nicht mehr zu ändern. Jetzt reiß dich zusammen, sonst fliegst du aus der Mannschaft.“
Vor allem in Dialogen und inneren Monologen würde ich alles streichen, was wie auktoriale Info des Autors klingt. Meist geht es auch ohne das und es klingt authentischer. Oben ist es der Satz mit dem Zeitstrudel, das ist eh klar und vor allem, den andern Piraten auch, verstehst du wie ich das meine?

Tiefer konnte man nicht sinken, dachte Siegbert
Kann auch weg, weil es ja schöner ist, wie du das zeigst: Reaktionen, Gesichtsausdruck etc. -- Dein Text ist ja schon klar genug.

„Und was machen wir da? Nicht wieder so ein Fotoshooting für fieses Essen, oder?
„Dass kann der Käpt’n nicht bringen. Er macht uns total lächerlich. Uns und alle Piraten auf der ganzen Welt. Denkt nur an Edward Blackbeard oder Henry Morgen. Was würden die sagen, wenn sie wüssten, dass wir zu einer Touristenbelustigung verkommen sind. Da können wir nicht mitmachen. Ich sage, wir meutern!“
Strich weg und nur: "Das kann der Käptn nicht bringen. Denkt nur an Edward Blackbeard oder Henry Morgen. Da können wir nicht mitmachen." --Der Rest ist klar, und das denkt sich der Leser selbst, was amüsanter ist.

Zum Glück dachte Horst nie viel über etwas nach und tat, was Siegbert verlangte.
Schön!

Der Mann grinste. Auch für ihn schien das ein Teil der Show zu sein. „Aye, aye“, sagte er mit übertrieben hoher Stimme. Scheinbar gefiel es ihm, die Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Ja, nach dem Deal mit dem Hotel, als wir ein bisschen Geld hatten, hab ich einen Kurs gemacht.“ Siegbert startete den Motor.
Und so drehte Siegbert das Boot und fuhr unter dem Jubel des Publikums Richtung Bermudadreieck.
Schöner Schluss!!

Gruß,
tm
 

Bo-ehd

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Hallo VeraL,
das ist eine der besten Geschichten in dieser Rubrik. Guter Schreibstil, präzise Sprache, exakt strukturiert und mit stimmungsvollen Dialogen. Alles klasse.
Zu den Dialogen: Es gibt diesbezüglich hundert Meinungen. Tonmaler bevorzugt eine geraffte Sprache; ich bin ganz gegensätzlich und finde, da gehört nichts gestrichen. Für mich erzeugst du eine super Stimmung, und darauf kommt es an. Rein sachlich gesehen hat Tonmaler Recht, aber da leidet der Lesespaß. Wir sind hier nicht im Theater. Mach weiter so.
Gruß Bo-ehd
 

VeraL

Mitglied
Hallo tm und Bo-ehd, vielen Dank für eure Rückmeldungen und die Arbeit, die ihr euch mit meinem Text gemacht habt. Ich muss mal in Ruhe über die Vorschläge nachdenken.
Viele Grüße
Vera
 



 
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