Sonettpaar: Welt-Einfaltung / Welt-Ausfaltung

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4][ 4]I. Welt-Einfaltung

[ 4]Philosophemur - laß das Welt-Einfaltungs-Spiel
[ 4]Uns treiben: Alles, was Du siehst, erfährst und kennst
[ 4]Da draußen, was Du wirklich, stofflich, sinnlich nennst
Sei Selbstberührung eines Geistes, der wie blind sein Ziel

[ 4]Darin wohl sucht, all das, was ihm noch nicht bewußt
[ 4]Und schwer zu lösen, als Problem, verzwickt, verrückt
[ 4]Als Rätsel sich zu stellen: In sich selbst verstrickt
Stülpt Selbstverständlichkeit sich um zu Fremdheit - Selbstverlust

[ 4]Und in den Welten, die bewußt Dein Ich umfängt
[ 4]Wie Knospenhüllen Blätterfalten dichtgedrängt
In sich zusammenzwängen, bin auch ich mit meiner Welt

[ 4]Enthalten. Aber mein Bewußtsein schließt auch Dich
[ 4]Mit Deiner Welt in sich, so wie Dein Ich auch mich -
Und ich bin, der Dich, die mich in sich birgt, in sich enthält


[ 4][ 4]II. Welt-Ausfaltung

Ein winterliches Bild hast du dir vorgemalt
Wo Blätter fest in Lederhüllen eingepreßt
Drauf warten, daß man aus der Enge sie entläßt
Die Schicht um Schicht so dicht in Schalen eingeschalt

Hast du vergessen die Gefahr, nimmst nicht inkauf
Daß, was in süßem Schlaf noch ineinanderklebt
Sich auseinanderschiebt und auseinanderstrebt?
Die Innen-Außen-Innenwelten brechen auf

In sanften Keimen erst, dann wuchern wild und frei
Die Sprossen, grün und bunt, und blühn - und schon vorbei -
Was war da noch? Kein Wesen schaut ins andre rein

"Monaden haben keine Fenster." - Ach wie gern
Fühlt ich in Dir mich, Dich in mir - unendlich fern
Und fremd - sind "wir"? Sein All ein jeder ganz: allein.
 

poetix

Mitglied
Hallo Mondnein,
ein ansprechendes Sonettpaar. Das Wort philosophari mag ich nicht besonders. Es hört sich in unseren Ohren ein bisschen nach Lari-Fari an. Im Ausfaltungsteil hätte ich Leibniz nicht zitiert. Die Konstruktion der beiden Sonette sollte doch so sein, dass jedes seinen Standpunkt vertritt und nicht nochmals einen Dialog in sich präsentiert. Insgesamt hat es mir gut gefallen.
Viele Grüße
poetix
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön, Poetix! Ich sehe: Du kennst Dich gut aus.
"philosophari", der Infinitiv mit diesem Anklang, steht hier ja nicht - und vielleicht kennst Du ihn aus dem Nietzschegedicht, wo es heißt "deinde philosophari", ich müßte jetzt suchen (hat in meinem blassen Gedächtnisnachklang etwas von "erst kommt das Fressen usw.", ist also bei dem Herrn Griechischprofessor auch peiorativ gemeint). An "femur" - "Schenkel" wollte ich aber auch nicht rühren.
Es gefällt mir insbesondere, wie Du auf die Konsistenz des Gedankengangs achtest. Ich hatte schon befürchtet, so ein abstraktes Ding wie dies hier findet in der Lupe keine Leser. Aber Du liest aufmerksam, das freut mich.
Natürlich halte ich mir an Morgensterns Hundertstem den kant-satirischen Vers vor die Nase:
lunovis habet somnium
se culmen rer' ess' omnium
lunovis

Das Mondschaf sagt zu sich im Traum:
"Ich bin des Weltalls leerer Raum."
Das Mondschaf
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4][ 4]I. Welt-Einfaltung

[ 4]Philosophemur - laß das Welt-Einfaltungs-Spiel
[ 4]Uns treiben: Alles, was du siehst, erfährst und kennst
[ 4]Da draußen, was du wirklich, stofflich, sinnlich nennst
Sei Selbstberührung eines Geistes, der wie blind sein Ziel

[ 4]Darin wohl sucht, all das, was ihm noch nicht bewußt
[ 4]Und schwer zu lösen, als Problem, verzwickt, verrückt
[ 4]Als Rätsel sich zu stellen: In sich selbst verstrickt
Stülpt Selbstverständlichkeit sich um zu Fremdheit - Selbstverlust

[ 4]Und in den Welten, die bewußt dein Ich umfängt
[ 4]Wie Knospenhüllen Blätterfalten dichtgedrängt
In sich zusammenzwängen, bin auch ich mit meiner Welt

[ 4]Enthalten. Aber mein Bewußtsein schließt auch dich
[ 4]Mit deiner Welt in sich, so wie dein Ich auch mich -
Und ich bin, der dich, die mich in sich birgt, in sich enthält


[ 4][ 4]II. Welt-Ausfaltung

Ein winterliches Bild hast du dir vorgemalt
Wo Blätter fest in Lederhüllen eingepreßt
Drauf warten, daß man aus der Enge sie entläßt
Die Schicht um Schicht so dicht in Schalen eingeschalt

Hast du vergessen die Gefahr, nimmst nicht inkauf
Daß, was in süßem Schlaf noch ineinanderklebt
Sich auseinanderschiebt und auseinanderstrebt?
Die Innen-Außen-Innenwelten brechen auf

In sanften Keimen erst, dann wuchern wild und frei
Die Sprossen, grün und bunt, und blühn - und schon vorbei -
Was war da noch? Kein Wesen schaut ins andre rein

"Monaden haben keine Fenster." - Ach wie gern
Fühlt ich in dir mich, dich in mir - unendlich fern
Und fremd - sind "wir"? Sein All ein jeder ganz: allein.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
ad philosophari

Tschuldigung, poetix, ich habe es völlig verkehrt-verquert im Gedächtnis gehabt (nach einigen Jahrzehnten immerhin): Der junge Basler Griechischprof hat es in den Gedichten, die der "Fröhlichen Wissenschaft" vorangestellt sind, tatsächlich auf "Larifari" gereimt, als er dem Seneca folgenden Vorwurf machte:

[ 4]Seneca et hoc genus omne

Das schreibt und schreibt sein unaussteh-
lich weies Larifari,
Als gält es primum scribere,
Deinde philosophari
.
 

poetix

Mitglied
Hallo Mondnein,
danke fürs Nachsehen. Da muss ich manchmal selbst aufpassen, dass ich nicht erst schreibe und dann nachdenke.
Viele Grüße
poetix
 



 
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