Skala des Glücks

Gerrit

Mitglied
Es war ein entspannter Tag. Nach meinem Morgenritual, aus Kaffee Keks Lesen Radio hatte ich zwei Stunden am Rechner etwas gearbeitet, Kleinkram erledigt. Es wurde Zeit, meine Beine zu strecken, den Tag zu begrüßen. Ich ging also einkaufen, Aufregenderes wartete heute nicht auf mich, dachte ich zumindest.

Schon von weitem sah ich, wie auf dem weitläufigen Parkplatz des Supermarktes zwei Mädchen, vermutlich noch Schülerinnen, nacheinander mehrere Leute ansprachen, die kurz bei ihnen stehen blieben. Ich überlegte kurz, ob ich ihnen aus dem Weg gehen könnte, oder sollte, doch ich fügte mich in mein Schicksal. Als ich mich näherte, kamen sie prompt lächelnd auf mich zu: „Wir machen eine Umfrage, im Rahmen eines Schulprojektes. Dürfen wir Ihnen eine Frage stellen?“, fragte mich die blondere der beiden, die andere war mehr brünett. Ich nickte. „Wie glücklich sind sie gerade? Auf einer Skala von 1 bis 10?“

Uuups! Naja, mir ging es eigentlich gar nicht gut, aber ich wollte es nicht so deutlich sagen. „Drei“ sagte ich deswegen. Dabei entsprach diese drei eigentlich einer eins, wenn man es psychologisch betrachtete. Denn wer, außer vielleicht jemandem, der oder die gerade vom Hochhaus springen wollte, würde weniger als drei sagen, würde zugeben, dass es ihm oder ihr echt mies ging?

Völlig überraschend aber freuten sich die beiden Mädchen für mich: „Schön, dass es Ihnen so gut geht“, sagten beide fast synchron. Ich war verdutzt, stockte, dann wollte ich klarstellen: Nein, mir geht es eben nicht gut, mir geht’s mies, das muss ein Missverständnis sein. Aber sie hatten sich schon abgewandt, einer älteren Frau zu, und mir war dann auch nicht so wichtig, es klarzustellen, als dass ich sie unterbrechen oder warten wollte, bis sie mit der Frau „fertig“ waren. So ging ich weiter, einkaufen. Dabei überlegte ich, dass sie es einfach anders herum meinten, natürlich, wie kann es sonst sein! Also, umgerechnet auf meine Skala, nahmen sie es für eine acht. Ja, dann machte es Sinn, dass sie sich gefreut hatten!

Später, abends zu Hause, beim Essen, kam mir noch ein anderer Gedanke. Vielleicht machten sie sich einfach nur einen Spaß mit den Menschen? Reagierten völlig unabhängig von dem, was die Leute sagten, nach ihrer eigenen Lust und Laune?

Oder wollten sie mich gar bewusst aufmuntern? Und sagten vielleicht denen, die ihnen stolz eine neun oder zehn entgegenschmetterten: „Oh, das tut mir aber leid, dass es ihnen nicht gut geht! Können wir Ihnen helfen?“ Vielleicht hassten sie ja, wie ich, diese widerlichen Frohnaturen, die – ihr festgefrorenes Dauergrinsen auf den Lippen – einem ständig mit ihrer guten Laune den Tag verdarben? Waren sie eine Art Robin Hood der ausgleichenden Launen? Halfen denen, die sich nicht gut fühlten und zogen die hinab, denen es ach so gut ging?

Beim Einschlafen drehten sich meine Gedanken weiter, ließ mich das kurze Erlebnis nicht los (wieso eigentlich?). Aber, konnte das sein, sah ich für sie vielleicht einfach so aus, als ob es mir gutginge? Haben sie meine Aussage einfach ignoriert, als unwesentlich abgetan, und ihre Reaktion bezog sich auf das, was sie in, an mir gesehen hatten? Hey, das könnt ihr doch nicht machen! Mir geht’s mies, versteht ihr? Keine Ahnung, wieso man mir das nicht ansieht!

Doch dann wurde ich plötzlich von einem schlimmen Verdacht erfasst. Ich betete inständig, dass ich nicht auf andere wie eine dieser widerlichen Frohnaturen wirkte. Aber, oh nein, mir fiel siedend heiß ein, dass Micha gesagt hatte, dass er sich um mich keine Sorgen mache, dass er wüsste, dass ich immer gutgelaunt durchs Leben ginge. Verdammt noch mal, woher weiß der das? Wieso sehen die das alle. Und wieso weiß und sehe ich es nicht? War das der berüchtigte Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung? War ich etwa wie Anne, die krampfhaft darauf beharrte, sie sähe nicht gut aus und sei völlig langweilig? Was ich überhaupt nicht teilte, beides nicht, im Gegenteil, weiß Gott …
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten