Sommernacht

Veit-Dorian

Mitglied
Ein Mädchen unter vielen


Sie wusste nicht, wer sie waren. Eines Abends waren sie einfach da und entzündeten ein Lagerfeuer im Schatten der großen Eiche. Heißhungrig fraß sich die Glut in das trockene Holz. Sie konnte die Hitze bis ins Dickicht fühlen, in dem sie sich versteckt hielt, um die Menschen zu beobachten. Der Brandgeruch war für sie unangenehm, aber der Duft nach bratendem, bereits verkohlendem Fleisch weckte eine fast schon vergessene Gier in ihr. Sie schluckte und fixierte die Jugendlichen, die in Grüppchen um das Feuer saßen, redeten, sich dabei an ihren Bier- und Wodkaflaschen festhielten, und nur innehielten, um an einem Joint zu ziehen. Sie kannte diesen Ausdruck in den Augen gut, zu gut, denn sie wusste, was es bedeutete, berauscht unter einem Junimond zu sein. Einer der Jungen zupfte an einer Gitarre, die mit Strasssteinchen besetzt war und ihre Augen fuhren den bunten Traggurt nach, beobachteten genau seine Brust, die sich sehnig zu den Tönen hob und senkte. Wenn sie die Augenlider schloss, konnte sie fast sein Blut durch die Venen pulsieren hören. Sie hielt konzentriert inne, dann blickte sie nervös auf ihre schmalen Hände mit den langen Fingernägeln, zuckte zurück und stand dann doch auf. Bedächtig, fast tänzerisch ging sie auf die Gruppe zu. Ihr Schatten zog sich schemenhaft von ihr fort und vibrierte auf den Farnwedeln. Niemand schien es aufzufallen, wie sie sich unter die Jugendlichen mischte, ein Mädchen unter vielen, ein Mädchen mit zu schlanken Hüften und einem athletischen Körper. Zwei Jungen, verschlangen sie mit ihren Blicken und stießen dann anerkennend ihre Bierflaschen zusammen. Sie beachtete die beiden nicht, huschte stattdessen zu dem Jungen, den sie aus dem Gebüsch heraus beobachtet hatte und setzte sich neben seine Gitarre. Er war noch nicht einmal neunzehn, Menschen konnte sie schon immer gut einschätzen. Sein Bartflaum am Kinn war noch weich und nicht hart oder struppig geworden. Zärtlich strich sie mit ihren Fingerkuppen darüber, fühlte die feinen Flaumhaare und blickte in seine überraschten und schüchternen Augen. Als sie sich an ihn lehnte, zuckte er nicht zurück, auch drehte er sich nicht weg von ihr, sondern zog an seinem Joint. Er schloss die Augen und summte „Venus in furs“, ein Lied, das sie schon einmal vor langer Zeit gehört hatte. Sie mochte das Lied nicht und fand es unpassend, aber sie unterbrach ihn nicht, sondern presste sich an seinen kräftigen Körper, ihr Leib rieb sich an seiner Haut, sie ahnte, wie sein Gesicht langsam rot wurde und hörte ihn ruckartig atmen. Behutsam nahm sie seine Hand. Danach stand sie auf und zog ihn hoch, sah, wie er auffällig ein Kondom aus seiner Hosentasche hervor nestelte, damit sie es sehen konnte. Er steckte es dann nervös in seine Hemdentasche, aber sie beachtete es nicht. Sie führte ihn vom Feuer weg in das Dickicht hinein. Plötzlich legte er seine Hand auf ihre Schulter, überrascht drehte sie sich um. Er fragte sie schüchtern, wie sie denn heiße, verdutzt blickte sie ihm ins Gesicht. Sie hatte ihren Namen vergessen, denn seit langer Zeit hatte sie niemand mehr gerufen, so sehr sie auch darüber nachdachte, sie wusste nicht mehr, wie sie hieß. Sie ließ sich nichts anmerken und legte ihm ihren ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. Er akzeptierte ihren Wunsch, indem er ihre Hand fest drückte, ohne ihr wehzutun. Immer weiter zog sie ihn vom Lagerfeuer fort. Das Unterholz schlug hinter ihnen zusammen, sie führte ihn zu dem kleinen Tobel, wo unter einem Felsvorsprung weiches, mit Wasser voll gesogenes Moos wuchs.
Heute Nacht würde ihn noch niemand vermissen und wenn die Menschen seinen von undefinierbaren Bissspuren übersäten, zerfleischten Körper schließlich finden würden, wären sie und ihre Gefährtinnen verschwunden auf der Jagd nach dem großen Hirsch, dem Herrscher der endlosen Wälder. Actaeon? Actaeon vielleicht. Ich komme!
 



 
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