Nead Moro
Mitglied
Einen Moment lang war ich abgelenkt.
Eben noch war er fünf, mein kleiner Sohn – ihn bezauberten noch die Wunder dieser Welt, er hielt meine Hand ganz fest und man musste ihn zurückhalten, wenn er am Bahnsteig herumtollen wollte wie ein junger Wolf. Jetzt ist er fünfzehn, er sitzt gelangweilt neben mir und schaut überallhin, nur nicht in meine Augen. Es ist nicht das Desinteresse, was mich frustriert. Vielmehr verstört mich diese Ignoranz. Dabei kann man es riechen – jenen unverkennbaren, süß-erdigen Moschusduft nach Marihuana.
„Wie lange nimmst du es schon?“, frage ich mit vor Wut dünner Stimme und bestimmt schon zum tausendsten Male. Keine Antwort. Eigentlich hatte ich auch keine erwartet. Genauso gut könnte ich fragen: „Warum?“, „Woher?“ oder einfach „Was fühlst du?“. Fragen, die ich bereits so oft gestellt habe, dass sie wahrscheinlich schon auf meiner Zunge eintätowiert sind. Zwischen uns beiden klafft ein tiefer Graben, eine Distanz, die unmöglich zu überwinden scheint. Dabei habe ich schon so oft mit aller Macht Anlauf genommen und jedes Mal doch innegehalten, aus Angst davor, ganz tief zu fallen. Es war noch gar nicht so lange her, da hat er mich alles gefragt, da wollte er so viel wissen. Es war noch gar nicht so lange her, da wollte er meine Hand halten. Ganz fest.
Was war denn auch natürlicher, als dass er schließlich erwachsen wurde. Aber war es dafür unbedingt notwendig, Gras zu rauchen, Alkohol zu trinken und sich zu verschließen? Obendrein konnte ich ja meine Augen und Ohren nicht überall haben. Ich tat mein Bestes. Ich durchsuchte seinen Koffer vor der Abreise und behielt ihn im Auge, aber als er von der Bahnhofstoilette zurückkam, hatte er diesen verklärten Blick inne. Mein Sohn ist an jenem Ort, an den ich ihm nicht folgen werde. Verbittert spiele ich den „Reiseleiter“, so wie jedes Mal, wenn wir aus Pflichtschuldigkeit meine Eltern besuchen. Lediglich heute habe ich wenig Lust dazu, da mein Sohn familiäre Gesellschaft offenbar nur selbstverloren erträgt. Ratlos lasse ich meinen Blick schweifen. Es ist viel los in diesem Bahnhof: gestresste Menschen, die zur Arbeit fahren; ruhelose Familien, die in den Urlaub reisen; Pärchen, die sich zärtlich Lebewohl sagen und dazwischen manch perlendes Gelächter.
„Da sieh es dir an! Das Leben“, möchte ich meinen Sohn anschreien.
Aber er wird es nicht hören. Vor seinen Augen tanzende Bilder. In seinem Kopf ein fremdes Universum. Ich kämpfe mit den Tränen.
„Wann hat das angefangen?“, frage ich mich verloren. Wann habe ich etwas übersehen? Ist es nur Marihuana oder schon etwas anderes? Die Zweifel überstürzen sich. Und nirgendwo gibt es Antworten. Eine rasch aufwallende Panik schnürt mir die Brust zu und die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Da sehe ich ihn plötzlich – einen ungewöhnlich grünen Zug, der dampfend am Gleis gegenüber einfährt. Grün wie Gras, grün wie Gift oder so grün wie das Überleben.
Mit beigemischt, nuancierte Hoffnung. Er scheint seine vielen unterschiedlichen Schattierungen stetig zu wechseln und ich bin sicher, dass er für jeden anders aussieht. Aber offenbar sieht ihn außer mir niemand. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich ihn auch noch nie zuvor bemerkt. In letzter Zeit einen Schimmer vielleicht, einen Schatten nur aus dem Augenwinkel. Die Türen öffnen sich. Jemand Offizielles hält einer jungen Frau die Hand hin und hilft ihr beim Aussteigen. Die Erschöpfung einer langen, alles abverlangenden und letztendlich enttäuschenden Reise ist ihr ins Gesicht geschnitten. Aber auch Erleichterung, es endlich hinter sich lassen zu können.
Ich höre den Beamten in bedauerndem Tonfall zu ihr sagen: „Du kannst jederzeit wieder einsteigen. Das weißt du doch, oder?“
Sie lächelt, aber schüttelt den Kopf. Dann geht sie davon und der schwere Rauch der Lok verschluckt sie. Der Mann seufzt resigniert, aber nicht überrascht. Übrig bleibt nur die Hoffnung, dass sie ihren Weg irgendwie findet. Er strafft die Schultern, hebt den Kopf und winkt mich zu sich. Ich stutze. Eigentlich will ich meinen Sohn nicht alleine lassen. Andererseits bin ich neugierig und es sind nur ein paar Meter. Also gehe ich mit angespanntem Schritt zu ihm hinüber. Der Mann, er ist wohl der Schaffner, sieht mich forsch an. An seinem sauberen Jackett trägt er ein Namensschild mit der Aufschrift:
Herr ?
Vollzugsbeamter.
Er ist ein untersetzter Mann. Dicke Tränensäcke liegen unter seinen Augen und sein ganzer Körper wirkt schlaff. Und doch setzt man Vertrauen in diesen Herrn ?, denn seine stolze Aufrichtigkeit zeugt von einigen Jahren Erfahrung im Dienste des Gemeinwohls.
„Wollen Sie nicht mitfahren?“, fragt er mich freundlich.
Ich zucke erstaunt zusammen.
„Wohin fährt denn dieser Zug?“, antworte ich um Zeit zu gewinnen.
„Dies ist der Entzug. Er fährt einfach immer weiter. Ein Ziel hat er nicht. Sie können aussteigen, wann Sie wollen und Sie sich dafür bereit fühlen!“
Wir gehen zusammen ein Stück den Bahnsteig entlang. In den Fenstern des Zuges meine ich eingefallene und ausgeblichene Gesichter zu sehen, schemenhaft an die Scheibe gedrückt. Dann bleibt er unvermittelt vor einer Tür stehen und hält sie mir mit bestimmter Sanftheit auf. Ich zögere noch immer.
„Mein Sohn“, sage ich, so als würde das alles erklären.
Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in dicke Watte gehüllt.
„Ich weiß“, antwortet Herr ? mit näselnder Stimme. „Deshalb sind Sie doch hier, richtig!“
Ich nicke, bin mir aber noch immer unsicher.
„Wollen Sie Antworten auf Ihre Fragen?“
Herr ? zeigt mit Nachdruck zur Tür. Drei zierliche, tiefschwarze Stufen führen hinauf. Ja, ich will Antworten. Aber eine nagende Angst hält mich zurück. Ich schaue zu meinem Sohn hinüber.
„Ihm geht es gut“, beschwichtigt mich der Vollzugsbeamte gelassen und legt mir väterlich eine Hand auf die Schulter.
„Woher wollen Sie das denn wissen?“ Ich klinge angriffslustiger, als ich es beabsichtigt hatte. Herr ? lächelt milde, aber ein flüchtiger Blick auf seine Taschenuhr verrät seine Ungeduld. „Kein Fünfzehnjähriger würde im Beisein seiner Mutter Gras rauchen. Kommen Sie! Wir haben wegen Ihnen gehalten.“
Mit leichtem Druck bugsiert er mich ein paar Schritte weiter. Ich stutze und schaue noch einmal zurück. Mein Sohn unterhält sich mit jemandem, streichelt dessen Hund. Er wirkt nicht mehr so weit weg, irgendwie normaler. Kurzentschlossen ergreife ich die Hand des kleinen Mannes und lasse mir von ihm in den Zug helfen. Beim Eintreten fühle ich mich, als würde mir jemand einen Sack über den Kopf stülpen, der fast alle Helligkeit nimmt und den Lärm von draußen schlagartig verschluckt. Ein wenig Licht dringt herein, in dessen Strahlen der Staub tanzt. Einige blinkende Anzeigen erleuchten die ansonsten recht schummrige und leicht muffig riechende Führerkabine. Am Steuer steht ein breitschultriger Mann mit buschigem Bart, dessen schwielige Hände nur so vor Energie strotzen. Aber um seine Augen liegen tiefe Schatten und in sein faltiges Gesicht sind schwermütige Jahre eingekerbt. Seine Kabine ist klein, sein Leben scheinbar auch. Die Aussicht aus den beiden schmalen Fenstern ist dagegen auszeichnend. So ist das bei ihm. Er sieht den Weg, der noch vor uns liegt. Vielleicht hat nur er die Orientierung und sonst niemand.
„Und von welcher Last willst du dich befreien?“, fragt er mich dröhnend. Es klingt wie ein Kanonenschuss. Der Startschuss in ein neues Leben.
„Nein, Herr !. Sie muss erkennen!“
Herr ? steigt hinter mir ein, schiebt mich dabei vorwärts und zückt bedächtig seine Schaffnerzange. Als ich mich dem Zugführer nähere, sehe ich die Aufschrift auf seiner Dienstmarke:
Herr !
Vollstrecker.
„Ach, muss sie das!“ Herr ! klingt mürrisch wie ein alter Rabe. „Weshalb denn wohl?“
Er sieht mich scharf an. Ich fühle mich zunehmend, als wäre ich in einem Verhör. Dabei will ich doch nur ein paar Antworten, die mein Sohn mir nicht geben kann. Ich will mich zurück ziehen, aber Herr ! scheint den ganzen Raum mit seiner bedrohlichen, unnahbaren Präsenz einzunehmen. Hier drinnen ist es zu stickig und zu warm. Ich bekomme jetzt schon fast keine Luft mehr und Schweiß rinnt mir unangenehm über meine Stirn und den Nacken hinab. Ich will hier raus. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Ich will einfach weiter machen, als wäre nichts. Herr ? drückt beruhigend meine Schulter.
„Nur Mut! So ist das immer am Anfang“, sagt er und seine Stimme hat einen angenehm rauen Klang.
Ich will nicht begreifen, wovon er redet, aber ich spüre, wie mein Herz rast.
„Ich will doch nur verstehen“, versuche ich es zaghaft.
Ich merke, dass mein eigentlich gesunder Körper droht einzuknicken, wie eine vom Wind gepeinigte Weide. Oder ist es eher der Sturm in mir, der mich fortzuwehen droht? Ich stelle mich aufrechter hin, reiße mich zusammen um dem Wind zu widerstehen.
„Verstehen! Wie könntest du das verstehen?“, grunzt Herr ! streitlustig.
Abrupt wendet er uns den Rücken zu, betätigt einige Hebel und ich spüre wie der Zug sich langsam und ruckelnd wie ein bockiges Tier in Bewegung setzt. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass Herr ? mit einem lauten Ratsch eine Fahrkarte von seiner Rolle reißt.
„Für die meisten Menschen da draußen ist der Fall ganz klar“, beginnt Herr ! verbittert. „Drogen vergiften dich, sie saugen dich aus. Sie verzehren dich und machen dich krank, bis nichts mehr übrigbleibt als Haut und Knochen. Sie nehmen dir dein Leben weg und gaukeln dir ein neues vor. Warum nicht einfach aufhören? Wenn man es wirklich will, dann kann man das! Und wenn nicht, dann wollen wir wohl einfach nicht, nicht wahr. Zugleich entwickelt man Ressentiments gegenüber den Charakterschwachen, die ihren Rausch nicht abstellen können.“ Die letzten Worte spuckt er beinahe angewidert einem unsichtbaren Publikum entgegen.
„Gleichwohl will der Nichtsüchtige das Fieber nicht begreifen“, fährt Herr ! grimmig fort, ohne die Anspannung und das Unbehagen zu beachten, welche sich gierig und behäbig im Raum ausbreiten.
Es geht darum die Realität zu vergessen. Für einen Augenblick nur, jemand anderes zu sein. Sein zersplittertes Selbst für einen Moment neu zusammensetzen zu können. Und dieses Puzzle fügt sich immer - das könnt ihr mir glauben. Jedes noch so kurios verkrümmte Stück passt in diesem Phantasma irgendwohin. Es ist die trügerische Hoffnung, die den Durst flüchtig löscht und schnell Hunger auf mehr macht!“
Mit jedem Wort wird er lauter. Und ich entkomme ihm nicht. Seine Stimme bleibt ruhig, verzerrt sich nicht und das scheint der Grund dafür zu sein, dass sich seine kleine Rede unwiederbringlich in meine Großhirnrinde einmassiert. Plötzlich hält er inne und wendet sich zu mir. Aus dunklen, unbarmherzigen Augen sieht er mir direkt in mein Herz.
„Willst du wissen, wie es bei mir angefangen hat?“ Brummig wie ein alter Seemann.
Fast habe ich den Eindruck, er würde sich gerne eine Zigarette anzünden und die stumme Dunkelheit mit siechendem Rauch füllen. Aber er regt keinen Muskel. Er wartet auch meine Antwort nicht ab.
„Meine Frau. Sie hat mein Leben ausgefüllt, jeden Winkel davon, und dann ist sie gestorben. Alles hatte nur noch ihren faden Nachgeschmack. Nichts davon gehörte zu mir. Und ich habe es nicht ausgehalten. Freund Alkohol hat das verstanden. Er hat den Schmerz eingedämmt, bis er einfach unwichtig wurde. Und dafür verurteilt man mich!“
Die Stille hiernach wiegt schwerer als seine Worte. Ich versuche seinem Blick standzuhalten. Diesen wilden, unbeugsamen Augen.
Jedoch schaffe ich es nicht. Er hat Recht. Es ist mir nicht möglich, das zu verstehen. Warum bin ich dann hier?
„Wofür sind Sie gekommen?“, fragt mich Herr ? eindringlich.
Ich blicke den geschäftigen Mann verstört an. Er hat die Fahrkarte fertig beschriftet. Was hat das alles noch mit mir zu tun? Ich wünsche mir doch nur die wunderbare Zeit zurück, als mein kleiner Junge einfach nur fünf war. Als wir zusammen um die Wette rannten, wieder und wieder, bis unsere Beine brannten und wir uns vor Lachen auf dem Boden wälzten. Als er noch an meinen Lippen hing und nicht unendlich gelangweilt in die Welt geschaut hat. Als er noch meine Hand hielt. Ganz fest. Die Sehnsucht nach früher zerreißt mich fast. Ich blinzele die heißen Tränen weg, presse die Lippen zusammen und schüttele den Kopf. Ich möchte nicht verstehen, nicht erkennen, dass das vorbei sein soll. Mit einem Klacken locht Herr ? die Fahrkarte.
„Genießen Sie den Augenblick! Saugen Sie diese wunderbaren Momente in sich auf. Füllen Sie sie meinetwegen literweise in Marmeladengläser. Und dann seien Sie bereit loszulassen“, sagt er lächelnd.
„Aber das Gras! Der Alkohol!“, versuche ich es noch einmal mit zitternder Stimme. Herr ? zieht die Augenbrauen hoch und mustert mich nachsichtig.
„Es geht hier nicht um ihn, sondern um dich. Das ist deine Fahrt mit dem Entzug. Du bist der Sehnsucht erlegen und musst dich nun lösen“, attestiert mir Herr ! beinahe mitfühlend.
„Zu viel Kontrolle vergiftet eure kostbare Zeit! Lass ihn seinen eigenen Weg gehen und wenn er will, findet er auch wieder zurück zu dir. Vielleicht wird er ja auch ein Ticket für diesen Zug lösen. Den Entzug muss jeder selbst nehmen. Das kann man nicht für jemanden übernehmen. So sind nun mal die Regeln.“
Herr ! zuckt mit den Schultern und sieht mich herablassend an. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern kann. Ich bin angesichts seiner unfassbaren Dreistigkeit vollkommen sprachlos. Andererseits habe ich das Gefühl, dass mich Herr ! viel zu gut kennt und was er sagt leuchtet mir ein. Tut Erkenntnis weh? Ein bisschen vielleicht.
„Dann möchte ich jetzt gerne aussteigen“, sage ich so würdevoll wie noch möglich zu ihm.
Herr ! nickt nur knapp, macht sich an seinen Armaturen zu schaffen und der Zug kommt nach wenigen Minuten pfeifend zum Stehen. Der Vollzugsbeamte hält mir lächelnd und mit den feinfühligen Worten „Es war mir ein Vergnügen!“, die Zugtür auf. Als ich mich mit frostigem Blick an ihm vorbei dränge, drückt er mir das Ticket in die Hand. Außer Atem steige ich die zierlichen Stufen hinab und stehe befreit wieder auf dem Bahnsteig. Gelöst schaue ich den bröseligen Zettel in meiner Hand an. Auf dem Ticket steht geschrieben:
Frau .
Vollendung.
Ich blinzele. Der grüne Zug verblasst aus meinem Blickfeld. Im nächsten Atemzug ist er auch schon verschwunden.
„Das riecht lustig“, lispelt mein Sohn neben mir und zupft mich zum wiederholten Mal am Ärmel.
Jetzt weiß ich nicht mal mehr so richtig, wie er aussah. Ich schaue zu der jungen Frau hinüber, die mit trägem Blick eine Kippe raucht.
„So riecht das Leben!“, erkläre ich ihm geheimnisvoll, nehme ihn an die Hand und gehe mit ihm ein wenig weiter den Bahnsteig entlang, vorbei an dem Mann mit dem freundlichen, kleinen Hund. Mein Sohn gluckst vergnügt, als dieser die Zunge hängen lässt und freudig mit dem Schwanz wedelt. Ich lächele. Er lebt den Moment. Zum Glück ist er ja erst fünf. Und auch wenn mich zeitweise die Zukunft einholt, so genieße ich doch das Hier und Jetzt in vollen Zügen.
Eben noch war er fünf, mein kleiner Sohn – ihn bezauberten noch die Wunder dieser Welt, er hielt meine Hand ganz fest und man musste ihn zurückhalten, wenn er am Bahnsteig herumtollen wollte wie ein junger Wolf. Jetzt ist er fünfzehn, er sitzt gelangweilt neben mir und schaut überallhin, nur nicht in meine Augen. Es ist nicht das Desinteresse, was mich frustriert. Vielmehr verstört mich diese Ignoranz. Dabei kann man es riechen – jenen unverkennbaren, süß-erdigen Moschusduft nach Marihuana.
„Wie lange nimmst du es schon?“, frage ich mit vor Wut dünner Stimme und bestimmt schon zum tausendsten Male. Keine Antwort. Eigentlich hatte ich auch keine erwartet. Genauso gut könnte ich fragen: „Warum?“, „Woher?“ oder einfach „Was fühlst du?“. Fragen, die ich bereits so oft gestellt habe, dass sie wahrscheinlich schon auf meiner Zunge eintätowiert sind. Zwischen uns beiden klafft ein tiefer Graben, eine Distanz, die unmöglich zu überwinden scheint. Dabei habe ich schon so oft mit aller Macht Anlauf genommen und jedes Mal doch innegehalten, aus Angst davor, ganz tief zu fallen. Es war noch gar nicht so lange her, da hat er mich alles gefragt, da wollte er so viel wissen. Es war noch gar nicht so lange her, da wollte er meine Hand halten. Ganz fest.
Was war denn auch natürlicher, als dass er schließlich erwachsen wurde. Aber war es dafür unbedingt notwendig, Gras zu rauchen, Alkohol zu trinken und sich zu verschließen? Obendrein konnte ich ja meine Augen und Ohren nicht überall haben. Ich tat mein Bestes. Ich durchsuchte seinen Koffer vor der Abreise und behielt ihn im Auge, aber als er von der Bahnhofstoilette zurückkam, hatte er diesen verklärten Blick inne. Mein Sohn ist an jenem Ort, an den ich ihm nicht folgen werde. Verbittert spiele ich den „Reiseleiter“, so wie jedes Mal, wenn wir aus Pflichtschuldigkeit meine Eltern besuchen. Lediglich heute habe ich wenig Lust dazu, da mein Sohn familiäre Gesellschaft offenbar nur selbstverloren erträgt. Ratlos lasse ich meinen Blick schweifen. Es ist viel los in diesem Bahnhof: gestresste Menschen, die zur Arbeit fahren; ruhelose Familien, die in den Urlaub reisen; Pärchen, die sich zärtlich Lebewohl sagen und dazwischen manch perlendes Gelächter.
„Da sieh es dir an! Das Leben“, möchte ich meinen Sohn anschreien.
Aber er wird es nicht hören. Vor seinen Augen tanzende Bilder. In seinem Kopf ein fremdes Universum. Ich kämpfe mit den Tränen.
„Wann hat das angefangen?“, frage ich mich verloren. Wann habe ich etwas übersehen? Ist es nur Marihuana oder schon etwas anderes? Die Zweifel überstürzen sich. Und nirgendwo gibt es Antworten. Eine rasch aufwallende Panik schnürt mir die Brust zu und die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Da sehe ich ihn plötzlich – einen ungewöhnlich grünen Zug, der dampfend am Gleis gegenüber einfährt. Grün wie Gras, grün wie Gift oder so grün wie das Überleben.
Mit beigemischt, nuancierte Hoffnung. Er scheint seine vielen unterschiedlichen Schattierungen stetig zu wechseln und ich bin sicher, dass er für jeden anders aussieht. Aber offenbar sieht ihn außer mir niemand. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich ihn auch noch nie zuvor bemerkt. In letzter Zeit einen Schimmer vielleicht, einen Schatten nur aus dem Augenwinkel. Die Türen öffnen sich. Jemand Offizielles hält einer jungen Frau die Hand hin und hilft ihr beim Aussteigen. Die Erschöpfung einer langen, alles abverlangenden und letztendlich enttäuschenden Reise ist ihr ins Gesicht geschnitten. Aber auch Erleichterung, es endlich hinter sich lassen zu können.
Ich höre den Beamten in bedauerndem Tonfall zu ihr sagen: „Du kannst jederzeit wieder einsteigen. Das weißt du doch, oder?“
Sie lächelt, aber schüttelt den Kopf. Dann geht sie davon und der schwere Rauch der Lok verschluckt sie. Der Mann seufzt resigniert, aber nicht überrascht. Übrig bleibt nur die Hoffnung, dass sie ihren Weg irgendwie findet. Er strafft die Schultern, hebt den Kopf und winkt mich zu sich. Ich stutze. Eigentlich will ich meinen Sohn nicht alleine lassen. Andererseits bin ich neugierig und es sind nur ein paar Meter. Also gehe ich mit angespanntem Schritt zu ihm hinüber. Der Mann, er ist wohl der Schaffner, sieht mich forsch an. An seinem sauberen Jackett trägt er ein Namensschild mit der Aufschrift:
Herr ?
Vollzugsbeamter.
Er ist ein untersetzter Mann. Dicke Tränensäcke liegen unter seinen Augen und sein ganzer Körper wirkt schlaff. Und doch setzt man Vertrauen in diesen Herrn ?, denn seine stolze Aufrichtigkeit zeugt von einigen Jahren Erfahrung im Dienste des Gemeinwohls.
„Wollen Sie nicht mitfahren?“, fragt er mich freundlich.
Ich zucke erstaunt zusammen.
„Wohin fährt denn dieser Zug?“, antworte ich um Zeit zu gewinnen.
„Dies ist der Entzug. Er fährt einfach immer weiter. Ein Ziel hat er nicht. Sie können aussteigen, wann Sie wollen und Sie sich dafür bereit fühlen!“
Wir gehen zusammen ein Stück den Bahnsteig entlang. In den Fenstern des Zuges meine ich eingefallene und ausgeblichene Gesichter zu sehen, schemenhaft an die Scheibe gedrückt. Dann bleibt er unvermittelt vor einer Tür stehen und hält sie mir mit bestimmter Sanftheit auf. Ich zögere noch immer.
„Mein Sohn“, sage ich, so als würde das alles erklären.
Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in dicke Watte gehüllt.
„Ich weiß“, antwortet Herr ? mit näselnder Stimme. „Deshalb sind Sie doch hier, richtig!“
Ich nicke, bin mir aber noch immer unsicher.
„Wollen Sie Antworten auf Ihre Fragen?“
Herr ? zeigt mit Nachdruck zur Tür. Drei zierliche, tiefschwarze Stufen führen hinauf. Ja, ich will Antworten. Aber eine nagende Angst hält mich zurück. Ich schaue zu meinem Sohn hinüber.
„Ihm geht es gut“, beschwichtigt mich der Vollzugsbeamte gelassen und legt mir väterlich eine Hand auf die Schulter.
„Woher wollen Sie das denn wissen?“ Ich klinge angriffslustiger, als ich es beabsichtigt hatte. Herr ? lächelt milde, aber ein flüchtiger Blick auf seine Taschenuhr verrät seine Ungeduld. „Kein Fünfzehnjähriger würde im Beisein seiner Mutter Gras rauchen. Kommen Sie! Wir haben wegen Ihnen gehalten.“
Mit leichtem Druck bugsiert er mich ein paar Schritte weiter. Ich stutze und schaue noch einmal zurück. Mein Sohn unterhält sich mit jemandem, streichelt dessen Hund. Er wirkt nicht mehr so weit weg, irgendwie normaler. Kurzentschlossen ergreife ich die Hand des kleinen Mannes und lasse mir von ihm in den Zug helfen. Beim Eintreten fühle ich mich, als würde mir jemand einen Sack über den Kopf stülpen, der fast alle Helligkeit nimmt und den Lärm von draußen schlagartig verschluckt. Ein wenig Licht dringt herein, in dessen Strahlen der Staub tanzt. Einige blinkende Anzeigen erleuchten die ansonsten recht schummrige und leicht muffig riechende Führerkabine. Am Steuer steht ein breitschultriger Mann mit buschigem Bart, dessen schwielige Hände nur so vor Energie strotzen. Aber um seine Augen liegen tiefe Schatten und in sein faltiges Gesicht sind schwermütige Jahre eingekerbt. Seine Kabine ist klein, sein Leben scheinbar auch. Die Aussicht aus den beiden schmalen Fenstern ist dagegen auszeichnend. So ist das bei ihm. Er sieht den Weg, der noch vor uns liegt. Vielleicht hat nur er die Orientierung und sonst niemand.
„Und von welcher Last willst du dich befreien?“, fragt er mich dröhnend. Es klingt wie ein Kanonenschuss. Der Startschuss in ein neues Leben.
„Nein, Herr !. Sie muss erkennen!“
Herr ? steigt hinter mir ein, schiebt mich dabei vorwärts und zückt bedächtig seine Schaffnerzange. Als ich mich dem Zugführer nähere, sehe ich die Aufschrift auf seiner Dienstmarke:
Herr !
Vollstrecker.
„Ach, muss sie das!“ Herr ! klingt mürrisch wie ein alter Rabe. „Weshalb denn wohl?“
Er sieht mich scharf an. Ich fühle mich zunehmend, als wäre ich in einem Verhör. Dabei will ich doch nur ein paar Antworten, die mein Sohn mir nicht geben kann. Ich will mich zurück ziehen, aber Herr ! scheint den ganzen Raum mit seiner bedrohlichen, unnahbaren Präsenz einzunehmen. Hier drinnen ist es zu stickig und zu warm. Ich bekomme jetzt schon fast keine Luft mehr und Schweiß rinnt mir unangenehm über meine Stirn und den Nacken hinab. Ich will hier raus. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Ich will einfach weiter machen, als wäre nichts. Herr ? drückt beruhigend meine Schulter.
„Nur Mut! So ist das immer am Anfang“, sagt er und seine Stimme hat einen angenehm rauen Klang.
Ich will nicht begreifen, wovon er redet, aber ich spüre, wie mein Herz rast.
„Ich will doch nur verstehen“, versuche ich es zaghaft.
Ich merke, dass mein eigentlich gesunder Körper droht einzuknicken, wie eine vom Wind gepeinigte Weide. Oder ist es eher der Sturm in mir, der mich fortzuwehen droht? Ich stelle mich aufrechter hin, reiße mich zusammen um dem Wind zu widerstehen.
„Verstehen! Wie könntest du das verstehen?“, grunzt Herr ! streitlustig.
Abrupt wendet er uns den Rücken zu, betätigt einige Hebel und ich spüre wie der Zug sich langsam und ruckelnd wie ein bockiges Tier in Bewegung setzt. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass Herr ? mit einem lauten Ratsch eine Fahrkarte von seiner Rolle reißt.
„Für die meisten Menschen da draußen ist der Fall ganz klar“, beginnt Herr ! verbittert. „Drogen vergiften dich, sie saugen dich aus. Sie verzehren dich und machen dich krank, bis nichts mehr übrigbleibt als Haut und Knochen. Sie nehmen dir dein Leben weg und gaukeln dir ein neues vor. Warum nicht einfach aufhören? Wenn man es wirklich will, dann kann man das! Und wenn nicht, dann wollen wir wohl einfach nicht, nicht wahr. Zugleich entwickelt man Ressentiments gegenüber den Charakterschwachen, die ihren Rausch nicht abstellen können.“ Die letzten Worte spuckt er beinahe angewidert einem unsichtbaren Publikum entgegen.
„Gleichwohl will der Nichtsüchtige das Fieber nicht begreifen“, fährt Herr ! grimmig fort, ohne die Anspannung und das Unbehagen zu beachten, welche sich gierig und behäbig im Raum ausbreiten.
Es geht darum die Realität zu vergessen. Für einen Augenblick nur, jemand anderes zu sein. Sein zersplittertes Selbst für einen Moment neu zusammensetzen zu können. Und dieses Puzzle fügt sich immer - das könnt ihr mir glauben. Jedes noch so kurios verkrümmte Stück passt in diesem Phantasma irgendwohin. Es ist die trügerische Hoffnung, die den Durst flüchtig löscht und schnell Hunger auf mehr macht!“
Mit jedem Wort wird er lauter. Und ich entkomme ihm nicht. Seine Stimme bleibt ruhig, verzerrt sich nicht und das scheint der Grund dafür zu sein, dass sich seine kleine Rede unwiederbringlich in meine Großhirnrinde einmassiert. Plötzlich hält er inne und wendet sich zu mir. Aus dunklen, unbarmherzigen Augen sieht er mir direkt in mein Herz.
„Willst du wissen, wie es bei mir angefangen hat?“ Brummig wie ein alter Seemann.
Fast habe ich den Eindruck, er würde sich gerne eine Zigarette anzünden und die stumme Dunkelheit mit siechendem Rauch füllen. Aber er regt keinen Muskel. Er wartet auch meine Antwort nicht ab.
„Meine Frau. Sie hat mein Leben ausgefüllt, jeden Winkel davon, und dann ist sie gestorben. Alles hatte nur noch ihren faden Nachgeschmack. Nichts davon gehörte zu mir. Und ich habe es nicht ausgehalten. Freund Alkohol hat das verstanden. Er hat den Schmerz eingedämmt, bis er einfach unwichtig wurde. Und dafür verurteilt man mich!“
Die Stille hiernach wiegt schwerer als seine Worte. Ich versuche seinem Blick standzuhalten. Diesen wilden, unbeugsamen Augen.
Jedoch schaffe ich es nicht. Er hat Recht. Es ist mir nicht möglich, das zu verstehen. Warum bin ich dann hier?
„Wofür sind Sie gekommen?“, fragt mich Herr ? eindringlich.
Ich blicke den geschäftigen Mann verstört an. Er hat die Fahrkarte fertig beschriftet. Was hat das alles noch mit mir zu tun? Ich wünsche mir doch nur die wunderbare Zeit zurück, als mein kleiner Junge einfach nur fünf war. Als wir zusammen um die Wette rannten, wieder und wieder, bis unsere Beine brannten und wir uns vor Lachen auf dem Boden wälzten. Als er noch an meinen Lippen hing und nicht unendlich gelangweilt in die Welt geschaut hat. Als er noch meine Hand hielt. Ganz fest. Die Sehnsucht nach früher zerreißt mich fast. Ich blinzele die heißen Tränen weg, presse die Lippen zusammen und schüttele den Kopf. Ich möchte nicht verstehen, nicht erkennen, dass das vorbei sein soll. Mit einem Klacken locht Herr ? die Fahrkarte.
„Genießen Sie den Augenblick! Saugen Sie diese wunderbaren Momente in sich auf. Füllen Sie sie meinetwegen literweise in Marmeladengläser. Und dann seien Sie bereit loszulassen“, sagt er lächelnd.
„Aber das Gras! Der Alkohol!“, versuche ich es noch einmal mit zitternder Stimme. Herr ? zieht die Augenbrauen hoch und mustert mich nachsichtig.
„Es geht hier nicht um ihn, sondern um dich. Das ist deine Fahrt mit dem Entzug. Du bist der Sehnsucht erlegen und musst dich nun lösen“, attestiert mir Herr ! beinahe mitfühlend.
„Zu viel Kontrolle vergiftet eure kostbare Zeit! Lass ihn seinen eigenen Weg gehen und wenn er will, findet er auch wieder zurück zu dir. Vielleicht wird er ja auch ein Ticket für diesen Zug lösen. Den Entzug muss jeder selbst nehmen. Das kann man nicht für jemanden übernehmen. So sind nun mal die Regeln.“
Herr ! zuckt mit den Schultern und sieht mich herablassend an. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern kann. Ich bin angesichts seiner unfassbaren Dreistigkeit vollkommen sprachlos. Andererseits habe ich das Gefühl, dass mich Herr ! viel zu gut kennt und was er sagt leuchtet mir ein. Tut Erkenntnis weh? Ein bisschen vielleicht.
„Dann möchte ich jetzt gerne aussteigen“, sage ich so würdevoll wie noch möglich zu ihm.
Herr ! nickt nur knapp, macht sich an seinen Armaturen zu schaffen und der Zug kommt nach wenigen Minuten pfeifend zum Stehen. Der Vollzugsbeamte hält mir lächelnd und mit den feinfühligen Worten „Es war mir ein Vergnügen!“, die Zugtür auf. Als ich mich mit frostigem Blick an ihm vorbei dränge, drückt er mir das Ticket in die Hand. Außer Atem steige ich die zierlichen Stufen hinab und stehe befreit wieder auf dem Bahnsteig. Gelöst schaue ich den bröseligen Zettel in meiner Hand an. Auf dem Ticket steht geschrieben:
Frau .
Vollendung.
Ich blinzele. Der grüne Zug verblasst aus meinem Blickfeld. Im nächsten Atemzug ist er auch schon verschwunden.
„Das riecht lustig“, lispelt mein Sohn neben mir und zupft mich zum wiederholten Mal am Ärmel.
Jetzt weiß ich nicht mal mehr so richtig, wie er aussah. Ich schaue zu der jungen Frau hinüber, die mit trägem Blick eine Kippe raucht.
„So riecht das Leben!“, erkläre ich ihm geheimnisvoll, nehme ihn an die Hand und gehe mit ihm ein wenig weiter den Bahnsteig entlang, vorbei an dem Mann mit dem freundlichen, kleinen Hund. Mein Sohn gluckst vergnügt, als dieser die Zunge hängen lässt und freudig mit dem Schwanz wedelt. Ich lächele. Er lebt den Moment. Zum Glück ist er ja erst fünf. Und auch wenn mich zeitweise die Zukunft einholt, so genieße ich doch das Hier und Jetzt in vollen Zügen.